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Wladimir I. Lenin 19050214 Zwei Taktiken

Wladimir I. Lenin: Zwei Taktiken

[Wperjod" Nr. 6 1./14. Februar 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 154-164]

Von Anbeginn der proletarischen Massenbewegung in Russland an, d. h. schon seit ungefähr zehn Jahren, bestehen unter den Sozialdemokraten über Fragen der Taktik tiefgehende Meinungsverschiedenheiten. Bekanntlich erzeugten gerade Meinungsverschiedenheiten dieser Art in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre die Richtung des Ökonomismus, die zur Spaltung in einen opportunistischen (den des „Rabotscheje Djelo") und einen revolutionären Flügel der Partei (den der alten „Iskra") führte. Doch der russische sozialdemokratische Opportunismus unterschied sich von dem westeuropäischen durch eigentümliche Besonderheiten. Er spiegelte mit außerordentlicher Prägnanz den Standpunkt oder, wenn man will, das Fehlen jedes selbständigen Standpunktes bei dem intelligenzlerischen Flügel der Partei wider, der sowohl für die Modeworte des Bernsteinianertums als auch für die unmittelbaren Ergebnisse und Formen einer reinen Arbeiterbewegung schwärmte. Diese Schwärmerei führte zum epidemieartigen Verrat der legalen Marxisten, die zum Liberalismus abschwenkten, und zur Aufstellung der berühmten Theorie der „Taktik als Prozess" durch Sozialdemokraten, die unseren Opportunisten den Namen Chwostisten eintrug. Sie trotteten hilflos hinter den Ereignissen her, fielen aus einem Extrem ins andere, setzten in allen Fällen den Schwung der Tätigkeit des revolutionären Proletariats und den Glauben an seine Kräfte herab, wobei das alles am meisten und am häufigsten durch die Berufung auf die Selbsttätigkeit des Proletariats bemäntelt wurde. Das ist kurios, ist aber eine Tatsache. Niemand redete soviel über die Selbsttätigkeit der Arbeiter und niemand schmälerte, beschnitt, degradierte mit seiner Predigt diese Selbsttätigkeit so, wie die Anhänger des „Rabotscheje Djelo".

Sprecht weniger von der Steigerung der Aktivität der Arbeitermasse" – sagten die klassenbewussten, vorgeschrittenen Arbeiter zu ihren eifrigen, aber unklugen Ratgebern. „Wir besitzen viel mehr Aktivität, als ihr glaubt, und wir verstehen es, durch offenen Straßenkampf sogar solche Forderungen zu unterstützen, die keine ,greifbaren Resultate' verheißen. Und es ist nicht eure Sache, unsere Aktivität zu steigern, denn gerade euch selber mangelt es an Aktivität! Betet weniger die Spontaneität an und denkt mehr an die Steigerung eurer Aktivität, ihr Herren!"

So musste man das Verhältnis der revolutionären Arbeiter zu den opportunistischen Intellektuellen charakterisieren. („Was tun?", S. 55.)

Die von der neuen „Iskra" gemachten zwei Schritte rückwärts zum „Rabotscheje Djelo" haben dieses Verhältnis wieder aufleben lassen. Aus den Spalten der „Iskra" ergoss sich wieder die Propaganda des Chwostismus, die mit den gleichen, Übelkeit erregenden Schwüren verbrämt war: ich glaube, Herr, und bekenne mich zur Selbsttätigkeit des Proletariats! Im Namen der Selbsttätigkeit des Proletariats verteidigten Axelrod und Martynow, Martow und Liber (der Bundist) auf dem Parteitag das Recht der Professoren und Gymnasiasten, sich als Parteimitglieder einzutragen, ohne in irgendeine Organisation einzutreten. Im Namen der Selbsttätigkeit des Proletariats wurde die Theorie der „Organisation als Prozess" erfunden, die die Desorganisation rechtfertigte und den Intellektuellen-Anarchismus pries. Im Namen der Selbsttätigkeit des Proletariats wurde die ebenso berühmte Theorie des „höheren Demonstrationstypus" erfunden in Form einer Vereinbarung zwischen einer durch dreifache Wahlen gesiebten Arbeiterdelegation und den Semstwoleuten zwecks friedlichen Manifestierens, ohne Erzeugung eines panischen Schreckens. Im Namen der Selbsttätigkeit des Proletariats wurde der Gedanke des bewaffneten Aufstandes entstellt und verflacht, herabgesetzt und verzerrt.

Auf diese letzte Frage möchten wir, in Anbetracht ihrer ungeheuren praktischen Wichtigkeit, die Aufmerksamkeit des Lesers lenken. Die Entwicklung der Arbeiterbewegung hat den Neunmalweisen aus der neuen „Iskra" übel mitgespielt. Kaum war in Russland ihr erstes Schreiben verbreitet, in dem im Namen „des Prozesses der planmäßigen Entwicklung des Klassenbewusstseins und der Selbsttätigkeit des Proletariats" als höherer Demonstrationstypus empfohlen wurde „die Zustellung der Arbeiterdeklaration an die Abgeordneten durch die Post und ihre Verbreitung als Flugblatt in größerer Anzahl im Sitzungssaal der Semstwoversammlung"; – kaum war in Russland ihr zweites Schreiben eingetroffen, in dem die niederschmetternde Entdeckung gemacht wurde, dass im gegenwärtigen „historischen Moment die politische Arena vom Hader zwischen der organisierten Bourgeoisie und der Bürokratie erfüllt" (!) sei und dass „der objektive Sinn einer jeden (hört! hört!) revolutionären Bewegung der unteren Schichten derselbe (!) sei und auf die Unterstützung der Losungen derjenigen der beiden (!!) Kräfte hinauslaufe, die an dem Sturz des betreffenden Regimes interessiert sei" (die demokratischen Intellektuellen werden somit als „Kraft" proklamiert); – kaum hatten die klassenbewussten Arbeiter diese herrlichen Briefe gelesen und Zeit gehabt, sich über sie ausgiebig lustig zu machen, als auch schon die Ereignisse des wirklichen Kampfes des Proletariats mit einem Schlag diesen ganzen politischen Plunder der Publizisten aus der neuen „Iskra" in den Müllkasten fegten. Das Proletariat hat gezeigt, dass es eine dritte (eigentlich natürlich nicht eine dritte, sondern der Zahl nach zweite, und der Kampffähigkeit nach erste) Kraft gibt, die nicht nur an dem Sturz des Absolutismus interessiert ist, sondern auch bereit ist, seinen wirklichen Sturz herbeizuführen. Vom 9. Januar ab wächst sich die Arbeiterbewegung vor unseren Augen zum Volksaufstand aus.

Betrachten wir nun, wie dieser Übergang zum Aufstand von den Sozialdemokraten bewertet wurde, die ihn früher als Frage der Taktik behandelt hatten, und wie die Arbeiter selber in der Praxis an die Lösung dieser Frage gingen.

Vor drei Jahren wurde über den Aufstand als Losung, die unsere nächsten praktischen Aufgaben bestimmt, folgendes gesagt:

Stellen wir uns einen Volksaufstand vor. In der heutigen Zeit werden wohl alle damit einverstanden sein, dass wir an ihn denken und uns auf ihn vorbereiten müssen. Aber wie vorbereiten? Das Zentralkomitee kann doch nicht überall Agenten zur Vorbereitung des Aufstandes ernennen! Selbst wenn wir ein ZK hätten, so würde es in den gegenwärtigen russischen Verhältnissen durch solche Ernennungen absolut nichts erreichen. Im Gegenteil, das Netz von Agenten, das sich bei der Arbeit für die Organisation und Verbreitung der allgemeinen Zeitung von selbst bildet, brauchte nicht zu ,sitzen' und auf die Losung zum Aufstand zu ,warten', sondern es würde gerade eine solche regelmäßige Arbeit leisten, die ihm im Moment des Aufstandes die größte Wahrscheinlichkeit des Erfolges garantiert. Gerade eine solche Arbeit würde die Verbindung mit den breitesten Massen der Arbeiter und mit allen Schichten, die mit dem Absolutismus unzufrieden sind, festigen, was für den Aufstand von so großer Wichtigkeit ist. In einer solchen Arbeit würde sich die Fähigkeit herausbilden, die allgemeine politische Lage richtig einzuschätzen, und folglich auch die Fähigkeit, den für den Aufstand passenden Moment zu wählen. Gerade eine solche Arbeit würde alle örtlichen Organisationen lehren, gleichzeitig auf ein und dieselben, ganz Russland bewegenden politischen Fragen, Vorfälle und Ereignisse zu reagieren, auf diese Ereignisse möglichst energisch, möglichst einheitlich und zweckmäßig zu antworten, – der Aufstand ist doch aber im Grunde die energischste, die einheitlichste und zweckmäßigste ,Antwort' des gesamten Volkes an die Regierung. Gerade eine solche Arbeit würde endlich alle revolutionären Organisationen an allen Enden Russlands dazu anhalten, ständige und gleichzeitig streng konspirative Verbindungen zu unterhalten, die die faktische Einheit der Partei schaffen – Verbindungen, ohne die es unmöglich ist, den Plan des Aufstandes kollektiv zu beraten und die notwendigen Vorbereitungsmaßnahmen am Vorabend des Aufstandes zu treffen, über die das strengste Geheimnis gewahrt werden muss.

Mit einem Wort, der ,Plan der allgemein-russischen politischen Zeitung' ist nicht nur keine Frucht der Studierstubenarbeit von Leuten, die angesteckt sind von Doktrinarismus und Literatentum (wie es Leuten schien, die nicht richtig darüber nachgedacht haben), sondern im Gegenteil, er ist der praktischste Plan, sofort von allen Seiten mit der Vorbereitung des Aufstandes zu beginnen, ohne gleichzeitig auch nur für einen Augenblick die dringende Tagesarbeit zu vergessen." („Was tun?".)

Die von uns unterstrichenen Schlussworte geben eine klare Antwort auf die Frage, wie sich die revolutionären Sozialdemokraten die Vorbereitung des Aufstandes dachten. Aber so klar auch diese Antwort ist, die alte chwostistische Taktik musste sich zwangsläufig auch in diesem Punkt offenbaren. Martynow hat kürzlich eine Broschüre „Zwei Diktaturen" erscheinen lassen1, die von der neuen „Iskra" (Nr. 84) besonders empfohlen wurde. Der Verfasser ist in der tiefsten Tiefe seines Rabotscheje-Djelo-Gemütes empört, dass Lenin von der „Vorbereitung, Festsetzung und Durchführung des allgemeinen bewaffneten Volksaufstandes" reden konnte. Der gestrenge Martynow haut auf den Feind los:

Die internationale Sozialdemokratie hat auf Grund der historischen Erfahrung und der wissenschaftlichen Analyse der Dynamik der gesellschaftlichen Kräfte stets anerkannt, dass nur Palastrevolutionen und Pronunziamentos im Voraus festgesetzt und nach einem vorher aufgestellten Plan mit Erfolg durchgeführt werden können, eben deshalb, weil sie nicht Volksrevolutionen, d. h. Umwälzungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen sind, sondern nur Umgruppierungen in der herrschenden Clique. Die Sozialdemokratie hat stets und überall anerkannt, dass eine Volksrevolution nicht im Voraus festgesetzt werden kann, dass sie nicht künstlich gemacht wird, sondern sich selbst vollzieht."

Nach dieser Tirade wird der Leser vielleicht sagen, dass Martynow offenbar kein ernster Gegner ist, und dass es lächerlich wäre, ihn ernst zu nehmen. Wir würden einem solchen Leser durchaus recht geben. Wir würden sogar einem solchen Leser einräumen, dass es keine größere Qual auf Erden gibt, als alle Theorien und alle Argumentationen unserer Leute aus der neuen „Iskra" ernst zu nehmen. Schlimm ist nur, dass dieser Unsinn auch in den Leitartikeln der „Iskra" (Nr. 62) figuriert2. Noch schlimmer ist, dass es in der Partei Leute (und gar nicht wenige) gibt, die sich die Köpfe durch dieses Zeug verwirren lassen. Und so müssen auch wir von nicht ernstzunehmenden Dingen reden, wie wir von der „Theorie" Rosa Luxemburgs reden müssen, die „die Organisation als Prozess" entdeckt hat. Es bleibt uns nichts übrig, als Martynow auseinanderzusetzen, dass Aufstand nicht mit Volksrevolution verwechselt werden darf, ihm zu erklären, dass die tiefsinnigen Hinweise auf die Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen bei der Lösung der praktischen Frage nach den Methoden des Sturzes des russischen Absolutismus nur eines Spießers aus Krähwinkel würdig sind. Diese Umwälzung hat in Russland bereits mit der Abschaffung der Leibeigenschaft begonnen, und gerade das Zurückbleiben des politischen Überbaus hinter der vollzogenen Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen macht den Zusammenbruch des Überbaues unvermeidlich, wobei ein jäher Zusammenbruch, durch einen Schlag, durchaus möglich ist, denn die „Volksrevolution" hat in Russland dem Zarismus bereits hundert Schläge versetzt, und die Frage ist nur, ob er unter dem hundertundersten oder hundertundzehnten Schlag zusammenbrechen wird. Nur opportunistische Intellektuelle, die ihr eigenes Philistertum auf die Proletarier abwälzen möchten, können zu einer Zeit, wo die Methoden praktisch erwogen werden, wie man ihm einen der Schläge vom zweiten Hundert versetzen soll, mit ihrem Pennälerwissen über die „Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen" prunken. Nur die Opportunisten der neuen „Iskra" können hysterisch über den furchtbaren „jakobinischen" Plan zetern, dessen Schwerpunkt, wie wir gesehen haben, in der allseitigen Massenagitation mit Hilfe einer politischen Zeitung liegt.

Eine Volksrevolution kann nicht festgesetzt werden, das ist richtig. Für die Kenntnis dieser Wahrheit muss Martynow und der Verfasser des Leitartikels in Nummer 62 der „Iskra" gelobt werden („von was für einer Vorbereitung des Aufstandes kann in unserer Partei überhaupt die Rede sein?" fragte dort, gegen die „Utopisten" kämpfend, der treue Kampfgefährte oder Jünger Martynows). Doch einen Aufstand festsetzen, falls wir ihn tatsächlich vorbereitet haben und falls ein Volksaufstand kraft der eingetretenen Umwälzungen in den gesellschaftlichen Verhältnissen möglich ist – das ist etwas durchaus Realisierbares. Wir wollen versuchen, es den Anhängern der neuen „Iskra" an einem einfachen Beispiel zu erläutern. Kann man die Arbeiterbewegung festsetzen? Nein, und zwar darum nicht, weil sie sich aus tausend einzelnen Akten zusammensetzt, die durch eine Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen erzeugt werden.

Kann man einen Streik festsetzen? Jawohl, trotzdem – Genosse Martynow, stehen Sie sich das vor! – trotzdem jeder Streik das Resultat einer Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen bildet. Wann kann man einen Streik festsetzen? Dann, wenn die Organisation oder der Zirkel, die ihn festsetzen, auf die Masse der betreffenden Arbeiter Einfluss haben und den Moment der wachsenden Unzufriedenheit und Erregung in der Arbeitermasse richtig einzuschätzen verstehen. Haben Sie nun kapiert, worum es geht, Genosse Martynow und Genosse „Leitartikler" aus der Nummer 62 der „Iskra"? Wenn Sie es kapiert haben, so wollen Sie jetzt gefälligst Aufstand und Volksrevolution vergleichen. „Eine Volksrevolution kann nicht im Voraus festgesetzt werden." Ein Aufstand kann festgesetzt werden, wenn diejenigen, die ihn festsetzen, auf die Massen Einfluss haben und richtig den Moment einzuschätzen wissen.

Zum Glück ist die Selbsttätigkeit der vorgeschrittenen Arbeiter der chwostistischen Philosophie der neuen „Iskra" weit voraus. Während die „Iskra" Theorien austüftelt, die beweisen sollen, dass ein Aufstand nicht von denjenigen festgesetzt werden kann, die sich darauf vorbereitet haben, indem sie den Vortrupp der revolutionären Klasse organisieren, zeigen die Ereignisse, dass auch diejenigen, die sich nicht auf ihn vorbereitet haben, den Aufstand ansetzen können, ja, ihn manchmal ansetzen müssen.

Hier ein Flugblatt, das wir von einem Petersburger Genossen erhalten haben. Es wurde in mehr als 10.000 Exemplaren von den Arbeitern selbst gesetzt, gedruckt und verbreitet, die am 10. Januar in Petersburg eine legale Druckerei besetzt hatten.

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Bürger! Ihr habt gestern die Bestialitäten der absolutistischen Regierung gesehen! Ihr habt das Blut in den Straßen fließen sehen. Ihr habt Hunderte von ermordeten Kämpfern für die Arbeitersache gesehen, ihr habt den Tod gesehen und das Stöhnen verwundeter Frauen und wehrloser Kinder gehört! Arbeiterblut und Arbeitermark haben das von Arbeiterhänden gelegte Pflaster bespritzt. Wer aber hat die Truppen, die Gewehre und die Kugeln gegen die Arbeiterbrust gerichtet? Der Zar, die Großfürsten, die Minister, die Generale und das Hofgesindel.

Sie sind die Mörder! Tod ihnen! Zu den Waffen, Genossen, besetzt die Arsenale, die Waffenlager und die Waffenläden! Zertrümmert die Gefängnisse, Genossen, befreit die Freiheitskämpfer! Zerschmettert die Polizei- und Gendarmerieämter und alle amtlichen Institutionen. Wir wollen die Zarenregierung stürzen und unsere eigene Regierung einsetzen. Es lebe die Revolution, es lebe die Konstituierende Versammlung der Volksvertreter!

Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands."

Der Aufruf zum Aufstand seitens dieser Handvoll vorgeschrittener Arbeiter, die die Initiative ergriffen hatten, blieb ohne Erfolg. Uns würden auch mehrere erfolglose Aufrufe zum Aufstand oder misslungene „Festsetzungen" des Aufstandes nicht überraschen und nicht entmutigen. Wir überlassen es der neuen „Iskra", bei dieser Gelegenheit über die Notwendigkeit der „Umwälzung in den gesellschaftlichen Verhältnissen" zu schwätzen und hochtrabend den „Utopismus" der Arbeiter zu verurteilen, die den Ruf ausstießen: „Wir wollen unsere eigene Regierung einsetzen". Nur hoffnungslose Pedanten oder Wirrköpfe können den Schwerpunkt eines solchen Aufrufs in diesem Ruf erblicken. Für uns ist wichtig, diesen bemerkenswerten, kühnen, praktischen Anlauf zur Lösung der unmittelbar vor uns stehenden Aufgabe festzustellen und zu unterstreichen.

Der Ruf der Petersburger Arbeiter ist nicht in Erfüllung gegangen und konnte nicht so rasch in Erfüllung gehen, wie sie es wollten. Dieser Ruf wird noch mehr als einmal wiederholt werden, und der Aufstandsversuch kann noch wiederholt zu Misserfolgen führen. Aber allein die Tatsache, dass die Arbeiter selbst diese Aufgabe gestellt haben, ist von ungeheurer Bedeutung. Die Errungenschaft der Arbeiterbewegung, die zur Erkenntnis der praktischen Dringlichkeit dieser Aufgabe geführt hat und sie bei jeder Volksbewegung als nächstliegende stellen wird, diese Errungenschaft kann dem Proletariat durch nichts mehr genommen werden.

Die Sozialdemokraten haben schon vor drei Jahren auf Grund allgemeiner Erwägungen die Losung der Vorbereitung des Aufstandes aufgestellt. Die Selbsttätigkeit des Proletariats gelangte zu derselben Losung unter dem Einfluss der unmittelbaren Lehren des Bürgerkrieges. Es gibt Selbsttätigkeit und Selbsttätigkeit. Es gibt die Selbsttätigkeit eines Proletariats mit revolutionärer Initiative, und es gibt die Selbsttätigkeit eines unentwickelten und am Gängelband geführten Proletariats; es gibt eine bewusst sozialdemokratische Selbsttätigkeit und eine Subatowsche Selbsttätigkeit. Und es gibt Sozialdemokraten, die sogar im jetzigen Moment sich mit Verzückung gerade in diese zweite Art der Selbsttätigkeit versenken, die glauben, man könne einer direkten Antwort auf die aktuellen Fragen entgehen, indem man unzählige Male das Wort „Klasse" wiederholt. Man sehe sich die Nr. 84 der „Iskra" an3.

Warum", fragt mit triumphierender Mine der „Leitartikler", „warum hat nicht die enge Organisation der Berufsrevolutionäre diese Lawine (am 9. Januar) in Bewegung gebracht, sondern der Arbeiterverein? Darum, weil dieser Verein wirklich (hört! hört!) eine breite Organisation war, die auf der Selbsttätigkeit der Arbeitermassen beruhte."

Wäre der Verfasser dieses klassischen Satzes nicht ein Anbeter Martynows, so hätte er vielleicht begriffen, dass der Verein für die Bewegung des revolutionären Proletariats gerade dann und insofern von Nutzen war, als und insofern er von der Subatowschen Selbsttätigkeit zur sozialdemokratischen Selbsttätigkeit überging (worauf er auch sofort aufhörte, als legaler Verein zu existieren).

Wären die Anhänger der neuen „Iskra" oder die neuen Rabotschedjelzen nicht Chwostisten, so hätten sie gesehen, dass gerade der 9. Januar die Prophezeiung derjenigen gerechtfertigt hat, die sagten: „Die Legalisierung der Arbeiterbewegung wird letzten Endes für uns und nicht für die Subatows von Nutzen sein" („Was tun?"). Gerade der 9. Januar hat wieder einmal die ganze Wichtigkeit der dort formulierten Aufgabe gezeigt: „Schnitter vorbereiten, die imstande wären, sowohl das heutige Unkraut zu jäten" (d. h. die jetzige Korruption der Subatowiade zu paralysieren) „als auch den morgigen Weizen zu ernten" (d. h. die Bewegung, die mit Hilfe der Legalisierung einen Schritt vorwärts getan hat, revolutionär zu leiten). Aber die Hansnarren der neuen „Iskra" berufen sich auf die üppige Weizenernte, um die Bedeutung einer festgefügten Organisation der revolutionären Schnitter herabzusetzen!

Es wäre verbrecherisch, fährt derselbe Leitartikler der neuen „Iskra" fort, „die Arrièregarde der Revolution zu überfallen". Was eigentlich dieser Satz bedeuten soll, Allah mag's wissen. In welchem Zusammenhang dieser Satz mit der allgemeinen opportunistischen Physiognomie der „Iskra" steht, darüber werden wir wahrscheinlich ein anderes Mal besonders sprechen. Jetzt genügt es, darauf hinzuweisen, dass der wirkliche politische Sinn dieses Satzes nur der eine ist, nämlich: der Verfasser rutscht auf dem Bauche vor der Arrièregarde der Revolution und rümpft verächtlich die Nase über die „enge" und „jakobinische" Avantgarde der Revolution.

Die Taktik des Chwostismus und die Taktik der revolutionären Sozialdemokratie offenbaren ihre ganze Gegensätzlichkeit um so mehr, je mehr sich die neue „Iskra" im Martynowschen Geiste ereifert. Wir haben bereits in Nr. 1 des „Wperjod" auseinandergesetzt, dass der Aufstand sich an eine der spontanen Bewegungen anschließen müsse. Wir vergessen also keineswegs die Wichtigkeit der „Sicherung der Arrièregarde", wenn man einen militärischen Ausdruck gebrauchen will. Wir sprachen in Nr. 4 von der richtigen Taktik der Petersburger Komiteemitglieder, die von Anfang an ihre ganze Kraft auf die Unterstützung und Entwicklung der revolutionären Elemente der spontanen Bewegung richteten und sich gegenüber der unwissenden Subatowschen Arrièregarde dieser Elementarbewegung zurückhaltend und misstrauisch verhielten. Wir wollen nun mit einem Ratschlage schließen, den wir noch mehrmals den Anhängern der neuen „Iskra" werden geben müssen: setzt die Aufgaben der Avantgarde der Revolution nicht herab, vergesst nicht unsere Pflicht, diese Avantgarde durch unsere organisierte Selbsttätigkeit zu unterstützen. Weniger Gemeinplätze über die Entwicklung der Selbsttätigkeit der Arbeiter – die Arbeiter zeigen ungeheuer viel revolutionäre Selbsttätigkeit, die ihr nicht merkt! – achtet mehr darauf, dass die rückständigen Arbeiter nicht durch euren eigenen Chwostismus demoralisiert werden.

1 S. auch den Artikel „Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung“, D. Red. [Fußnote der „Ausgewählten Werke“, Band 3]

2 Gemeint ist der von Martow geschriebene (nicht gezeichnete) Leitartikel in Nr. 62 der „Iskra".

3 Das Zitat ist einem Artikel Dans: „Der Beginn der Revolution" in Nr. 84 der „Iskra" vom 31. (18.) Januar 1905 entnommen.

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