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Wladimir I. Lenin 19050829 Die Einigung des Zaren mit dem Volke und des Volkes mit dem Zaren

Wladimir I. Lenin: Die Einigung des Zaren mit dem Volke und des Volkes mit dem Zaren

[Proletarij", Nr. 14 16./29. August 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 202-211]

In der am 3./16. August erschienenen Nr. 12 des „Proletarij" sprachen wir von der Möglichkeit einer baldigen Einberufung der Bulyginschen Duma und untersuchten die Taktik der Sozialdemokratie ihr gegenüber. Jetzt ist das Bulyginsche Projekt zum Gesetz geworden und das Manifest vom 6./19. August verkündet die Einberufung der „Reichsduma" für „nicht später als Mitte Januar 1906".

Ausgerechnet zum Jahrestag des 9./22. Januar, an dem die Petersburger Arbeiter den Beginn der Revolution in Russland und ihre Entschlossenheit, verzweifelt für ihren Sieg zu kämpfen, mit ihrem Blut besiegelten – ausgerechnet zum Gedächtnistag dieses großen Ereignisses schickt sich der Zar an, die in gröbster Art und Weise verfälschte, von der Polizei gesiebte Versammlung von Großgrundbesitzern, Kapitalisten und einer nichtigen Zahl vor der Obrigkeit auf dem Bauche rutschender reicher Bauern einzuberufen. Mit dieser Versammlung beabsichtigt sich der Zar als mit einer Versammlung von Vertretern des „Volkes" zu beraten. Und die ganze Arbeiterklasse, alle die Millionen Werktätiger, die keinen eigenen Haushalt haben, werden zu keinerlei Beteiligung an der Wahl der „Volksvertreter" zugelassen. Wir werden es ja erleben und werden sehen, ob diese zaristische Spekulation auf die Ohnmacht der Arbeiterklasse gelingen wird …

Solange das revolutionäre Proletariat sich nicht bewaffnet und über die absolutistische Regierung gesiegt hat, kann man nichts anderes erwarten als dieses Almosen für die Großbourgeoisie, das den Zaren nichts kostet und ihn zu nichts verpflichtet. Ja selbst diese Gabe würde man wohl im gegenwärtigen Augenblick nicht gewährt haben, wenn nicht die Frage: Krieg oder Friede drohend heranrückte. Ohne sich mit den Großgrundbesitzern und den Kapitalisten zu beraten, wird die absolutistische Regierung sich weder dazu entschließen, die Lasten der wahnsinnigen Fortsetzung des Krieges dem Volke aufzubürden, noch dazu, Maßnahmen zu treffen, um die ganze Last der Kriegskosten in vollem Umfange von den Schultern der Reichen auf die der Arbeiter und Bauern abzuwälzen.

Was den Inhalt des Gesetzes über die Reichsduma anbelangt, so hat er die schlimmsten Erwartungen voll bestätigt. Man weiß nicht, ob diese Duma tatsächlich noch einberufen werden wird, denn derartige Gnadengeschenke sind nicht schwer zu widerrufen, und ähnliche Versprechungen haben die absolutistischen Monarchen jedes Landes schon dutzend Male gegeben und gebrochen. Es ist noch unbekannt, inwiefern diese künftige Duma, falls sie zusammentritt und nicht gesprengt wird, zum Mittelpunkt einer wirklich breiten politischen Agitation in den Volksmassen gegen den Absolutismus wird werden können. Dass aber der Inhalt des neuen Gesetzes über die Reichsduma an und für sich für unsere Agitation, für die Erläuterung des Wesens des Absolutismus, für die Bloßlegung seiner Klassengrundlage, für die Aufdeckung der ganzen Unversöhnlichkeit seiner Interessen mit denen des Volkes und zur Verbreitung und Popularisierung unserer revolutionär-demokratischen Forderungen ein überreiches Material bietet, unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Man darf ohne Übertreibung sagen, dass das Manifest und das Gesetz vom 6./19. August ein Handbuch für jeden politischen Agitator, für jeden klassenbewussten Arbeiter werden müssen, denn sie sind wirklich ein „Spiegel" aller Abscheulichkeiten und Niederträchtigkeiten, alles Asiatentums, aller Vergewaltigung und Ausbeutung, die die ganze soziale und politische Ordnung Russlands durchdringen. Fast jeder Satz dieses Manifestes und dieses Gesetzes ist eine fertige Grundlage für die reichsten und gehaltvollsten politischen Kommentare zur Erweckung des demokratischen Gedankens und des revolutionären Selbstbewusstseins.

Es gibt ein Sprichwort: Sobald man im Unrat wühlt, stinkt es. Wenn man das Manifest und das Gesetz über die Reichsduma liest, hat man ein Gefühl, als wenn einem unter der Nase ein seit unvordenklichen Zeiten angehäufter Berg von Unrat aufgewühlt würde.

Der Absolutismus hat sich durch die jahrhundertelange Unterdrückung des werktätigen Volkes, dank seiner geistigen Finsternis und Geducktheit, und dank dem Stillstand der ökonomischen und jeder anderen Kultur gehalten. Auf dieser Grundlage wuchs ungehindert und wurde heuchlerisch die Lehre von der „unzertrennlichen Einheit des Zaren mit dem Volke und des Volkes mit dem Zaren" verbreitet, die Lehre, dass die absolutistische Gewalt des Zaren über allen Ständen und Volksklassen, über der Teilung in Arme und Reiche stehe, und dass sie die allgemeinen Interessen des gesamten Volkes zum Ausdruck bringe. Jetzt haben wir den Versuch vor uns, diese „Einheit" durch die Tat, in der schüchternsten, embryonalsten Form, in Gestalt einer einfachen Beratung mit den „Erwählten aus dem ganzen russischen Lande" zu demonstrieren. Und was zeigt sich? Es stellt sich sofort heraus, dass die „Einheit des Zaren mit dem Volke" nur möglich ist mit Hilfe einer Armee von Beamten und Polizisten, die die Dauerhaftigkeit der dem Volke angelegten Maulkörbe zu behüten haben. Um dieser „Einheit" willen soll das Volk das Maul nicht aufmachen dürfen. Als „Volk" gelten nur die Großgrundbesitzer und die Kapitalisten, die zu den zweistufigen Wahlen zugelassen werden (sie wählen zunächst in den Kreisen oder Stadtbezirken Wahlmänner und erst diese wählen die Mitglieder der Reichsduma). Die Bauern, die eine eigene Wirtschaft besitzen, werden erst dann zum Volk gezählt, nachdem sie unter der Aufsicht und Mitwirkung sowie unter den Erbauungsreden der Adelsführer, Bezirkshauptleute und Polizeibeamten durch ein vierstufiges Wahlsystem gesiebt worden sind. Zuerst wählen diese selbständigen Landwirte die Mitglieder der Amtsbezirksversammlungen, dann wählen die Amtsbezirksversammlungen Vertreter der Bezirke, je zwei aus einer Versammlung. Diese Bezirksvertreter wählen nun Gouvernementswahlmänner. Diese Gouvernementswähler der Bauern wählen dann endlich zusammen mit den Gouvernementswahlmännern der Großgrundbesitzer und Kapitalisten (Städter) die Mitglieder der Reichsduma! In der Gesamtzahl der Wahlmänner des Gouvernements bilden die Bauern fast überall die Minderheit. Es ist in jedem Gouvernement nur ein Mitglied, das unbedingt aus dem Bauernstand zu entnehmen ist, für die Reichsduma gesichert, das sind 51 Sitze von 412 (in den 51 Gouvernements des europäischen Russlands).

Die gesamte städtische Arbeiterklasse, die gesamte Dorfarmut, die Landarbeiter, die Bauern ohne eigenes Haus und eigene Wirtschaft nehmen überhaupt an keinerlei Wahl teil.

Die Einheit des Zaren mit dem Volke ist die Einheit des Zaren mit den Großgrundbesitzern und den Kapitalisten, ergänzt durch eine Handvoll reicher Bauern bei Unterstellung aller Wahlen unter die strengste Polizeikontrolle. Es ist keine Rede von Wort-, Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, ohne die die Wahlen die reinste Komödie sind.

Die Reichsduma hat absolut keinerlei Rechte, denn alle ihre Beschlüsse haben keinen verbindlichen, sondern nur beratenden Charakter. Alle ihre Beschlüsse kommen in den Staatsrat, d.h. zur Durchsicht und Genehmigung durch dieselben Beamten. Die Duma ist bloß ein Spielzeug und Anhängsel des bürokratischen Polizeiapparates. Von den Sitzungen der Reichsduma ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die Berichte über die Sitzungen der Reichsduma werden zur Veröffentlichung in der Presse nur dann zugelassen, wenn die Sitzungen nicht als geschlossen erklärt werden, was durch eine bloße bürokratische Verfügung geschehen kann, d.h. wenn der Minister die behandelte Frage als Staatsgeheimnis erklärt.

Die neue Reichsduma ist das alte russische Polizeirevier in erweiterter Form. Ein reicher Großgrundbesitzer und ein Fabrikant und Kapitalist (im seltensten Fall ein reicher Bauer) werden zur „Beratung" in eine „öffentliche" Sitzung des Polizeireviers (oder des Bezirkshauptmanns oder eines Fabrikinspektors usw.) zugelassen. Sie haben immer das Recht, ihre Meinung dem Kaiser und Herrscher … wollte sagen: dem Revierinspektor zur „gnädigen Beachtung" zu unterbreiten. Der „Pöbel" aber, die Arbeiter in der Stadt und das arme Volk auf dem Lande, wird selbstverständlich niemals zu irgendwelchen „Beratungen" zugelassen.

Der Unterschied ist nur der, dass der Polizeireviere viele sind und aus ihnen nichts ans Tageslicht kommt. Reichsduma aber gibt es nur eine, und da war man gezwungen, die Wahlordnung und die Grenze ihrer Rechte öffentlich bekanntzugeben. Diese Veröffentlichung allein war schon, wir wiederholen es, eine vorzügliche Bloßstellung der ganzen Abscheulichkeit des zaristischen Absolutismus.

Vom Standpunkte der Volksinteressen ist die Reichsduma der brutalste Hohn auf eine „Volksvertretung". Und wie absichtlich, um diesen Hohn noch mehr zu unterstreichen, kommen solche Tatsachen hinzu, wie die Rede des Herrn Durnowo, die Verhaftung der Herren Miljukow und Kompanie und der Streich des Herrn Scharapow. Der neue Moskauer Generalgouverneur Durnowo, der von der reaktionären Presse begeistert begrüßt wurde, plauderte in seiner Rede die wahren Pläne der Regierung aus, die zugleich mit dem Manifest und dem Reichsdumagesetz vom 6./19. August an demselben Tage einen Ukas über die Aufhebung des am 18. Februar/3. März 1905 herausgegebenen „Ukas an den Senat" erließ. Der Ukas vom 18. Februar berechtigte Privatpersonen, Ansichten und Meinungen in Fragen der Staatswohlfahrt auszuarbeiten. Auf diesen Ukas stützten sich die Semstwo-Männer und die Vertreter der Intelligenz und veranstalteten von der Polizei geduldete Versammlungen, Konferenzen und Kongresse. Jetzt ist dieser Ukas aufgehoben. Jetzt müssen alle „Ansichten und Meinungen in Fragen der Staatswohlfahrt" „auf dem in der Anordnung über die Reichsduma festgelegten Wege" der absolutistischen Regierung „zugehen"! Das bedeutet das Ende der Agitation, das Ende der Versammlungen und Kongresse. Es ist eine Reichsduma da und da hat man über nichts mehr zu sprechen. So sagte es auch Herr Durnowo, als er erklärte, dass sie keinerlei Semstwokongresse mehr dulden werden.

Die Liberalen von unserer „konstitutionell-demokratischen" (lies: monarchistischen) Partei sind wieder einmal übertölpelt worden. Sie hatten mit einer Konstitution gerechnet, jetzt aber hat man ihnen jede konstitutionelle Agitation anlässlich der „Verleihung" einer solchen Einrichtung, die ein Hohn auf eine Verfassung ist, verboten!

Und Herr Scharapow verplapperte sich noch mehr. In seiner von der Regierung ausgehaltenen Zeitung („Russkoje Djelo") rät er offen, in dem Palast, in dem die Duma tagen wird, Kosaken bereitzuhalten…, und zwar für den Fall, dass diese Duma „unangebrachte" Ausschreitungen begehen sollte. Im Interesse der Einheit des Zaren mit dem Volke müssen die Vertreter des Volkes so sprechen und handeln, wie es der Zar will. Sonst werden die Kosaken die Duma auseinanderjagen. Übrigens kann man die Mitglieder der Duma auch ohne Kosaken verhaften, sogar bevor sie noch in die Duma gelangen. Samstag, den 6./19. August erschien das Manifest über die Einheit des Zaren mit dem Volke. Sonntag, den 7./20. August wurde einer der Führer des gemäßigten Flügels der Oswoboschdjenije-Leute oder „konstitutionell-demokratischen" (lies: monarchistischen) Partei, Herr Miljukow, mit einem Dutzend seiner politischen Gesinnungsgenossen bei Petersburg verhaftet. Man will gegen sie wegen ihrer Teilnahme am Verband der Verbände gerichtlich vorgehen. Wahrscheinlich wird man sie bald freilassen, aber die Pforten der Duma wird man vor ihnen leicht schließen können: man braucht nur zu erklären, dass gegen sie eine „Untersuchung oder ein (gerichtliches) Verfahren" schwebe!…

Das russische Volk erhält die ersten kleinen Lektionen im Verfassungswesen. Alle Gesetze über die Wahl von Volksvertretern sind einen Pfifferling wert, solange die Volkssouveränität, die volle Freiheit des Wortes, die Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, nicht faktisch erkämpft ist, so lange die Bürger nicht bewaffnet sind und so die Unantastbarkeit der Person nicht gesichert ist. Wir sagten oben, dass die Reichsduma ein Hohn auf eine Volksvertretung ist. Vom Gesichtspunkt der Theorie der Volkssouveränität ist dem zweifellos so. Diese Theorie anerkennen aber weder die absolutistische Regierung noch die monarchistische liberale Bourgeoisie (die Oswoboschdjenije-Leute oder die konstitutionell-monarchistische Partei). Wir haben im gegenwärtigen Russland drei verschiedene Theorien, über deren Bedeutung wir noch mehr als einmal sprechen werden. 1. Die Theorie der Beratung des Zaren mit dem Volk (oder die „Einheit des Zaren mit dem Volk und des Volkes mit dem Zaren", wie das Manifest vom 6./19. August sagt). 2. Die Theorie der Verständigung des Zaren mit dem Volke (das Programm der Oswoboschdjenije-Leute und der Semstwokongresse). 3. Die Theorie der Volkssouveränität (das Programm der Sozialdemokratie und auch der revolutionären Demokratie überhaupt).

Vom Gesichtspunkte der Theorie der Beratung ist es ganz selbstverständlich, dass der Zar Beratungen nur mit jenen abhält, mit denen er sich beraten will, und nur in der Form, wie er will. Und mit wem und wie der Zar sich beraten will, das zeigt die Reichsduma mit vorzüglicher Anschaulichkeit. Vom Gesichtspunkt der Verständigungstheorie ist der Zar dem Willen des Volkes nicht untergeordnet, sondern er soll ihn nur berücksichtigen. Aber wie er ihn berücksichtigen, in welchen Grenzen er ihn berücksichtigen soll, das geht aus der „Verständigungs"-Theorie der Oswoboschdjenije-Leute nicht hervor. Und so lange sich die reale Macht in den Händen des Zaren befindet, ist die Oswoboschdjenije-Bourgeoisie unvermeidlich zu der erbärmlichen Lage eines Bittstellers oder Maklers verurteilt, der die Siege des Volkes gegen das Volk für sich auszunutzen wünscht. Vom Standpunkt der Volkssouveränität ist es vor allem notwendig, tatsächlich die volle Wahl- und Agitationsfreiheit zu sichern und dann eine wirklich allgemeine konstituierende Versammlung einzuberufen, d.h. eine solche, die durch allgemeine, gleiche, direkte und geheime Abstimmung gewählt wäre, die ganze Macht, die volle, einheitliche und ungeteilte Macht in der Hand hätte und wirklich die Volkssouveränität ausdrückte.

Damit sind wir zu unserer Losung (zur Losung der SDAPR) der Agitation in Bezug auf die Reichsduma gelangt. Wer kann in Wirklichkeit die Wahlfreiheit und die Macht der konstituierenden Versammlung sichern? Nur das bewaffnete Volk, das sich zu einer revolutionären Armee organisiert hat, die alles Lebendige und Ehrliche aus der zaristischen Armee auf ihre Seite gezogen, die zaristischen Kräfte besiegt und die zaristische absolutistische Regierung durch eine provisorische revolutionäre Regierung ersetzt hat. Die Einrichtung der Reichsduma, die einerseits das Volk mit dem Gedanken einer auf dem Vertretungssystem beruhenden Regierungsform „anlockt", anderseits aber die gröbste Fälschung einer Volksvertretung darstellt, wird eine unerschöpfliche Quelle der breitesten revolutionären Agitation in der Masse abgeben und als ausgezeichneter Anlass zur Veranstaltung von Versammlungen, Demonstrationen, politischen Streiks usw. dienen. Die Losung dieser ganzen Agitation wird lauten: bewaffneter Aufstand, sofortige Bildung von Abteilungen und Einheiten der revolutionären Armee, Sturz der zaristischen Regierung und Errichtung einer provisorischen revolutionären Regierung zwecks Einberufung der allgemeinen konstituierenden Versammlung. Die Festsetzung der Frist des Aufstandes hängt selbstverständlich von den örtlichen Bedingungen ab. Wir können nur sagen, dass es im Allgemeinen jetzt für das revolutionäre Proletariat vorteilhaft ist, den Augenblick des Aufstandes etwas hinauszuschieben: die Bewaffnung der Arbeiter schreitet allmählich vorwärts, die Stimmung der Truppen wird immer unzuverlässiger, die Kriegskrise steht am Vorabend ihrer Lösung. (Krieg oder ein schwerer Frieden.) Vorzeitige Aufstandsversuche können bei einer solchen Sachlage enormen Schaden bringen.

Am Schluss bleibt uns noch übrig, die oben skizzierte taktische Losung den anderen Losungen kurz gegenüberzustellen. Wie wir schon in Nr. 12 des „Proletarij" gezeigt haben, fällt unsere Losung mit dem zusammen, was die Mehrheit der in Russland arbeitenden Genossen unter dem „aktiven Boykott" versteht. Die Taktik der „Iskra", die in der Nummer 108 die sofortige Organisierung einer revolutionären Selbstverwaltung und die Wahl von Bevollmächtigten durch das Volk als einen möglichen Prolog zum Aufstand empfohlen hat, ist vollständig falsch.1 Solange noch keine Kräfte für den bewaffneten Aufstand und seinen Sieg vorhanden sind, ist es auch lächerlich, von einer revolutionären Selbstverwaltung des Volkes zu sprechen. Diese ist nicht der Prolog, sondern der Epilog des Aufstandes. Eine solche falsche Taktik würde nur der Oswoboschdjenije-Bourgeoisie in die Hände arbeiten. Und zwar erstens dadurch, dass sie die Parole des Aufstandes durch die Parole der Organisierung der revolutionären Selbstverwaltung verschleiert oder verdrängt; und zweitens dadurch, dass sie es den liberalen Bourgeois erleichtern würde, ihre (Semstwo- und städtischen) Wählen als Volkswahlen auszugeben, denn Volkswahlen können, solange der Zar die Macht in den Händen behält, nicht stattfinden, während Semstwo- und städtische Wahlen den Liberalen trotz aller Drohungen des Herrn Durnowo immerhin noch gelingen können.

Das Proletariat ist von den Wahlen in die Duma ausgeschlossen. Das Proletariat kann eigentlich die Duma nicht boykottieren, denn die zaristische Duma boykottiert schon durch ihre ganze Einrichtung das Proletariat. Dafür ist es aber für das Proletariat von Vorteil, jenen Teil der bürgerlichen Demokratie zu unterstützen, der nicht zum Markten und Feilschen, sondern zum revolutionären Vorgehen, zum Dumaboykott und zur verstärkten Agitation unter dem Volk zwecks Protestes gegen diese Duma neigt. Das Proletariat darf nicht vorbeigehen an diesem ersten Verrat oder dieser Inkonsequenz der bürgerlichen Demokratie, an der Tatsache, dass ihre Vertreter vom Boykott der Duma sprechen (für den Boykott sprach sich bei der ursprünglichen Abstimmung sogar die Mehrheit des Julikongresses der Semstwo-Leute aus) und mit großen Phrasen erklären, sich an das Volk und nicht an den Zaren (Herr I. Petrunkjewitsch auf demselben Kongress) zu wenden, in Wirklichkeit aber bereit sind, diesen neuen Hohn auf die Volksforderungen ohne einen Protest im wirklichen Sinne dieses Wortes, ohne breite Agitation hinzunehmen, den Gedanken des Boykotts über Bord zu werfen und in die Duma zu gehen. Das Proletariat darf nicht jene verlogenen Phrasen ohne Erwiderung lassen, mit denen jetzt die Artikel in der legalen liberalen Presse geschmückt sind (siehe z.B. „Rusj" vom 7./20. August2), die sich in den Kampf gegen die Boykottidee gestürzt hat. Die Herren liberalen Zeitungsschreiber korrumpieren das Volk durch ihre Versicherungen von der Möglichkeit eines friedlichen Weges, eines „friedlichen Meinungskampfes" (warum, Herrschaften, konnte denn Miljukow nicht „friedlich" mit Scharapow kämpfen?). Die Herren liberalen Zeitungsschreiber betrügen das Volk, wenn sie erklären, dass die Semstwo-Männer „die zweifellos bevorstehende Einwirkung der Bezirkshauptleute und der örtlichen Verwaltungsorgane überhaupt auf die Bauernwähler in einem gewissen Ausmaße (!) paralysieren (!!) können". („Rusj", ebenda.) Die liberalen Zeitungsschreiber verdrehen die Bedeutung der Reichsduma für den Gang der russischen Revolution gründlich, wenn sie diese Duma mit der preußischen Kammer der Epoche des Budgetkonfliktes mit Bismarck (1863) vergleichen. Wenn man wirklich vergleichen will, so darf man als Beispiel nicht eine konstitutionelle Epoche, sondern muss eine Epoche des Verfassungskampfes, den Beginn einer revolutionären Epoche heranziehen. Anders vorgehen, heißt geradezu einen Sprung machen von der Epoche der revolutionären Bourgeoisie zur Epoche der mit der Reaktion ausgesöhnten Bourgeoisie (vgl. Nr. 5 des „Proletarij" über die Parallele unserer Herren Petrunkjewitsche mit dem „ehemaligen Revolutionär" und nachmaligen Minister Andrassy). Die Reichsduma erinnert an den preußischen „Vereinigten Landtag", der am 3. Februar 1847, ein Jahr vor der Revolution, geschaffen wurde. Die preußischen Liberalen schickten sich auch an, rafften sich aber nicht dazu auf, diese beratende Großgrundbesitzerkammer zu boykottieren, und fragten das Volk: „Annehmen oder ablehnen?"3 (So lautete der Titel einer Broschüre des bürgerlichen Liberalen Heinrich Simon, die 1847 erschien.) Der preußische Vereinigte Landtag versammelte sich (die erste Session wurde am 1. April 1847 eröffnet und am 26. Juni 1847 geschlossen) und führte zu einer Reihe von Konflikten zwischen den Konstitutionalisten und der absolutistischen Staatsmacht, blieb aber trotzdem eine tote Einrichtung, so lange, bis das revolutionäre Volk mit dem Proletariat Berlins an der Spitze die königlichen Truppen im Aufstand vom 18. März 1848 besiegte. Da flog die Reichsduma, wollte sagen: der preußische Vereinigte Landtag, zum Teufel. Daraufhin wurde (leider nicht durch die Revolutionsregierung, sondern durch den König, den die heldenhaften Arbeiter Berlins nicht „ganz totgeschlagen" hatten) eine Nationalversammlung auf Grund des allgemeinen Wahlrechts bei verhältnismäßiger Agitationsfreiheit einberufen.

Mögen die bürgerlichen Verräter der Revolution in diese totgeborene Reichsduma gehen. Das russische Proletariat wird an die verstärkte Agitation und die Vorbereitung unseres 18. März 1848 (oder besser 10. August 1792) herangehen.

1 Gemeint ist der (nicht gezeichnete) Artikel Th. Dans „Verteidigung oder Angriff" in Nr. 106 der „Iskra" vom 18./31. Juli 1905. Auf diesen Artikel bezieht sich Lenin auch in dem Artikel „Der Boykott der Bulyginschen Duma und der Aufstand" (im vorliegenden Buch abgedruckt). An der in der Nr. 106 der „Iskra" aufgestellten Losung der „revolutionären Selbstverwaltung' wird auch in den im vorliegenden Bande enthaltenen Artikeln „Das letzte Wort der ,Iskra'-Taktik oder eine Wahlkomödie als neuer Ansporn zum Aufstand" und „Im Schlepptau der monarchistischen Bourgeoisie oder an der Spitze des revolutionären Proletariats und Bauerntums" Kritik geübt.

2 Gemeint ist der Artikel „Auf neuem Wege" in Nr. 181 der Zeitung „Rusj“ (Russland) vom 7./20. August 1905.

3 „Annehmen oder ablehnen" bei Lenin deutsch. D. Red.

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