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Wladimir I. Lenin 19050221 Sollen wir die Revolution organisieren?

Wladimir I. Lenin: Sollen wir die Revolution organisieren?

[Wperjod" Nr. 7, 8./21. Februar 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 175-185]

Es war vor langer, langer Zeit, vor mehr als einem Jahre. In der russischen Partei waren, nach dem Zeugnis des nicht unbekannten deutschen Sozialdemokraten Parvus, „prinzipielle Meinungsverschiedenheiten" entstanden. Die dringlichste politische Aufgabe der Partei des Proletariats sei der Kampf gegen die Auswüchse des Zentralismus, gegen die Idee, die Arbeiter von irgendeinem Genf aus zu „kommandieren", gegen die Überschätzung der Organisation der Agitatoren, der Organisation der Führer. Das war die tiefe, feste und unbeugsame Überzeugung des Menschewiks Parvus, die er in seiner deutschen, wöchentlich erscheinenden Korrespondenz „Aus der Weltpolitik" vom 30. November 1903 entwickelte".

Dem guten Parvus wurde damals bedeutet (siehe Lenins Brief an die Redaktion der „Iskra", Dezember 1903), dass er einem Klatsch zum Opfer gefallen sei, dass dem, worin er prinzipielle Meinungsverschiedenheiten erblickte, eine Zänkerei zugrunde liege und dass die sich bemerkbar machende ideologische Schwenkung der neuen „Iskra" eine Wendung zum Opportunismus sei. Parvus verstummte, aber seine „Gedanken" über die Übertreibung der Bedeutung einer Führerorganisation wurden auf hunderterlei Weise von den Anhängern der neuen „Iskra" wiedergekäut.

Vierzehn Monate sind verstrichen. Die Desorganisierung der Parteiarbeit durch die Menschewiki und der opportunistische Charakter ihrer Predigten sind vollends zutage getreten. Der 9. Januar 1905 offenbarte den ganzen gigantischen Vorrat des Proletariats an revolutionärer Energie und die ganze Unzulänglichkeit der Organisation der Sozialdemokraten. Parvus besann sich eines Besseren. In Nummer 85 der „Iskra" trat er mit einem Artikel hervor, der im Grunde eine völlige Umkehr von den neuen Ideen der opportunistischen neuen „Iskra" zu den Ideen der revolutionären alten „Iskra" bedeutet. „Ein Held war da", sagt Parvus von Gapon, „aber kein politischer Führer, kein Aktionsprogramm, keine Organisation …" „Es zeigten sich die tragischen Folgen des Fehlens einer Organisation …" „Die Massen sind zerfallen, alles läuft auseinander, kein verbindendes Zentrum, kein leitendes Aktionsprogramm …" „Die Bewegung ging zurück, weil eine verbindende und leitende Organisation fehlte." Und Parvus gibt die Losung aus, die wir bereits in Nummer 6 des „Wperjod" erwähnten: „die Revolution organisieren". Parvus ist unter dem Einfluss der Lehren der Revolution zu der Überzeugung gelangt, dass „wir unter den obwaltenden politischen Verhältnissen diese Hunderttausende nicht organisieren können" (gemeint ist die zum Aufstand bereite Masse). „Aber wir können", sagt er mit Recht, den alten Gedanken des Buches „Was tun?" wiederholend –, wir können eine Organisation schaffen, die ein bindendes Ferment wäre und im Moment der Revolution diese Hunderttausende um sich scharen würde". „Es müssen Arbeiterzirkel organisiert werden mit der klar umrissenen Aufgabe: die Massen zum Aufstand vorzubereiten, sie während des Aufstandes um sich zu sammeln, den Aufstand auf die gegebene Parole hin zu beginnen."

Endlich! riefen wir erleichtert aus, als wir diese alten richtigen Gedanken lasen, die im Wust der neuen „Iskra" verschüttet waren. Endlich hat der revolutionäre Instinkt eines Funktionärs der proletarischen Partei wenigstens zeitweilig über den Opportunismus des „Rabotscheje Djelo" die Oberhand gewonnen. Endlich vernehmen wir die Stimme eines Sozialdemokraten, der nicht auf den Knien liegt vor der Arrièregarde der Revolution, sondern furchtlos hinweist auf die Aufgabe der Unterstützung der Avantgarde der Revolution.

Die Leute aus der neuen „Iskra" konnten selbstverständlich Parvus nicht zustimmen. „Nicht alle vom Genossen Parvus entwickelten Gedanken werden von der Redaktion der ,Iskra' geteilt", heißt es in einer redaktionellen Anmerkung.

Und ob! Wie sollten sie auch jene Gedanken „teilen", die ihrem ganzen anderthalbjährigen opportunistischen Geschwätz „ins Gesicht schlagen"!

Die Revolution organisieren!" Aber wir haben doch den klugen Genossen Martynow, der weiß, dass eine Revolution durch die Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgerufen wird, dass die Revolution nicht festgesetzt werden kann. Martynow wird Parvus dessen Irrtum klarmachen und zeigen, dass, selbst wenn Parvus die Organisierung der Avantgarde der Revolution im Auge gehabt haben sollte, dies eben eine „enge" und verderbliche „jakobinische" Idee sei. Und ferner. Unser kluger Martynow führt doch den Trjapitschkin-Martow am Gängelband, der seinen Meister noch mehr zu vertiefen vermag, der gar die Losung „die Revolution organisieren" ersetzen kann durch die Losung „die Revolution auslösen" (siehe Nr. 85, gesperrt vom Verfasser).

Jawohl, lieber Leser, eben diese Losung wird uns im Leitartikel der „Iskra" vorgesetzt. Offenbar genügt es heutzutage, sich die Zunge zu „lösen" für das freie Schwatzen als Prozess oder für den Prozess des Schwatzens, um Richtung gebende Artikel zu schreiben. Der Opportunist braucht stets solche Losungen, an denen bei näherer Betrachtung nichts ist als klingende Phrasen, als dekadente Wortakrobatik.

Organisieren und wieder organisieren, wiederholt Parvus, als ob er plötzlich ein Bolschewik geworden wäre. Er versteht nicht, der Unglückselige, dass die Organisation ein Prozess ist („Iskra" Nr. 85, ebenso alle früheren Nummern der neuen „Iskra", und insbesondere die pompösen Artikel der pompösen Rosa). Er weiß nicht, der Ärmste, dass nach dem ganzen Geist des dialektischen Materialismus nicht nur die Organisation, sondern auch die Taktik ein Prozess ist. Geradezu wie ein „Verschwörer" trägt er sich mit einem Organisationsplan herum. Wie ein „Utopist" bildet er sich ein, man könne so plötzlich auf irgendeinem, Gott bewahre, Parteitage, dem zweiten oder dem dritten, drauflos organisieren.

Und zu welchen Ungeheuerlichkeiten des „Jakobinertums" sich dieser Parvus doch verstiegen hat! „Den Aufstand auf die gegebene Parole hin beginnen" – man stelle sich das vor! Das ist ja noch viel schlimmer als die von unserem berühmten Martynow widerlegte Idee der „Festsetzung" des Aufstandes. Wahrhaftig, Parvus sollte von Martynow lernen. Parvus sollte die Nr. 62 der „Iskra" lesen, aus deren Leitartikel er erfahren wird, welche schädlichen „utopischen" Ideen über die Vorbereitung des Aufstandes in unserer Partei 1902 und 1904 so unzeitgemäß verbreitet wurden. Parvus sollte Axelrods Vorwort zu der Broschüre des „Arbeiters" lesen, um etwas über die „tiefgreifende, verderbliche und für die Partei geradezu verheerende Seuche" (sic!) zu erfahren, die der Sozialdemokratie von den Leuten drohe, die „ihre ganzen Hoffnungen auf die spontanen Aufstände der rückständigsten, der am meisten unbewussten und geradezu verwilderten (!!) Elemente der Volksmassen setzen".

Parvus sieht die Unmöglichkeit ein, jetzt Hunderttausende zu organisieren und rückt die Aufgabe in den Vordergrund, „eine Organisation zu schaffen, die ein bindendes Ferment wäre". Wie sollten sich da die Leute der neuen „Iskra" nicht krümmen und winden, wenn derartige Dinge in den Spalten ihres Organs gedruckt stehen? Eine Organisation als bindendes Ferment, das ist ja doch die Organisation von Berufsrevolutionären, bei deren bloßer Erwähnung unsere Leute aus der neuen „Iskra" in Ohnmacht fallen.

Wie dankbar sind wir der „Iskra" für ihren Leitartikel neben dem Artikel von Parvus. Wie plastisch hebt sich der inhaltslose, konfuse, chwostistische Phrasenschwall von den klaren, prägnanten, offenen und mutigen revolutionären Losungen der alten „Iskra" ab! Ist es nicht eine leere, geschwollene Phrase, dass „die Politik des Vertrauens von der Schaubühne verschwinde, um nie wieder Russland oder Europa zu betören"? In Wirklichkeit zeigt jede beliebige Nummer eines europäischen bürgerlichen Blattes, dass diese Betörung anhält und Fortschritte macht. „Der gemäßigte russische Liberalismus ist zu Tode getroffen." Es ist eine kindische politische Naivität, wenn man das „diplomatische" Bestreben des Liberalismus, sich im Hintergrund zu verbergen, für seinen Tod hält. In Wirklichkeit ist der Liberalismus lebendig, er lebt und erholt sich. Gerade jetzt steht er am Vorabend der Machtergreifung. Gerade deshalb hat er den Atem angehalten, um im geeigneten Augenblick um so sicherer und gefahrloser die Hand nach der Macht auszustrecken. Gerade deshalb kokettiert er so draufgängerisch mit der Arbeiterklasse. Man muss im höchsten Grade kurzsichtig sein, um dieses Kokettieren (das gerade im jetzigen Moment hundertmal gefährlicher ist) als bare Münze hinzunehmen, um prahlerisch zu erklären: „Das Proletariat – der Befreier der Heimat, das Proletariat – die Avantgarde der ganzen Nation, wurde in diesen Tagen von der öffentlichen Meinung der vorgeschrittenen Elemente der liberaldemokratischen Bourgeoisie in seiner heroischen Rolle anerkannt". Begreift doch endlich, ihr Herren von der neuen „Iskra", dass die liberalen Bourgeois das Proletariat gerade deshalb als Helden anerkennen, weil dieses Proletariat, das dem Zarismus einen Schlag versetzt hat, noch nicht stark genug, noch nicht sozialdemokratisch genug ist, um sich eine solche Freiheit zu erkämpfen, die es selbst will. Begreift doch, dass wir keinen Grund haben, auf das jetzige liberale Scharwenzeln stolz zu sein, sondern das Proletariat warnen und ihm den Untergrund dieses Scharwenzelns aufzeigen müssen. Ihr seht diesen Untergrund nicht? So hört doch die Erklärungen der Fabrikanten, Kaufleute, Börsianer über die Notwendigkeit einer Verfassung! Nicht wahr, wie klar sprechen diese Erklärungen für den Tod des gemäßigten Liberalismus? Während die liberalen Schwätzer sich in Reden über den Heroismus der Proletarier ergehen, fordern die Fabrikanten gewichtig und eindringlich eine kümmerliche Verfassung – so steht die Sache, meine lieben „Führer"*.

Am schönsten aber sind die Ausführungen der „Iskra" über die Frage der Bewaffnung. Die „Arbeit an der Bewaffnung des Proletariats, am systematischen Ausbau einer Organisation, die den Angriff des Volkes auf die Regierung überall und gleichzeitig gewährleisten würde", sei eine „technische" (!?) Aufgabe. Wir aber sind natürlich über die lumpige Technik erhaben und schauen den Dingen auf den Grund.

So wichtig sie (die „technischen" Aufgaben) auch sein mögen, nicht in ihnen liegt das Schwergewicht unserer Arbeit an der Vorbereitung der Massen zum Aufstande." … „Alles Bemühen der illegalen Organisationen wird ohne jede Bedeutung bleiben, wenn sie es nicht verstehen werden, das Volk mit einer unschätzbaren Waffe zu bewaffnen, nämlich mit dem brennenden Bedürfnis, den Absolutismus anzugreifen und sich dazu zu bewaffnen. Darauf müssen wir unsere Bemühungen richten – auf die Massenpropaganda der Selbstbewaffnung zum Zwecke des Aufstandes."1 (die letzten zwei Stellen vom Verfasser gesperrt).

Ja ja, das ist eine wirklich tiefe Auffassung der Frage, ganz anders als die des beschränkten Parvus, der sich fast zum „Jakobinertum" verstiegen hat. Das Schwergewicht liegt nicht in der Arbeit an der Bewaffnung und nicht im systematischen Ausbau der Organisation, sondern in der Bewaffnung des Volkes mit dem brennenden Bedürfnis nach Bewaffnung, und zwar nach Selbstbewaffnung. Welch brennendes Gefühl der Scham für die Sozialdemokratie muss man empfinden beim Lesen dieser philiströsen Banalität, die unsere Bewegung nach rückwärts zu zerren sucht! Die Bewaffnung des Volkes mit dem brennenden Bedürfnis nach Bewaffnung ist eine ständige und allgemeine Aufgabe der Sozialdemokratie, die immer und überall gilt, eine Aufgabe, die ebenso gut auf Japan wie auf England, auf Deutschland wie auf Italien anwendbar ist. Überall, wo es unterdrückte und gegen die Ausbeutung kämpfende Klassen gibt, bewaffnet sie die Propaganda des Sozialisten von Anfang an und in erster Linie immer mit dem brennenden Bedürfnis nach Bewaffnung, und diesesВedürfnis" ist bereits vorhanden, wo die Arbeiterbewegung beginnt. Die Sozialdemokratie muss nur dieses brennende Bedürfnis ins Bewusstsein rufen, die es Empfindenden veranlassen, die Notwendigkeit der Organisation und planmäßigen Aktion einzusehen und auf die ganze politische Konjunktur Bedacht zu nehmen. Bitte, Herr „Iskra"-Redakteur, schauen Sie sich doch eine beliebige deutsche Arbeiterversammlung an, und Sie werden sehen, von welchem Hass, sagen wir, gegen die Polizei die Gesichter glühen, was für wütende Sarkasmen es hagelt, wie die Fäuste geballt werden. Welche Kraft hält dieses brennende Bedürfnis nach einer sofortigen Abrechnung mit der das Volk verhöhnenden Bourgeoisie und ihren Lakaien zurück? Die Kraft der Organisation und Disziplin, die Kraft des Bewusstseins, des Bewusstseins, dass Individualmorde unsinnig sind, dass die Stunde des ernsthaften revolutionären Volkskampfes noch nicht geschlagen hat, dass die geeignete politische Konjunktur dafür fehlt. Das ist der Grund, warum unter solchen Umständen der Sozialist den Volksmassen nicht sagt und nie sagen wird: bewaffnet euch!, aber er wird ihnen stets (sonst wäre er kein Sozialist, sondern ein hohler Schwätzer) das brennende Bedürfnis einimpfen, sich zu bewaffnen und den Feind anzugreifen. Die Verhältnisse in Russland unterscheiden sich jetzt gerade von diesen Bedingungen der Alltagsarbeit. Eben deshalb haben die revolutionären Sozialdemokraten, die bisher niemals: Zu den Waffen! riefen, aber stets die Arbeiter mit dem brennenden Bedürfnis nach Bewaffnung ausrüsteten, haben jetzt alle revolutionären Sozialdemokraten, den mit revolutionärer Initiative erfüllten Arbeitern folgend, die Losung ausgegeben: Zu den Waffen! Und ausgerechnet in einem solchen Moment, wo diese Losung endlich ausgegeben ist, verkündigt die „Iskra": der Schwerpunkt liege nicht in der Bewaffnung, sondern im brennenden Bedürfnis nach Selbstbewaffnung. Ist das nicht ein totes intellektuelles Räsonieren, ist das nicht eine hoffnungslose Trjapitschkinade? Zerren diese Leute nicht die Partei nach rückwärts, von den dringenden Aufgaben der revolutionären Avantgarde zur Kontemplation des „Hintern" des Proletariats? Und nicht von den individuellen Eigenschaften des einen oder andern Trjapitschkin hängt diese unglaubliche Banalisierung unserer Aufgaben ab, sondern von ihrer ganzen Stellung, die so herrlich in den geflügelten Worten: Organisation als Prozess oder Taktik als Prozess formuliert ist. Eine solche Stellung allein schon verurteilt den Menschen unvermeidlich und unabwendbar dazu, dass er jede bestimmte Losung fürchtet, sich vor jedem „Plan" hütet, vor der mutigen revolutionären Initiative zurückweicht, räsoniert und altes Zeug wiederkäut, dass er Angst hat, sich vorzuwagen, in einer Zeit, wo wir Sozialdemokraten offensichtlich hinter der revolutionären Aktivität des Proletariats zurückgeblieben sind. Wahrlich, der Tote hat den Lebenden ergriffen, die toten Theorien des „Rabotscheje Djelo" haben hoffnungslos auch die neue „Iskra" erstarren lassen.

Sehen wir die Betrachtungen der „Iskra" „über die politisch führende Rohe der Sozialdemokratie als Avantgarde der Klasse der nationalen Befreiung".

Diese Rolle“ – belehrt man uns – „können wir weder erreichen noch sie fest für uns sichern dadurch, dass es uns gelingt, die technische Organisation und Durchführung des Aufstandes ganz in unsere Hände zu bekommen."

Man überlege nur: wir können die Rolle der Avantgarde nicht erreichen, wenn es uns gelingt, die Durchführung des Aufstandes ganz in unsere Hände zu bekommen! Und diese Leute reden noch von der Avantgarde! Sie fürchten sich davor, die Geschichte könnte ihnen die führende Rolle in der demokratischen Umwälzung auferlegen, sie denken mit Schrecken daran, dass sie am Ende „den Aufstand durchführen" müssten. Ihnen schwebt der Gedanke vor – sie haben nur noch nicht den Mut, ihn in den Spalten der „Iskra" offen auszusprechen –, dass die sozialdemokratische Organisation nicht den „Aufstand durchführen" dürfe, nicht danach streben dürfe, den revolutionären Übergang zur demokratischen Republik ganz in ihre Hände zu nehmen. Sie wittern hier, diese unverbesserlichen Girondisten des Sozialismus, ein furchtbares Jakobinertum. Sie begreifen folgendes nicht: je eifriger wir uns bemühen werden, die Durchführung des Aufstandes ganz in unsere Hände zu nehmen, einen um so größeren Teil der Sache werden wir in die Hände bekommen, und je größer dieser Teil, um so geringer wird der Einfluss der antiproletarischen oder nichtproletarischen Demokratie sein. Sie wollen unbedingt im Nachtrab marschieren, sie erfinden sogar eine besondere Philosophie, dass man im Nachtrab sein müsse – Martynow hat schon angefangen, diese Philosophie zu entwickeln, und wird sie morgen wahrscheinlich in den Spalten der „Iskra" bis zum Schlusspunkt führen.

Versuchen wir, diese Betrachtungen Schritt um Schritt zu analysieren.

Das klassenbewusste Proletariat wird, gestützt auf die Logik des elementaren Prozesses der historischen Entwicklung, alle Elemente der Organisation, alle Elemente der Gärung, die der Vorabend der Revolution erzeugt, für seine Ziele ausnutzen…"

Sehr gut! Aber alle Elemente ausnutzen, heißt eben die Leitung ganz übernehmen. Die „Iskra" schlägt sich selber, fühlt es, und beeilt sich, hinzuzufügen:

„… ohne sich im Geringsten dadurch beirren zu lassen, dass alle diese Elemente ihm einen Teil der technischen Leitung der Revolution selbst abnehmen und dadurch, ob sie wollen oder nicht, die Hineintragung unserer Forderungen in die rückständigsten Schichten der Volksmasse fördern."

Verstehen Sie etwas, lieber Leser? Alle Elemente ausnutzen, ohne sich dadurch beirren zu lassen, dass sie uns einen Teil der Leitung abnehmen!!?? Ihr solltet euch schämen, ihr Herren. Wenn wirklich wir alle Elemente ausnutzen, wenn unsere Forderungen tatsächlich von denen übernommen werden, die wir ausnutzen, dann wird uns die Leitung nicht weggenommen, sondern unsere Leitung wird angenommen. Wenn aber alle diese Elemente uns tatsächlich die Leitung wegnehmen (und natürlich nicht nur die „technische", denn die Trennung der „technischen" Seite der Revolution von der politischen ist der größte Humbug), dann nutzen nicht wir sie aus, sondern sie uns.

Wir werden ums nur freuen, wenn nach dem Priester, der unsere Forderung nach der Trennung von Staat und Kirche in den Massen popularisierte, nach dem monarchistischen Arbeiterverein, der einen Volkszug nach dem Winterpalast organisierte, die russische Revolution um einen General reicher werden sollte, der als erster die Volksmassen in den Endkampf gegen das zaristische Militär führen, oder um einen Beamten, der als erster den offiziellen Sturz der zaristischen Macht proklamieren wird."

Jawohl, auch wir werden uns darüber freuen, aber wir hätten gewünscht, dass das Gefühl der Freude über mögliche Annehmlichkeiten nicht unsere Logik trübe. Was heißt das: die russische Revolution wird um einen Priester oder einen General reicher werden? Das heißt, dass der Priester oder der General Anhänger oder Führer der Revolution werden wird. Diese „Neulinge" können durchaus bewusste oder nicht ganz bewusste Anhänger der Revolution sein. Im letzteren Fall (der bei Neulingen der wahrscheinlichere ist) haben wir uns nicht zu freuen, sondern müssen über ihre Unbewusstheit betrübt sein und sie mit allen Kräften korrigieren und ergänzen. Solange wir das nicht getan haben, solange die Masse dem wenig bewussten Führer folgt, muss man sagen, dass nicht die Sozialdemokratie alle Elemente ausnutzt, sondern dass alle Elemente sie ausnutzen. Ein Anhänger der Revolution, der gestern Priester oder General oder Beamter war, kann ein bürgerlicher Demokrat voller Vorurteile sein, und insofern die Arbeiter ihm folgen, „nutzt" die bürgerliche Demokratie die Arbeiter aus. Ist euch das klar, ihr Herren von der neuen „Iskra"? Wenn ja, warum fürchtet ihr, dass die vollkommen bewussten (das heißt sozialdemokratischen) Anhänger der Revolution die Führung übernehmen? Warum fürchtet ihr, dass ein sozialdemokratischer Offizier (ich wähle absichtlich ein analoges Beispiel) und Mitglied der sozialdemokratischen Organisation auf die Initiative und im Auftrage dieser Organisation die Funktionen und die Aufgaben eures hypothetischen Generals „ganz in seine Hände nimmt"?

Kehren wir zu Parvus zurück. Er schließt seinen ausgezeichneten Artikel mit dem ausgezeichneten Ratschlag, die Desorganisatoren „über Bord zu werfen". Die Beseitigung der Desorganisatoren ist, wie aus den Meldungen hervorgeht, die wir in der Rubrik „Aus der Partei" veröffentlichen2, die leidenschaftlichste und entschiedenste Losung der Mehrheit der russischen Sozialdemokraten. Stimmt, Genosse Parvus: schonungslos „über Bord werfen", und zwar mit jenen Helden der sozialdemokratischen Presse anfangen, die die Desorganisation mit „Theorien" über Organisation als Prozess, Organisation als Tendenz sanktionierten und sanktionieren. Man soll darüber nicht nur reden, sondern es auch tun. Man soll sofort einen Kongress aller Parteifunktionäre einberufen, die die Partei organisieren wollen. Man darf sich nicht auf Ermahnungen und Überredungen beschränken, sondern muss allen Schwankenden, allen Wankelmütigen, Unsicheren und Zweifelnden das direkte und unerbittliche Ultimatum stellen: wählt! Von der ersten Nummer unserer Zeitung an haben wir dieses Ultimatum im Namen der Redaktion des „Wperjod", im Namen jener ganzen Masse der russischen Parteiarbeiter gestellt, die durch die Desorganisatoren in eine unsagbare Wut versetzt wurden. Schmeißt sie rasch hinaus, Genossen, und geht an die gemeinsame organisatorische Arbeit! Lieber hundert revolutionäre Sozialdemokraten, die den Plan einer Organisation angenommen haben, als tausend intellektuelle Trjapitschkins, die über die Organisation als Prozess schwätzen!

* Diese Zeilen waren bereits geschrieben, als uns folgende nicht uninteressante Nachrichten aus dem liberalen Lager zugingen. Der Petersburger Spezialkorrespondent der deutschen bürgerlich-demokratischen „Frankfurter Zeitung" (17. Februar 1905) übermittelt folgende Äußerung eines Petersburger liberalen Journalisten über die politische Lage: „Die Liberalen wären dumm, wenn sie den jetzigen Augenblick verpassten. Sie haben alle Trümpfe in der Hand, da sie so klug waren, die Arbeiter vor ihren Wagen zu spannen, und die Regierung jetzt keine Männer hat, weil die Bürokratie eben keine Männer aufkommen ließ." Nicht wahr, welche heilige Einfalt muss in der neuen „Iskra" herrschen, wenn sie in einem solchen Moment über den Tod des Liberalismus schreibt?

1 Das Zitat ist einem Artikel, überschrieben „Der 9. Januar" in Nr. 85 entnommen. Verfasser des Artikels war Martow.

2 Bezieht sich auf die in der gleichen Nummer des „Wperjod" in der Rubrik „Aus der Partei" veröffentlichten Resolutionen der Minsker Ortsgruppe der Partei und der Organisatoren von Odessa.

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