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Wladimir I. Lenin 19070709 Gegen den Boykott

Wladimir I. Lenin: Gegen den Boykott

(Aus den Notizen eines sozialdemokratischen Publizisten)

[Geschrieben am 9. Juli (26. Juni) 1907. Veröffentlicht 1907 in der Broschüre „Über den Boykott der III. Duma", Moskau Gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 12-48]

Der kürzlich abgehaltene Lehrerkongress, dessen Mehrheit unter sozialrevolutionärem Einfluss stand, hat unter direkter Mitwirkung eines hervorragenden Vertreters der Partei der Sozialrevolutionäre eine Resolution über den Boykott der III. Duma gefasst. Die sozialdemokratischen Lehrer samt dem Vertreter der SDAPR enthielten sich der Abstimmung, da sie der Auffassung waren, die Entscheidung einer solchen Frage stehe einem Parteitag oder einer Parteikonferenz, nicht aber einer parteilosen, gewerkschaftlich-politischen Organisation zu.

Die Frage des Boykotts der III. Duma tritt somit als Tagesfrage der revolutionären Taktik in den Vordergrund. Die Partei der Sozialrevolutionäre hat – nach der Rede ihres Vertreters auf dem erwähnten Kongress zu urteilen – in dieser Frage bereits Beschluss gefasst, obwohl bisher weder offizielle Resolutionen noch literarische Dokumente aus sozialrevolutionären Kreisen darüber vorliegen. In der Sozialdemokratie ist diese Frage auf die Tagesordnung gestellt und wird gegenwärtig erörtert.

Welche Argumente bringen die Sozialrevolutionäre zugunsten ihres Beschlusses vor? Die Resolution des Lehrerkongresses spricht im Grunde genommen von der völligen Untauglichkeit der III. Duma, vom reaktionären und konterrevolutionären Charakter der Regierung, die den Staatsstreich vom 3. Juni vollzogen hat, vom gutsbesitzerfreundlichen Charakter des neuen Wahlgesetzes usw. u. a. m.A Die Argumentation ist so konstruiert, als folge aus dem ultrareaktionären Charakter der III. Duma schon von selbst die Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit eines solchen Kampfmittels oder einer solchen Losung, wie es der Boykott ist. Jedem Sozialdemokraten springt die Unzulänglichkeit einer solchen Argumentation in die Augen, denn hier fehlt es vollständig an einer Analyse der geschichtlichen Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Boykotts. Der auf dem Boden des Marxismus stehende Sozialdemokrat leitet den Boykott nicht von dem Grad des reaktionären Charakters einer bestimmten Institution ab, sondern von dem Vorhandensein jener besonderen Kampfbedingungen, unter welchen, wie heute bereits auch die Erfahrungen der russischen Revolution zeigen, das eigenartige Mittel des Boykotts anwendbar ist. Wer über Boykott reden wird, ohne die zweijährigen Erfahrungen unserer Revolution zu berücksichtigen und zu durchdenken, von dem wird man sagen müssen, dass er vieles vergessen und nichts dazugelernt hat. Unsere Untersuchung der Boykottfrage werden wir daher mit dem Versuch einer Analyse dieser Erfahrungen beginnen.

I

Das bedeutendste Experiment unserer Revolution in der Anwendung des Boykotts war zweifellos der Boykott der Bulygin-Duma. Außerdem war dieser Boykott von vollstem und unmittelbarstem Erfolg gekrönt. Daher besteht unsere erste Aufgabe in der Untersuchung der historischen Voraussetzungen des Boykotts der Bulygin-Duma.

Bei Erörterung dieser Frage treten sofort zwei Umstände in den Vordergrund. Vor allem war der Boykott der Bulygin-Duma ein Kampf gegen den (sei es auch nur vorübergehenden) Übergang unserer Revolution auf die Bahnen einer monarchistischen Konstitution. Zweitens verlief dieser Boykott inmitten eines in höchstem Grade breiten, allgemeinen, starken und raschen revolutionären Aufstiegs.

Wir gehen zunächst auf den ersten Umstand ein. Jeder Boykott ist ein Kampf nicht auf dem Boden der betreffenden Institution, sondern gegen die Entstehung oder – in etwas weiterem Sinn – gegen die Realisierung dieser Institution. Wer daher den Boykott durch allgemeine Argumente über die für Marxisten geltende Notwendigkeit der Ausnützung von Vertretungskörperschaften bekämpfte, wie Plechanow und viele andere Menschewiki es getan haben, entpuppte sich dadurch nur als lächerlicher Doktrinär. So argumentieren musste heißen, den Kern der Streitfrage durch Wiederkäuen unbestreitbarer Wahrheiten zu umgehen. Es ist unbestreitbar, dass Marxisten Vertretungskörperschaften ausnützen müssen. Folgt aber daraus, dass es einem Marxisten untersagt sein soll, unter bestimmten Bedingungen nicht für den Kampf auf dem Boden der betreffenden Institution, sondern für den Kampf gegen ihre Verwirklichung einzutreten? Nein, das folgt daraus nicht, denn dieses allgemeine Argument trifft nur für jene Fälle zu, wo für einen Kampf gegen die Entstehung einer solchen Institution kein Platz ist. In der Boykottfrage aber handelt es sich gerade darum, ob für den Kampf gegen die Entstehung ähnlicher Institutionen Platz ist oder nicht. Plechanow und Co. haben durch ihre Argumente gegen den Boykott gezeigt, dass sie schon die bloße Fragestellung nicht verstehen.

Weiter. Wenn jeder Boykott ein Kampf nicht auf dem Boden der betreffenden Institution, sondern ein Kampf gegen ihre Verwirklichung ist, so war der Boykott der Bulygin-Duma außerdem ein Kampf gegen die Verwirklichung eines ganzen Systems von Institutionen monarchistisch-konstitutionellen Typs. Das Jahr 1905 hat mit aller Deutlichkeit gezeigt, dass die Möglichkeit eines unmittelbaren Massenkampfes in der Form allgemeiner Streiks (Streikwelle nach dem 9. Januar) und militärischer Aufstände („Potemkin") bestand. Der unmittelbare revolutionäre Kampf der Massen war folglich Tatsache. Nicht minder Tatsache war andererseits auch das Gesetz vom 6. August – ein Versuch, die Bewegung von einem (im direktesten und engsten Sinne des Wortes) revolutionären Weg auf den Weg der monarchistischen Konstitution hinüber zuleiten Objektiv war ein Kampf zwischen beiden Wegen – dem Weg des direkten revolutionären Kampfes der Massen und dem Weg der monarchistischen Verfassung – unvermeidlich. Es handelte sich sozusagen darum, den nächsten Weg der Entwicklung der Revolution zu wählen, wobei natürlich nicht der Wille der einen oder der anderen Gruppen, sondern die Kraft der revolutionären und der konterrevolutionären Klassen ausschlaggebend war. Die Kraft konnte aber nur im Kampf gemessen und erprobt werden. Die Losung des Boykotts der Bulygin-Duma war denn auch eine Losung des Kampfes für den Weg des unmittelbar-revolutionären Kampfes gegen den konstitutionell-monarchistischen Weg. Auch auf diesem letzteren Wege war natürlich ein Kampf möglich und nicht nur möglich, sondern auch unvermeidlich. Auch auf dem Boden der monarchistischen Konstitution ist eine Fortführung der Revolution und die Vorbereitung ihres neuen Aufstiegs möglich, auch auf dem Boden der monarchistischen Konstitution ist der Kampf der revolutionären Sozialdemokratie möglich, ja er ist Pflicht – diese Binsenwahrheit, für die 1905 Axelrod und Plechanow mit so großem, aber so wenig angebrachtem Eifer ihre Lanzen brachen, trifft nach wie vor zu.1 Doch die von der Geschichte damals gestellte Frage war eine andere: Plechanow und Axelrod sprachen „nicht zur Sache", d. h. an Stelle der Frage, vor die die Geschichte die kämpfenden Kräfte gestellt hatte, setzten sie eine andere, der letzten Ausgabe eines deutschen sozialdemokratischen Lehrbuches entnommene Frage. Historisch unvermeidlich war der Kampf um die Wahl des Weges für den Kampf in der nächsten Zukunft. Wird die alte Macht die erste russische Vertretungskörperschaft einberufen und auf diese Weise die Revolution für eine bestimmte (vielleicht sehr kurze, vielleicht aber auch verhältnismäßig lange) Zeit hinaus auf den konstitutionell-monarchistischen Weg hinüber leiten – oder wird das Volk durch einen direkten Vorstoß die alte Macht hinwegfegen, – im schlimmsten Falle erschüttern, – ihr die Möglichkeit entziehen, die Revolution auf den monarchistisch konstitutionellen Weg hinüber zuleiten, und dem unmittelbar revolutionären Kampf der Massen (wiederum für kürzere oder längere Zeit) den Weg bahnen? Diese, seinerzeit von Plechanow und Axelrod übersehene Frage war es, vor die im Herbst 1905 die revolutionären Klassen Russlands gestellt waren. Die Propaganda des aktiven Boykotts durch die Sozialdemokratie war eine Form des Stellens dieser Frage, eine Form ihres bewussten Stellens durch die Partei des Proletariats, eine Losung des Kampfes um die Wahl des Weges für den Kampf.

Die Verfechter des aktiven Boykotts, die Bolschewiki, haben die von der Geschichte objektiv gestellte Frage richtig aufgefasst. Der Oktober- und Dezemberkampf 1905 war tatsächlich ein Kampf um die Wahl des Weges für den Kampf. Dieser Kampf ging mit wechselndem Erfolg vor sich; zuerst gewann das revolutionäre Volk die Oberhand, es entriss der alten Macht die Möglichkeit, die Revolution sofort auf monarchistisch-konstitutionelle Bahnen hinüber zuleiten, schuf an Stelle der polizeilich-liberalen Vertretungskörperschaften solche rein revolutionärer Art: die Arbeiterdeputiertenräte usw. Die Periode Oktober – Dezember war eine Periode maximaler Freiheit, maximaler Selbsttätigkeit der Massen, maximaler Breite und maximalen Tempos der Arbeiterbewegung auf einem Boden, der durch den Ansturm des Volkes von den monarchistisch-konstitutionellen Institutionen, Gesetzen und Widerhaken gereinigt war, auf dem Boden eines „Interregnums", als die alte Macht bereits entkräftet, die neue revolutionäre Macht des Volkes aber (Arbeiter-, Bauern-, Soldatendeputiertenräte usw.) noch nicht genügend erstarkt war, um ganz an die Stelle der alten Macht zu treten. Im Dezemberkampf wurde die Frage anders entschieden: die alte Macht siegte, sie schlug den Ansturm des Volkes zurück und behauptete sich in ihren Positionen. Aber es lag damals natürlich noch kein Grund vor, diesen Sieg als einen entscheidenden zu betrachten. Der Dezemberaufstand 1905 fand seine Fortsetzung in der Form einer ganzen Reihe zersplitterter militärischer Teilaufstände und Teilstreiks im Sommer 1906. Die Losung des Boykotts der Witteschen Duma war eine Losung des Kampfes für die Konzentrierung und Zusammenfassung dieser Aufstände.

Die erste Schlussfolgerung, die aus der Betrachtung der Erfahrungen der russischen Revolution in Bezug auf den Boykott der Bulygin-Duma gezogen werden muss, besteht folglich darin dass die objektive Grundlage des Boykotts der von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Kampf um die Form des nächsten Weges der Entwicklung war, der Kampf darum, wem die Einberufung der ersten russischen Vertretungskörperschaft zufallen wird, der alten Macht oder der neuen, durch Gewalt entstandenen Volksmacht, der Kampf für den unmittelbar revolutionären Weg oder (auf eine bestimmte Zeit hinaus) für den Weg der monarchistischen Konstitution.

Im Zusammenhang damit steht auch die in der Literatur so oft aufgetauchte und bei der Erörterung des vorliegenden Themas immer wieder auftauchende Frage der Einfachheit, Klarheit und „Geradlinigkeit" der Boykottlosung, sowie die Frage des geraden und des im Zickzack verlaufenden Entwicklungsweges. Der unmittelbare Sturz oder, schlimmstenfalls, die Schwächung und Entkräftung der alten Macht, die unmittelbare Schaffung neuer Machtorgane durch das Volk – all dies ist natürlich der direkteste, der für das Volk vorteilhafteste Weg der aber auch den größten Kraftaufwand verlangt. Hat man die drückende Übermacht, dann kann man auch in direktem Frontalangriff siegen. Fehlt es an Kraft, so werden möglicherweise auch Umwege, Abwarten, Zickzackbewegungen, Rückzüge usw. usf erforderlich sein. Der Weg der monarchistischen Verfassung schließt die Revolution natürlich noch keineswegs aus, denn auch er bereitet sie vor, entwickelt indirekt Elemente derselben doch ist dies ein längerer, ein im Zickzack verlaufender Weg Durch die ganze menschewistische Literatur, insbesondere die von 1905 (bis Oktober), zieht sich wie ein roter Faden die gegen die Bolschewiki erhobene Beschuldigung der „Geradlinigkeit', ziehen sich an sie gerichtete erbauliche Belehrungen darüber dass man dem Zickzackweg Rechnung tragen müsse, den die Geschichte geht. Diese Eigentümlichkeit der menschewistischen Literatur ist ebenfalls ein Musterbeispiel der Erörterung solcher Tatsachen, wie: Pferde fressen Hafer und die Wolga mündet ins Kaspische Meer; solches Wiederkäuen unbestreitbarer Tatsachen verdunkelt nur den eigentlichen Kern der Streitfrage Dass die Geschichte sich gewöhnlich im Zickzack bewegt und dass der Marxist es verstehen muss, mit den kompliziertesten und fantastischsten Zickzacksprüngen der Geschichte zu rechnen – das ist unbestreitbar. Doch dieser unbestreitbare Kaustoff hat nichts mit der Frage zu schaffen, was der Marxist anfangen soll, wenn die Geschichte selber die kämpfenden Kräfte vor die Wahl eines direkten oder des Zickzackweges stellt. Wer in Augenblicken oder Perioden, wo dies eintritt, nichts anderes tut, als dass er des langen und breiten darüber redet, dass die Geschichte sich meist im Zickzack bewegt, der wird eben zum „Mann im Futteral" und vertieft sich in die Betrachtung der Wahrheit, dass Pferde Hafer fressen. Revolutionäre Perioden sind aber meistens gerade solche Geschichtsperioden, wo in verhältnismäßig kurzer Zeit, im Zusammenstoß der kämpfenden gesellschaftlichen Kräfte die Entscheidung darüber fällt, welchen Entwicklungsweg das Land auf eine verhältnismäßig sehr lange Zeit hinaus wählt – den geraden oder den zickzackartigen. Die Notwendigkeit, mit einem Zickzackweg zu rechnen, schafft jedoch keineswegs die Tatsache aus der Welt, dass die Marxisten es verstehen müssen, in entscheidenden Momenten der Geschichte die Massen über die Vorzüge des geraden Weges aufzuklären, ihnen im Kampf um die Wahl dieses direkten Weges zu helfen, Losungen für diesen Kampf aufzustellen usw. Und nur hoffnungslose Philister und ganz beschränkte Pedanten könnten nach Abschluss der entscheidenden historischen Schlachten, in denen die Entscheidung für den Zickzackweg, gegen den geraden gefallen ist, über diejenigen hämisch kichern, die bis ans Ende für den geraden Weg gekämpft haben. Das wäre ähnlich dem Kichern der deutschen ärarischen und polizeitreuen Geschichtsschreiber vom Schlage Treitschkes über die revolutionären Losungen und die revolutionäre Geradlinigkeit von Marx im Jahre 1848.

Die Stellung des Marxismus zum Zickzackgang der Geschichte ist dem Wesen der Sache nach die gleiche wie seine Stellung gegenüber Kompromissen. Jede Zickzackwendung der Geschichte ist ein Kompromiss – ein Kompromiss zwischen dem Alten, das nicht mehr stark genug ist, um das Neue ganz ablehnen zu können, und dem Neuen, das noch nicht stark genug ist, um das Alte ganz zu stürzen. Der Marxismus ist nicht ein für allemal gegen Kompromisse, er hält ihre Ausnützung für notwendig, aber dadurch ist keineswegs ausgeschlossen, dass er, als lebendige und wirkende geschichtliche Kraft, mit der Aufbietung seiner ganzen Energie gegen Kompromisse kämpft. Wer diesen scheinbaren Widerspruch nicht zu begreifen vermag, der kennt nicht die Anfangsgrunde des Marxismus.

Engels hat einmal die Stellung des Marxismus gegenüber Kompromissen äußerst anschaulich, klar und knapp formuliert und zwar in seinem Artikel über das Manifest der blanquistischen Kommune-Flüchtlinge (1874)B Die blanquistischen Flüchtlinge der Kommune schrieben in ihrem Manifest, dass sie keinerlei Kompromisse für zulässig halten. Engels machte sich über dieses Manifest lustig. Nicht darum handelt es sich – sagt er – sich ein für allemal gegen die Ausnutzung von Kompromissen zu erklären, zu denen uns die Umstände verdammen (oder zu denen uns die Umstände zwingen – ich muss mich vor dem Leser entschuldigen, aber ich habe nicht die Möglichkeit nach dem Text zu zitieren, und muss mich daher auf mein Gedächtnis verlassen). Es handelt sich darum, die wahren revolutionären Ziele des Proletariats klar im Auge zu behalten und sie unter allen und jeden Umständen, durch alle Zickzackbewegungen und Kompromisse hindurch verfolgen zu können.

Nur von diesem Standpunkt aus darf man die Einfachheit, Geradlinigkeit und Klarheit des Boykotts als einer an die Massen appellierenden Losung werten. Alle diese Eigenschaften der Boykottlosung sind nicht an und für sich gut, sondern nur insofern, als die objektive Situation, in der diese Losung angewandt wird, Voraussetzungen des Kampfes um die Wahl des direkten oder des Zickzackweges aufweist. In der Zeit der Bulygin-Duma war diese Losung richtig, sie war die einzige revolutionäre Losung der Arbeiterpartei, nicht weil sie die einfachste, klarste und deutlichste war, sondern weil die geschichtlichen Bedingungen damals die Arbeiterpartei vor die Aufgabe der Beteiligung am Kampfe für den geraden und einfachen revolutionären Weg, gegen den zickzackartigen monarchistisch-konstitutionellen Weg gestellt haben.

Es fragt sich nun: worin ist das Kriterium dafür zu suchen, ob diese besonderen geschichtlichen Bedingungen damals auch wirklich vorhanden waren? Was ist das Hauptmerkmal jener Eigentümlichkeit der objektiven Sachlage, infolge welcher die einfache, gerade und klare Losung nicht zur Phrase, sondern zu der dem wirklichen Kampf einzig entsprechenden Losung wurde? Zu dieser Frage wollen wir nunmehr übergehen.

II

Wenn man auf einen bereits beendeten (wenigstens in seiner direkten und unmittelbaren Form beendeten) Kampf zurückblickt, so ist natürlich nichts leichter, als eine Bilanz der verschiedenen einander widersprechenden Merkmale und Symptome jenes Zeitalters zu ziehen. Der Ausgang des Kampfes entscheidet alles mit einem Schlag und löst in sehr einfacher Weise alle Zweifel. Aber heute gilt es, solche Anzeichen festzustellen, mit deren Hilfe wir uns vor dem Kampf über die Lage klar werden können, denn es gilt ja, die Lehren der geschichtlichen Erfahrungen auf die III. Duma anzuwenden. Wir haben bereits gesagt, dass 1905 der breiteste, allgemeine, starke und mächtige revolutionäre Aufschwung die Voraussetzung des Erfolges des Boykotts gewesen ist. Nunmehr müssen wir prüfen, erstens, in welchem Zusammenhang der besonders starke Aufschwung des Kampfes mit dem Boykott steht, zweitens, welches die Charakterzüge und Merkmale eines besonders starken Aufschwunges sind.

Wie gesagt, ist der Boykott ein Kampf nicht auf dem Boden der betreffenden Institution, sondern ein Kampf gegen ihre Entstehung. Jede gegebene Institution kann nur von einer bereits bestehenden, d. h. von der alten Macht ausgehen. Folglich ist der Boykott ein Kampfmittel, das unmittelbar auf den Sturz der alten Macht, oder schlimmstenfalls, d. h. wenn der Ansturm für den Sturz zu schwach ist, auf eine solche Schwächung dieser Macht gerichtet ist, die es ihr unmöglich machen soll, diese Institution ins Leben zu rufen, sie zu verwirklichen.C Der Boykott erfordert folglich für seinen Erfolg den unmittelbaren Kampf gegen die alte Macht, Erhebung gegen sie und Massengehorsamsverweigerung in einer ganzen Reihe von Fällen (eine solche Massengehorsamsverweigerung ist eine der Bedingungen, die den Aufstand vorbereiten). Der Boykott ist eine Weigerung, die alte Macht anzuerkennen, und zwar natürlich eine Weigerung nicht in Worten, sondern durch Taten, d. h. eine Weigerung, die sich nicht nur in Ausrufen oder Losungen von Organisationen dokumentiert, sondern in einer bestimmten Bewegung der Volksmassen, die die Gesetze der alten Macht systematisch verletzen, systematisch neue, gesetzwidrige, doch faktisch bestehende Institutionen schaffen usw. usw. Der Zusammenhang des Boykotts mit einem breiten revolutionären Aufschwung ist somit klar: der Boykott ist das entschiedenste Kampfmittel, das nicht die Organisationsformen der betreffenden Institution, sondern sie selbst, ihr Bestehen verneint. Der Boykott ist die direkte Kriegserklärung an die alte Macht, ein direkter Angriff auf sie. Außerhalb eines breiten revolutionären Aufschwungs, außerhalb einer überall sozusagen über den Rand der alten Legalität schäumenden Erregung der Massen kann von einem Erfolg des Boykotts keine Rede sein.

Wenn wir nunmehr nach Charakter und Symptomen des Aufschwungs vom Herbst 1905 fragen, so werden wir leicht sehen, dass es eine Zeit der ununterbrochenen Massenoffensive der Revolution war, die systematisch gegen den Feind vorging und ihn zurückdrängte. Durch die Repressalien wurde die Bewegung nicht eingeschränkt, sondern noch mehr erweitert. Dem 9. Januar folgten eine Riesenstreikwelle, Barrikaden in Łódż, der Aufstand auf dem „Potemkin". Auf dem Gebiet der Presse, des Vereins- und Unterrichtswesens, überall wurde der von der alten Macht festgesetzte legale Rahmen systematisch verletzt, und zwar durchaus nicht allein durch „Revolutionäre", sondern auch von einfachen Spießbürgern, denn die alte Macht war wirklich geschwächt, die Zügel entglitten tatsächlich ihren altersschwachen Händen. Ein besonders klarer und (vom Standpunkt der revolutionären Organisationen) einen Irrtum ausschließender Beweis für die Kraft des Aufschwungs war der Umstand, dass die revolutionären Losungen nicht nur nicht ohne Widerhall blieben, sondern im Gegenteil vom Leben sogar überflügelt wurden. Sowohl am 9. Januar als auch in den darauffolgenden Massenstreiks und beim Aufstand auf dem „Potemkin" - bei allen diesen Ereignissen wurden die unmittelbaren Aufforderungen der Revolutionäre überholt. Eine von ihnen ausgehende Aufforderung von den Massen passiv, mit Schweigen, Ablehnung des Kampfes aufgenommen worden wäre, hat es 1905 nicht gegeben. In einer solchen Situation war der Boykott die natürliche Ergänzung einer mit Elektrizität geladenen Atmosphäre. Diese Losung „erfand" damals nichts, sie formulierte nur den immer wachsenden, sich in der Richtung eines direkten Ansturms entwickelnden Aufschwung in genauer und richtiger Art. „Erfinder" waren im Gegenteil unsere Menschewiki, die, dem revolutionären Aufschwung fernbleibend, das leere Versprechen des Zaren in Gestalt des Manifestes oder des Gesetzes vom 6. August überschätzten und den versprochenen Umschwung zum monarchistischen Konstitutionalismus ernst nahmen. Die Menschewiki (und Parvus) gründeten damals ihre Taktik nicht auf der Tatsache des so breiten, starken und raschen revolutionären Aufschwungs, sondern auf die vom Zaren versprochene monarchistisch-konstitutionelle Wendung! Kein Wunder, dass eine solche Taktik sich als lächerlicher und jämmerlicher Opportunismus erwies. Kein Wunder, dass in allen menschewistischen Betrachtungen über den Boykott die Analyse des Boykotts der Bulygin-Duma, d. h. des größten Boykottexperiments m der Revolution, jetzt sorgfältig vermieden wird. Aber es genügt nicht, diesen wohl größten revolutionär-taktischen Fehler der Menschewiki einzusehen. Man muss sich klare Rechenschaft darüber geben, dass die Quelle dieses Fehlers ein Nichtverstehen der objektiven Sachlage war, einer Sachlage, in der der revolutionäre Aufschwung Wirklichkeit, die monarchistisch-konstitutionelle Wendung aber ein leeres Polizeiversprechen war Nicht v.a. deshalb hatten die Menschewiki unrecht, weil sie in der Frage keine subjektiv revolutionäre Stimmung zeigten, sondern weil diese Auch-Revolutionäre in ihren Auffassungen hinter der objektiv revolutionären Situation zurückblieben. Diese beiden Es handelt sich im Text überall um den aktiven Boykott, d. h. nicht um einen einfachen Verzicht auf Beteiligung an Unternehmen der alten Macht sondern um einen Ansturm auf diese Macht. Leser, die mit der sozialdemokratischen Literatur aus der Epoche des Boykotte der Bulygin-Duma nicht bekannt sind, müssen daran erinnert werden, dass die Sozialdemokraten damals direkt von einem aktiven Boykott sprachen, den sie dem passiven Boykott entschieden entgegenstellten, ja noch mehr, sie verknüpften den aktiven Boykott entschieden mit dem bewaffneten Aufstand. Diese beidenUrsachen des Fehlers der Menschewiki kann man leicht verwechseln, für einen Marxisten jedoch ist es unstatthaft, sie zu verwechseln.

III

Der Zusammenhang des Boykotts mit den besonderen gelegentlichen Bedingungen einer bestimmten Periode der russischen Revolution muss noch von einer anderen Seite betrachtet werden. Welches war der politische Inhalt der sozialdemokratischen Boykottkampagne im Herbst 1905 und im Frühjahr 1906? Der Inhalt dieser Kampagne bestand natürlich nicht in der bloßen Wiederholung des Wortes „Boykott" oder in der Aufforderung, sich nicht an den Wahlen zu beteiligen. Auch durch die Aufforderung zu einem direkten Vorstoß, der die vom Absolutismus vorgeschlagenen Umwege und Zickzackwege ignoriert wurde er nicht erschöpft. Außerdem, und nicht einmal neben dem obigen Thema. Sondern eher im Mittelpunkt der ganzen Boykottaktion, stand der Kampf gegen die Verfassungsillusionen.Dieser Kampf war wahrlich die eigentliche Seele des Boykotts. Man vergegenwärtige sich die Reden der Boykottisten und ihre ganze Agitation, man betrachte die wichtigsten Resolutionen der Boykotten, und man wird sich von der Richtigkeit dieser Auffassung überzeugen.

Den Menschewiki war es niemals gegeben, diese Seite des Boykotts zu begreifen. Sie glaubten immer, im Zeitalter des aufkeimenden Konstitutionalismus sei ein Kampf gegen Verfassungsillusionen Widersinn, Humbug, „Anarchismus". Und in den Reden auf dem Stockholmer Parteitag, insbesondere, wie wir uns erinnern können, in den Reden Plechanows, ist dieser menschewistische Standpunkt mit größter Deutlichkeit zum Ausdruck gekommen – von der menschewistischen Literatur ganz zu schweigen.

Auf den ersten Blick könnte der Standpunkt der Menschewiki in dieser Frage ebenso unbestreitbar scheinen, wie der Standpunkt eines Menschen, der seine Nächsten selbstgefällig darüber belehrt, dass Pferde Hafer fressen. In einem Zeitalter des aufkeimenden Konstitutionalismus den Kampf gegen Verfassungsillusionen verkünden! Ist das nicht Anarchismus? Ist das nicht barer Unsinn?

Die Vulgarisierung der Frage, die in solchen Betrachtungen durch die Berufung auf den gesunden Menschenverstand begangen wird, beruht darauf, dass eine besondere Periode der russischen Revolution mit Stillschweigen übergangen, dass der Boykott der Bulygin-Duma vergessen, dass die konkreten Etappen des von unserer Revolution zurückgelegten Weges ersetzt werden durch die allgemeine Bezeichnung unserer ganzen, der vergangenen sowohl wie der zukünftigen Revolution als einer zum Konstitutionalismus führenden. Es ist ein Musterbeispiel für die Verletzung der Methode des dialektischen Materialismus durch Leute, die, wie Plechanow, mit dem größten Pathos über diese Methode redeten.

Ja, unsere bürgerliche Revolution als Ganzes ist, wie jede bürgerliche Revolution, letzten Endes ein Prozess der Herausbildung des konstitutionellen Systems und weiter nichts. Dies ist eine Wahrheit. Es ist eine nützliche Wahrheit für die Entlarvung der quasi-sozialistischen Allüren des einen oder andern bürgerlich-demokratischen Programms, der einen oder andern bürgerlich-demokratischen Theorie, Taktik usw. Kann man aber aus dieser Wahrheit Nutzen ziehen in der Frage, welcher Art Konstitutionalismus die Arbeiterpartei in der Epoche der bürgerlichen Revolution das Land entgegenführen soll, in der Frage, in welcher Weise die Arbeiterpartei für einen bestimmten (und zwar republikanischen) Konstitutionalismus in bestimmten Perioden der Revolution zu kämpfen hat? Nein. Die von Axelrod und Plechanow so geliebte Wahrheit wird in diesen Fragen ebenso wenig Klarheit schaffen, wie die Feststellung, dass Pferde Hafer fressen, bei der Wahl eines passenden Pferdes und beim Reiten darauf zu helfen vermag.

Der Kampf gegen die Verfassungsillusionen – sagten die Bolschewiki 1905 und Anfang 1906 – muss zur Losung des Augenblicks. werden, denn eben in der gegenwärtigen Periode stellt die objektive Lage der Dinge die kämpfenden sozialen Kräfte vor die Entscheidung der Frage, ob für die nächste Zeit der direkte Weg des unmittelbaren revolutionären Kampfes, der Weg der unmittelbar von der Revolution auf der Grundlage einer vollkommenen Demokratie geschaffenen Vertretungsinstitutionen siegen wird, oder aber der Umweg, der Zickzackweg der monarchistischen Verfassung und polizeilich-„konstitutioneller“ (in Gänsefüßchen!) Institutionen von der Art der „Duma“.

Ist diese Frage wirklich aus der objektiven Sachlage heraus entstanden, oder wurde sie von den Bolschewiki aus theoretischem Unfug einfach „erfunden“? Die Geschichte der russischen Revolution hat diese Frage bereits beantwortet.

Der Oktoberkampf 1905 war gerade ein Kampf gegen das Abschwenken der Revolution auf monarchistisch-konstitutionelle Bahnen. Die Periode Oktober-Dezember war gerade eine Periode der Verwirklichung eines proletarischen, eines wahrhaft demokratischen, breiten, kühnen und freien, tatsächlich den Willen des Volkes zum Ausdruck bringenden Konstitutionalismus, zum Unterschied vom Schein-Konstitutionalismus der Dubassow- und Stolypinverfassung. Der revolutionäre Kampf um einen wirklich demokratischen Konstitutionalismus (d. h, einen solchen, der auf einem von der alten Macht und von den alten mit ihr verbundenen Niederträchtigkeiten gesäuberten Boden steht) erfordert den allerentschiedensten Kampf dagegen, daß das Volk mit einer polizeilich-monarchistischen Verfassung geködert wird. Diese ganz einfache Sache vermochten aber die sozialdemokratischen Boykottgegner absolut nicht zu begreifen.

Die beiden Entwicklungsetappen der russischen Revolution stehen heute mit vollster Klarheit vor unseren Augen: die Etappe des Aufschwungs (1905) und die Etappe des Rückganges (1906-1907). Zunächst eine Zeit größter Blüte der Selbsttätigkeit des Volkes, eine Zeit freier und breiter Organisationen aller Bevölkerungsklassen, größter Pressefreiheit, vollster Ignorierung der alten Macht, ihrer Institutionen und Gebote durch das Volk,— und dies trotz des Fehlens jeglichen bürokratisch anerkannten, in formale Statuten niedergelegten Konstitutionalismus. Dann folgte eine Zeit des Tiefstandes und stetigen Rückganges der Selbsttätigkeit des Volkes, der Organisiertheit, der freien Presse usw., bei Bestehen einer, von den Dubassow und Stolypin fabrizierten, von ihnen anerkannten, von ihnen geschützten – mit Verlaub zu sagen – „Verfassung".

Heute, wo die Vergangenheit so deutlich, klar und einfach vor unseren Blicken daliegt, wird sich wohl kaum ein Pedant finden, der es wagen würde, die Berechtigung und Notwendigkeit des revolutionären Kampfes des Proletariats gegen das Einschwenken der Ereignisse in monarchistisch-konstitutionelle Bahnen, die Berechtigung und Notwendigkeit des Kampfes gegen die Verfassungsillusionen zu leugnen.

Es wird sich heute wahrscheinlich kein einigermaßen vernünftiger Historiker finden, der die Entwicklung der russischen Revolution von 1905 bis Herbst 1907 nicht gerade in diese beiden Perioden teilen würde – eine Periode des „anti-konstitutionellen" (man erlaube mir den Ausdruck) Aufstiegs und eine Periode des „konstitutionellen" Niedergangs, eine Periode der Eroberung und Verwirklichung der Freiheit durch das Volk ohne polizeilichen (monarchistischen) Konstitutionalismus und eine Periode der Unterdrückung der Volksfreiheit mit Hilfe einer monarchistischen „Konstitution".

Jetzt steht die Periode der Verfassungsillusionen, die Periode der I. und II. Duma vollkommen klar vor uns, und es ist nicht mehr schwer, die Bedeutung des damaligen Kampfes der revolutionären Sozialdemokratie gegen die Verfassungsillusionen zu begreifen. Doch damals, 1905 und Anfang 1906, haben das weder die Liberalen im bürgerlichen noch die Menschewiki, im proletarischen Lager begriffen.

Die Periode der I. und II. Duma war aber in jedem Sinne und nach allen Richtungen hin eine Periode der Verfassungsillusionen. Das feierliche Gelöbnis: „Kein Gesetz soll ohne Billigung der Reichsduma Gesetzeskraft erlangen" – wurde in jener Periode nicht gebrochen. Das bedeutet, dass die Verfassung auf dem Papier tatsächlich bestand und alle Knechtsseelen der russischen Kadetten unaufhörlich in Rührung versetzte. Sowohl Dubassow als auch Stolypin experimentierten und probierten damals an der russischen Verfassung herum, bestrebt, sie dem alten Absolutismus anzupassen, sie für seine Bedürfnisse zurecht zu schneidern.

Die Herren Dubassow und Stolypin waren, so schien es, die mächtigsten Leute dieser Zeit, sie arbeiteten eifrig an der Umwandlung der „Illusion" in Wirklichkeit. Doch die Illusion blieb Illusion Die Richtigkeit der Losung der revolutionären Sozialdemokratie wurde von der Geschichte in vollem Umfang bestätigt. Aber nicht nur die Dubassow und Stolypin versuchten die „Verfassung" zu verwirklichen, nicht nur die kadettischen Knechtsseelen sangen ihr Lob und mühten sich in Lakaienart aus Leibeskräften (à la Roditschew in der I. Duma) zu beweisen, der Monarch stehe über jeder Verantwortung, und es wäre größte Anmaßung, ihn für die Pogrome verantwortlich zu machen. Nein, auch die breiten Volksmassen glaubten noch in dieser Periode, trotz der Warnungen der Sozialdemokratie, zweifellos in größerem oder geringerem Grade an die „Verfassung", an die Duma.

Man kann sagen, dass die Periode der Verfassungsillusionen m der russischen Revolution eine ebensolche Periode allgemeiner nationaler Anbetung eines bürgerlichen Fetischs war wie es manchmal die Begeisterung ganzer Nationen Westeuropas für den Fetisch des bürgerlichen Nationalismus, des Antisemitismus Chauvinismus usw. ist. Ein Verdienst der Sozialdemokratie ist es, dass sie allein dem bürgerlichen Betrug standgehalten, in einer Zeit der Verfassungsillusionen ganz allein die Fahne des Kampfes gegen die Verfassungsillusionen ständig hochgehalten hat.

Nunmehr fragt es sich: warum war der Boykott ein spezifisches Mittel im Kampfe gegen die Verfassungsillusionen'?

Der Boykott weist einen Zug auf, der jeden Marxisten von vornherein und auf den ersten Blick unwillkürlich von ihm abstoßt. Wahlboykott ist ein Sichzurückziehen vom Parlamentarismus, ist ein Etwas, das unvermeidlich wie passiver Verzicht Enthaltung, Ausweichen erscheint. So betrachtete die Dinge Parvus der nur aus deutschen Beispielen gelernt hat, als er im Herbst 1905 ebenso grimmig wie wenig geschickt tobte, um zu beweisen dass auch der aktive Boykott als Boykott ein Übel ist.2 Das ist heute noch die Auffassung Martows, der aus der Revolution nichts gelernt hat, sich immer mehr in einen Liberalen verwandelt und, wie sein letzter Artikel im „Towarischtsch" zeigt, nicht einmal imstande ist, die Frage so zu stellen, wie es sich für einen revolutionären Sozialdemokraten geziemt.3

Doch dieser für einen Marxisten sozusagen am meisten antipathische Zug des Boykotts findet seine volle Erklärung in den Eigentümlichkeiten jener Epoche, aus der heraus ein solches Kampfmittel entstanden ist. Die erste monarchistische Duma, die Bulygin-Duma, war ein Lockmittel, das bestimmt war, das Volk von der Revolution abzulenken. Es war eine Strohpuppe im Verfassungskostüm. Alle waren geneigt, auf diesen Leim zu gehen. Aus eigennützigem Klasseninteresse die einen, aus Beschränktheit die anderen, alle waren bereit, sich an die Strohpuppe der Bulygin-Duma und später der Witte-Duma zu klammern. Alles war begeistert, alles war aufrichtigen Glaubens voll. Die Beteiligung an den Wahlen war keine alltägliche, einfache Erfüllung einer gewöhnlichen Bürgerpflicht. Es war die Inauguration der monarchistischen Verfassung. Es war eine Wendung vom unmittelbar revolutionären zum monarchistisch-konstitutionellen Weg.

In einer solchen Zeit musste die Sozialdemokratie ihre Fahne des Protestes und der Warnung mit aller Energie, mit aller Schärfe entrollen. Das bedeutete aber Ablehnung der Beteiligung, Aufforderung des Volkes, diesem Beispiel zu folgen, Aufstellung der Losung eines Ansturms gegen die alte Macht, anstatt der Arbeit auf dem Boden einer durch diese Macht geschaffenen Institution. Die Begeisterung des ganzen Volkes für den bürgerlich-polizeilichen Fetisch der konstitutionellen „Monarchie" verlangte von der Sozialdemokratie, als der Partei des Proletariats, eine ebenso an das ganze Volk gerichtete „Bekundung" ihrer protestierenden und diesen Fetisch entlarvenden Auffassungen, verlangte schärfsten Kampf gegen die Verwirklichung jener Institutionen, die diesen Fetischismus verkörperten.

Das ist die volle geschichtliche Rechtfertigung nicht nur des Boykotts der Bulygin-Duma, der zu einem unmittelbaren Erfolg geführt hat, sondern auch des Boykotts der Witte-Duma, der scheinbar mit einem Misserfolg endete. Jetzt sehen wir, warum es nur ein scheinbarer Misserfolg war, warum die Sozialdemokratie an ihrem Protest gegen die konstitutionell-monarchistische Wendung unserer Revolution bis ans Ende festhalten musste. Diese Wendung führte in Wirklichkeit in eine Sackgasse. Die Illusionen der monarchistischen Verfassung erwiesen sich nur als Vorspiel oder Aushängeschild, nur als Verzierung, nur als Sand in die Augen zum Zwecke der Vorbereitung der Aufhebung dieser „Verfassung“ durch die alte Macht…

Wir sagten eben, dass die Sozialdemokratie an ihrem Protest gegen die Unterdrückung der Freiheit mit Hilfe der „Verfassung“ bis ans Ende festhalten musste. Was heißt dies „bis ans Ende“? Es heißt: solange die Einrichtung, gegen die die Sozialdemokratie gekämpft hat, nicht entgegen dem Willen der Sozialdemokratie zur Tatsache geworden ist, solange diese monarchistisch-konstitutionelle Wendung der russischen Revolution, die (auf eine gewisse Zeit hinaus) unvermeidlich einen Rückgang der Revolution, eine Niederlage der Revolution bedeuten musste, nicht trotz der Sozialdemokratie zur Tatsache geworden ist. Die Periode der Verfassungsillusionen war der Versuch zu einem Kompromiss. Wir haben dagegen aus aller Kraft gekämpft, wir mussten es tun. Wir mussten in die II. Duma gehen, mussten dem Kompromiss Rechnung tragen, nach dem einmal die Umstände uns diesen Kompromiss entgegen unserem Willen, trotz aller unserer Bemühungen, infolge der Niederlage unseres Kampfes aufgezwungen haben. Wie lange wir ihm Rechnung tragen sollen – das ist natürlich eine andere Frage.

Was folgt aus all diesem für den Boykott der III. Duma? Folgt daraus vielleicht, dass der Boykott, der zu Beginn der Periode der Verfassungsillusionen notwendig war, auch am Ende dieser Periode notwendig ist? Das wäre nur „Gedankenspielerei“ im Geiste der „analogischen Soziologie“, keine ernste Schlussfolgerung. Jenen Inhalt, den der Boykott zu Beginn der russischen Revolution gehabt hat, kann er heute nicht mehr haben. Weder kann man heute das Volk vor Verfassungsillusionen warnen noch kann man gegen das Einschwenken der Revolution in die monarchistisch-konstitutionelle Sackgasse kämpfen. Der ehemalige lebendige Geist des Boykotts ist dahin. Selbst wenn es zum Boykott kommen sollte, so wird er jedenfalls eine andere Bedeutung, wird er jedenfalls einen anderen politischen Inhalt haben.

Doch nicht genug damit. Die von uns analysierte geschichtliche Eigenart des Boykotts liefert uns ein Argument gegen den Boykott der III. Duma. In der Zeit der beginnenden konstitutionellen Wendung richtete sich die Aufmerksamkeit des ganzen. Volkes unvermeidlich auf die Duma. Durch den Boykott bekämpften wir und mussten wir diese Konzentrierung der Aufmerksamkeit auf eine Sackgasse, mussten wir eine Begeisterung bekämpfen, die eine Frucht der Unwissenheit, des niedrigen Entwicklungsniveaus, der Schwäche oder eigennütziger konterrevolutionärer Gesinnung war. Heute kann weder von einer allgemein-nationalen noch überhaupt von einer einigermaßen breiten Begeisterung für die Duma als solche oder für die III. Duma die Rede sein. Von diesem Standpunkt aus besteht kein Bedürfnis nach dem Boykott.

IV

Die Bedingungen für die Anwendbarkeit des Boykotts sind also in der objektiven Sachlage des gegebenen Moments zu suchen. Vergleicht man von diesem Standpunkt aus den Herbst 1907 und den Herbst 1905, so muss man zu dem Schlusse gelangen, dass wir keinen Anlass haben, jetzt den Boykott zu proklamieren. Sowohl hinsichtlich des Wechselverhältnisses zwischen dem direkten revolutionären Wege und dem konstitutionell-monarchistischen „Zickzack" als auch hinsichtlich des Massenaufschwunges und hinsichtlich der spezifischen Aufgabe des Kampfes gegen die Verfassungsillusionen unterscheidet sich die jetzige Sachlage aufs Schärfste von derjenigen, die vor zwei Jahren bestand.

Damals war die monarchistisch-konstitutionelle Wendung der Geschichte nichts weiter als eine Polizeiverheißung. Jetzt ist diese Wendung zur Tatsache geworden. Es wäre lächerliche Scheu vor der Wahrheit, wollte man diese Tatsache nicht offen anerkennen. Und es wäre falsch, von der Anerkennung dieser Tatsache die Behauptung abzuleiten, dass die russische Revolution abgeschlossen sei. Nein. Für diese letztere Schlussfolgerung fehlen noch die Unterlagen. Der Marxist ist verpflichtet, für den direkten revolutionären Entwicklungsweg zu kämpfen, wenn ein solcher Kampf von der objektiven Sachlage vorgeschrieben wird, aber dies bedeutet, wie gesagt, nicht, dass wir der bereits taktisch feststehenden zickzackartigen Wendung nicht Rechnung tragen müssen. Von dieser Seite hat der Gang der russischen Revolution schon ganz feste Gestaltung erhalten. Zu Beginn der Revolution sehen wir die Linie eines kurzen, aber ungewöhnlich umfassenden und schwindelerregend raschen Aufstiegs. Dann haben wir vor uns die Linie eines äußerst langsamen, aber steten Niedergangs seit dem Dezemberaufstand 1905. Zuerst eine Periode unmittelbaren revolutionären Massenkampfes, dann die Periode einer monarchistisch-konstitutionellen Wendung.

Hat das zu bedeuten, dass diese letzte Wendung eine endgültige ist? dass die Revolution abgeschlossen und die „konstitutionelle“ Periode eingetreten ist? dass man keinen neuen Aufschwung erwarten, einen solchen nicht vorbereiten soll? dass der republikanische Charakter unseres Programms über Bord zu werfen ist?

Keine Spur. Solche Schlussfolgerungen können bloß liberale Vulgärköpfe vom Schlage unserer Kadetten ziehen, die bereit sind, Knechtsdienste und Lakaientum mit den ersten besten Argumenten zu rechtfertigen. Nein, das bedeutet bloß, dass wir, bei restloser Verfechtung unseres ganzen Programms und aller unserer revolutionären Ansichten, die unmittelbaren Appelle der objektiven Sachlage des gegebenen Momentes anpassen müssen. Wir verkünden die Unvermeidlichkeit der Revolution, bereiten systematisch und unentwegt die Anhäufung von Zündstoff in jeder Hinsicht vor, hüten zu diesem Zweck sorgfältig die revolutionären Traditionen der besten Epoche unserer Revolution, pflegen sie und säubern sie von den liberalen Schmarotzern, verzichten aber zugleich nicht auf die Alltagsarbeit bei der monarchistisch-konstitutionellen Alltagswendung. Nicht mehr und nicht weniger. Einen neuen weitgehenden Aufschwung vorzubereiten sind wir verpflichtet, aber es hat gar keinen Sinn, mir nichts dir nichts mit der Losung des Boykotts hereinzuplatzen.

Der Boykott kann, wie bereits gesagt, in Russland gegenwärtig bloß als aktiver Boykott irgendeinen Sinn haben. Dies bedeutet nicht passive Wahlenthaltung, sondern Ignorierung der Wahlen zum Zweck des direkten Vorstoßes. Der Boykott kommt in diesem Sinne unvermeidlich einem Appell zur tatkräftigsten und entschlossensten Offensive gleich. Liegt nun im gegenwärtigen Moment ein solcher breiter und allgemeiner Aufschwung vor, ohne den ein derartiger Appell sinnlos wäre? Natürlich nicht.

Überhaupt, was die „Appelle" betrifft, so ist in dieser Hinsicht der Unterschied zwischen der jetzigen Sachlage und dem Herbst 1905 besonders auffallend. Damals hat es, wie schon erwähnt, das ganze vorhergehende Jahr hindurch keine Appelle gegeben, die die Masse mit Stillschweigen beantwortet hätte. Die Tatkraft des Massenvorstoßes ging den Appellen der Organisationen voran. Jetzt befinden wir uns in der Periode einer Revolutionspause, wo eine ganze Reihe von Appellen systematisch in den Massen keinen Widerhall fand. Das geschah mit dem Appell, die Wittesche Duma hinwegzufegen (Anfang 1906), mit dem Appell zum Aufstand nachdem Auseinanderjagen der I. Duma (Sommer 1906), mit dem Appell zum Kampfe als Antwort auf das Auseinanderjagen der II. Duma und auf den Staatsstreich vom 3. Juni 1907. Man nehme das anlässlich dieser letzten Geschehnisse herausgegebene Flugblatt unseres Zentralkomitees. Man findet in diesem Flugblatt den direkten Appell zum Kampfe in der Form, wie sie die lokalen Verhältnisse ermöglichen (Demonstrationen, Streiks, offener Kampf gegen die bewaffnete Macht des Absolutismus). Das war ein Appell in Worten. Die militärischen Aufstände im Juni 1907 in Kiew und in der Schwarzmeer-Flotte waren Appelle durch die Aktion. Weder der eine noch der andere Appell fand irgendeinen Massenanklang. Wenn die krassesten und unmittelbarsten Äußerungen des reaktionären Ansturms gegen die Revolution – das Auseinanderjagen von zwei Dumas und der Staatsstreich – zur gegebenen Zeit keinen Aufschwung auslösten, – wo ist da eine Grundlage zur unmittelbaren Wiederholung des Appells in Form der Proklamierung des Boykotts? Ist es denn nicht klar, dass die objektive Sachlage derart ist, dass die „Proklamierung" Gefahr läuft, ein leerer Schrei zu bleiben? Wenn der Kampf vor sich geht, sich ausdehnt, wächst, von allen Seiten anrückt, dann ist eine „Proklamierung" gerechtfertigt und notwendig, dann ist es Pflicht und Schuldigkeit des revolutionären Proletariats, den Schlachtruf auszustoßen. Doch erfinden kann man diesen Kampf nicht, und man kann ihn auch nicht durch den Schlachtruf allein auslösen. Und wenn eine ganze Reihe Kampfappelle, die wir aus unmittelbaren Anlässen erprobten, sich als resultatlos erwiesen hat, so müssen wir natürlicherweise ernste Gründe zur „Proklamierung" einer Losung haben, die außerhalb der Bedingungen, die die Kampfappelle realisierbar machen, unsinnig ist.

Wer das sozialdemokratische Proletariat von der Richtigkeit der Boykottlosung überzeugen will, der darf sich nicht vom bloßen Klang der Worte hinreißen lassen, die seinerzeit eine große und ruhmreiche revolutionäre Rolle gespielt haben. Der muss sich in die objektiven Bedingungen der Anwendbarkeit einer solchen Losung hineindenken und muss begreifen, dass die Losung ausgeben bereits so viel heißt, wie indirekt das Vorhandensein der Bedingungen für einen breiten, allgemeinen. Marken, raschen revolutionären Aufschwung voraussetzen. Aber in solchen Perioden, wie der unsrigen, in Perioden einer Atempause der Revolution, darf man eine solche Bedingung keinesfalls indirekt voraussetzen. Man muss sie sich selber und der ganzen Arbeiterklasse direkt und deutlich klar und begreiflich machen. Sonst riskiert man, in die Lage eines Menschen zu geraten, der große Worte gebraucht, ohne ihren wahren Sinn zu verstehen oder ohne den Mut zu haben, direkt und unumwunden die Dinge bei ihrem Namen zu nennen.

V

Der Boykott gehört zu den besten revolutionären Traditionen der ereignisreichsten und heldenhaftesten Periode der russischen Revolution. Wir sagten oben, dass eine unserer Aufgaben darin besteht, diese Traditionen überhaupt sorgfältig zu hüten, sie zu pflegen und von den liberalen (und opportunistischen) Schmarotzern zu säubern. Es erscheint geboten, ein wenig bei der Analyse dieser Aufgabe zu verweilen, um ihren Inhalt richtig zu bestimmen und die leicht möglichen Missdeutungen und Missverständnisse zu beseitigen.

Der Marxismus unterscheidet sich von allen anderen sozialistischen Theorien durch eine wunderbare Verbindung absoluter wissenschaftlicher Nüchternheit in der Analyse der objektiven Sachlage und des objektiven Entwicklungsganges mit der entschiedensten Anerkennung der Bedeutung der revolutionären Energie, der revolutionären Schöpferkraft, der revolutionären Initiative der Massen und natürlich auch der einzelnen Personen, Gruppen, Organisationen und Parteien, die es verstehen, die Verbindung mit den einen oder andern Klassen aufzuspüren und zu realisieren. Die hohe Einschätzung der revolutionären Perioden für die Entwicklung der Menschheit ergibt sich aus der Gesamtheit der historischen Auffassungen von Marx: gerade in solchen Perioden werden jene zahlreichen Widersprüche gelöst, die sich in den Perioden der sogenannten friedlichen Entwicklung langsam anhäufen. Gerade in solchen Perioden offenbart sich mit größter Stärke die unmittelbare Rolle der verschiedenen Klassen in der Bestimmung der Formen des sozialen Lebens, entstehen die Grundlagen des politischen „Überbaues", der sich nachher auf der Basis der erneuerten Produktionsverhältnisse noch lange hält. Zum Unterschied von den Theoretikern der liberalen Bourgeoisie hat Marx in diesen Perioden nicht Abweichungen vom „normalen" Wege, nicht Erscheinungen einer „sozialen Krankheit", nicht traurige Resultate von Extremen und Irrtümern, sondern die lebensfähigsten, wichtigsten, wesentlichsten, entscheidendsten Momente in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft gesehen. In der Tätigkeit von Marx und Engels selbst hebt sich die Periode ihrer Beteiligung am revolutionären Massenkampf 1848/1849 als Zentralpunkt ab. Von diesem Punkte gehen sie aus bei der Beurteilung der Geschicke der Arbeiterbewegung und der Demokratie der verschiedenen Länder. Zu diesem Punkt kehren sie stets zurück, um die innere Wesenheit der verschiedenen Klassen und ihrer Tendenzen in klarster und reinster Form zu bestimmen. Vom Standpunkt der damaligen revolutionären Epoche beurteilen sie stets die späteren, weniger bedeutenden politischen Gebilde, Organisationen, politischen Aufgaben und politischen Konflikte. Die geistigen Führer des Liberalismus, wie etwa Sombart, hassen nicht umsonst diesen Zug in der Tätigkeit und den literarischen Werken von Marx von ganzem Herzen und schreiben ihn dem „Emigrantengrimm" zu.4 Das ist ja ganz im Sinne der Wanzen der polizeilich-bürgerlichen Universitätswissenschaft: der persönlichen Verbitterung, den persönlichen Kalamitäten des Emigrantendaseins das zuzuschreiben was bei Marx und Engels den unlösbarsten Bestandteil ihrer ganzen revolutionären Weltanschauung ausmacht!

In einem seiner Briefe, ich glaube an Kugelmann, macht Marx nebenbei eine außerordentlich charakteristische und für unsere Frage besonders interessante Bemerkung. Er bemerkt dass der Reaktion in Deutschland gelungen sei, die Erinnerungen und die Traditionen der Revolutionszeit von1848 aus dem Volksbewusstsein fast auszumerzen.5 Hier werden die Aufgaben der Reaktion und die Aufgaben der Partei des Proletariats in Bezug auf die revolutionären Traditionen des betreffenden Landes einander plastisch gegenübergestellt. Aufgabe der Reaktion ist es, diese Traditionen auszumerzen,die Revolution als die „Elementarkraft des Wahnsinns" hinzustellen, – wie Struve den deutschen Ausdruck „das tolle Jahr"6 übersetzt –, das tolle Jahr" ist ein Ausdruck der deutschen polizeilich-bürgerlichen Geschichtsschreiber, mehr sogar: der deutschen professoral-universitatsmäßigen Geschichtsschreibung über das Jahr 1848) Die Reaktion stellt sich die Aufgabe, die Bevölkerung zu zwingen jene Formen des Kampfes, jene Formen der Organisation, jene Ideen, jene Losungen zu vergessen, die die revolutionäre Epoche in solcher Fülle und Mannigfaltigkeit geboren hat. Ebenso wie die bornierten Lobredner des englischen Spießertums, die Webbs bemüht sind7, den Chartismus,die revolutionäre Epoche der englischen Arbeiterbewegung, als einfache Kinderei hinzustellen als „Jugendsünde", als Naivität, die keine ernsthafte Beachtung verdient, als zufällige und abnorme Abweichung, – ebenso malträtieren die deutschen bürgerlichen Geschichtsschreiber das Jahr 1848 in Deutschland. Genau so ist die Stellung der Reaktion zur Großen Französischen Revolution, die bis auf den heutigen Tag die Lebendigkeit und Kraft ihres Einflusses auf die Menschheit dadurch beweist, dass sie bis jetzt noch den wütendsten Hass weckt. Ebenso wetteifern auch unsere Helden der Konterrevolution, besonders jene, die gestern noch „Demokraten“ waren, wie Struve, Miljukow, Kiesewetter und „tutti quanti"8 miteinander in der niederträchtigen Begeiferung der revolutionären Traditionen der russischen Revolution. Noch sind keine zwei Jahre verflossen, seitdem der unmittelbare Massenkampf des Proletariats jenes Stückchen Freiheit errungen hat, von dem die liberalen Knechte des alten Regimes entzückt sind, und schon ist in unserer Publizistik eine gewaltige Strömung entstanden, die sich liberal (!!) nennt, in der Kadettenpresse gepflegt wird, und sich ausschließlich der Aufgabe widmet, unsere Revolution, die revolutionären Kampfmethoden, die revolutionären Parolen, die revolutionären Traditionen als etwas Gemeines, Elementares, Naives, Spontanes, Tolles usw. ... ja sogar Verbrecherisches hinzustellen ... von Miljukow bis Kamyschanski il n'y a qu'un pas!9 Die Erfolge der Reaktion dagegen, die das Volk zuerst aus den Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten in die Dumas der Dubassow und Stolypin getrieben hat und es jetzt in die oktobristische Duma treibt, diese Erfolge erscheinen den Helden des russischen Liberalismus als „Prozess des Wachstums des konstitutionellen Bewusstseins in Russland".

Der russischen Sozialdemokratie fällt unzweifelhaft die Pflicht zu, unsere Revolution sorgfältigst und allseitig zu erforschen, in den Massen die Kenntnis ihrer Kampfformen, Organisationsformen usw. zu verbreiten, die revolutionären Traditionen im Volke zu festigen, den Massen die Überzeugung beizubringen, dass man einzig und allein durch revolutionären Kampf einigermaßen ernsthafte und einigermaßen solide Verbesserungen erringen kann, sowie die ganze Niedertracht jener selbstzufriedenen Liberalen unentwegt zu enthüllen, die die gesellschaftliche Atmosphäre mit den Ausdünstungen der „konstitutionellen" Liebedienerei, Verräterei und Kriecherei verpesten. Ein Tag des Oktoberstreiks oder des Dezemberaufstands bedeutete und bedeutet in der Geschichte des Befreiungskampfes hundertmal mehr als Monate lakaienhaften Geredes der Kadetten in der Duma über den unverantwortlichen Monarchen und das monarchistisch-konstitutionelle Regime. Wir müssen dafür sorgen – außer uns wird niemand dafür sorgen –, dass das Volk diese lebenserfüllten, inhaltsreichen und in ihrer Bedeutung und ihren Folgen großen Tage viel genauer, ausführlicher und gründlicher kenne jene Monate „konstitutioneller" Stickluft und des Wohlergehens der Balalaikin und Moltschalin, von denen dank der wohlgeneigten Nachsicht Stolypins und seines Zensur-und Gendarmeriegefolges die Organe unserer parteiliberalen und parteilos-„demokratischen" (pfui Teufel!) Presse so eifrig posaunen.

Gewiss, die Sympathien für den Boykott werden bei vielen gerade durch dieses durchaus ehrenwerte Bestreben der Revolutionäre erzeugt, die Tradition der besten revolutionären Vergangenheit aufrecht zu halten, den trostlosen Sumpf des jetzigen grauen Alltags mit einem Funken mutigen, offenen, entschlossenen Kampfes zu beleben. Aber gerade weil uns eine sorgfältige Behandlung der revolutionären Traditionen am Herzen liegt, müssen wir entschieden gegen die Auffassung protestieren, man könnte durch Anwendung einer der Losungen einer speziellen historischen Epoche das Wiedererstehen der wesentlichen Bedingungen dieser Epoche hervorrufen. Die Wahrung der revolutionären Traditionen, die Fähigkeit, sie auszunutzen für eine ständige Propaganda und Agitation, für die Aufklärung der Massen über die Bedingungen des unmittelbaren und offensiven Kampfes gegen die alte Gesellschaftsordnung, ist etwas ganz anderes als die Wiederholung irgend einer Losung, losgelöst von der Gesamtheit der Bedingungen, die sie erzeugt und ihren Erfolg gesichert haben, und als ihre Anwendung auf Verhältnisse, die wesentlich anders sind.

Derselbe Marx, der die revolutionären Traditionen so hoch schätzte und schonungslos die renegatenhafte und philiströse Stellung zu ihnen geißelte, forderte zugleich von den Revolutionären die Fähigkeit, zu denken, die Fähigkeit, die Bedingungen der Anwendbarkeit der alten Kampfmethoden zu analysieren und nicht einfach die bekannten Losungen zu wiederholen. Die „nationalen" Traditionen des Jahres 1792 in Frankreich werden wohl für immer ein Musterbild bestimmter revolutionärer Kampfmethoden bleiben, aber dies hinderte Marx nicht, 1870, in der berühmten „Adresse" der Internationale, das französische Proletariat vor einer falschen Übertragung dieser Traditionen auf die Verhältnisse einer anderen Epoche zu warnen.10

So ist es auch bei uns. Wir müssen die Bedingungen der Anwendbarkeit des Boykotts erforschen, wir müssen den Massen die Überzeugung beibringen, dass der Boykott eine durchaus gerechtfertigte und mitunter unumgängliche Methode in Momenten des revolutionären Aufschwungs ist (was auch die Pedanten reden mögen, die den Namen Marx' missbrauchen). Ob aber dieser Aufschwung, diese Grundbedingung für die Proklamierung des Boykotts vorliegt, diese Frage muss man selbständig stellen und auf Grund einer ernsthaften Untersuchung der Tatsachen lösen können. Es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, den Moment eines solchen Aufschwungs vorzubereiten, insofern dies in unseren Kräften liegt, und auf einen Boykott im entsprechenden Moment nicht im Voraus zu verzichten, aber die Losung des Boykotts überhaupt für jede, ob gute oder schlechte Vertretungsinstitution für anwendbar zu halten, wäre unbedingt ein Fehler.

Man betrachte die Motivierung, mit der in den „Tagen der Freiheit" der Boykott verfochten und unterstützt wurde, und man wird sofort die Unmöglichkeit der einfachen Übertragung dieser Argumente auf die Verhältnisse der jetzigen Lage der Dinge einsehen.

Die Wahlbeteiligung drücke auf die Stimmung, trete eine Position dem Feinde ab, verwirre das revolutionäre Volk, erleichtere die Verständigung des Zarismus mit der konterrevolutionären Bourgeoisie usw, sagten wir, als wir 1905 und Anfang 1906 den Boykott verfochten. Was ist die grundlegende Voraussetzung dieser Argumente, die nicht immer ausgesprochen, die aber immer vorausgesetzt wurde als etwas zu jener Zeit Selbstverständliches? Diese Voraussetzung ist die reiche revolutionäre Energie der Massen, die unmittelbare Auswege suchte und auch fand, abseits von allen „konstitutionellen" Kanälen. Diese Voraussetzung ist die ununterbrochene Offensive der Revolution gegen die Reaktion. Es wäre verbrecherisch gewesen, sie durch die Besetzung und Verteidigung einer Position zu schwächen, die uns vom Feinde absichtlich überlassen wurde, um den allgemeinen Vorstoß zu schwächen. Man versuche, diese Argumente außerhalb dieser grundlegenden Voraussetzung zu wiederholen, und man wird sofort den falschen Ton in dieser ganzen „Musik", die Unrichtigkeit des Grundtons fühlen.

Aussichtslos wäre auch der Versuch, den Boykott mit dem Unterschied zwischen der II. und III. Duma rechtfertigen zu wollen. Den Unterschied zwischen den Kadetten (die in der II. Duma das Volk endgültig den Schwarzhunderten auslieferten) und den Oktobristen für ernsthaft und grundsätzlich zu halten, der berüchtigten „Verfassung", die durch den Staatsstreich vom 3. Juni zunichte gemacht wurde, eine einigermaßen reale Bedeutung beizumessen, – all das entspricht überhaupt viel mehr dem Geiste der Vulgärdemokratie als dem Geiste der revolutionären Sozialdemokratie. Wir sagten, behaupteten und wiederholten stets, dass die „Konstitution" der I. und der II. Duma bloß ein Trugbild, dass das Geschwätz der Kadetten nur ein Ablenkungsmanöver zur Bemäntelung ihrer oktobristischen Natur, dass die Duma ein absolut unbrauchbares Mittel zur Befriedigung der Forderungen des Proletariats und der Bauernschaft sei. Für uns ist der 3. Juni 1907 das natürliche und unvermeidliche Resultat der Dezemberniederlage von 1905. Wir waren niemals „entzückt" von der Herrlichkeit der „Dumakonstitution", und es kann uns auch nicht besonders enttäuschen, dass man von der geschminkten und mit Roditschewschen Phrasen übergossenen Reaktion zur nackten, offenen, groben Reaktion übergeht. Diese letztere ist vielleicht sogar ein viel besseres Mittel zur Ernüchterung aller knechtischen liberalen Hohlköpfe oder der Bevölkerungsgruppen, die sich von ihnen haben irreführen lassen ...

Man vergleiche die Stockholmer menschewistische und die Londoner bolschewistische Resolution über die Reichsduma. Man wird sehen, dass die erste hochtrabend, phrasenhaft ist, voll pompöser Worte über die Bedeutung der Duma, aufgeblasen vom Bewusstsein der Erhabenheit der Arbeit in der Duma. Die zweite ist einfach, trocken, nüchtern, bescheiden. Die erste Resolution ist erfüllt von dem Geiste kleinbürgerlichen Triumphes über die Vermählung der Sozialdemokratie mit dem Konstitutionalismus („die neue Regierung, aus dem Schoße des Volkes" usw. usw. im Geiste dieser Amtslüge). Die zweite kann ungefähr so wiedergegeben werden: wenn die verdammte Konterrevolution uns in diesen verfluchten Saustall getrieben hat, so wollen wir auch dort zu Nutz und Frommen der Revolution arbeiten, ohne zu jammern, aber auch ohne zu prahlen.

Als die Menschewiki, noch in der Periode des unmittelbaren revolutionären Kampfes, die Duma gegen den Boykott verteidigten, da garantierten sie dem Volke sozusagen, dass die Duma eine Art Revolutionswerkzeug sein werde. Und sie fielen mit dieser Garantie glänzend herein. Wir Bolschewiki aber, wenn wir etwas garantierten, so doch nur, dass die Duma eine Ausgeburt der Konterrevolution und dass von ihr nichts einigermaßen Gutes zu erwarten sei. Unser Standpunkt wurde bisher ausgezeichnet bestätigt, und man kann garantieren, dass er durch die weiteren Ereignisse weiter bestätigt werden wird. Ohne „Korrektur" und Wiederholung der Strategie von Oktober bis Dezember auf Grund neuer Tatsachen wird es in Russlands Gauen keine Freiheit geben.

Deshalb, wenn man mir sagt: die III. Duma kann man nicht ausnutzen wie die II., man kann den Massen nicht die Notwendigkeit der Beteiligung an ihr klarmachen, so habe ich Lust, zu antworten: wenn unter „Ausnutzung" etwas menschewistisch-Pathetisches verstanden wird, etwa Werkzeug der Revolution usw., dann natürlich nicht. Aber auch die ersten zwei Dumas waren ja in Wirklichkeit doch nur Stufen zur oktobristischen Duma, und doch nutzten wir sie aus für das einfache und bescheideneD Ziel (Propaganda und Agitation, Kritik und Aufklärung der Massen über die Geschehnisse), dem zuliebe wir stets die ärgsten Vertretungsinstitutionen auszunützen verstehen. Die Rede in der Duma ruft keine „Revolution" hervor und die Propaganda im Zusammenhang mit der Duma weist keine besonderen Vorzüge auf. aber Nutzen kann die Sozialdemokratie aus der einen wie aus der anderen ebenso ziehen und mitunter sogar noch mehr als aus manch einer gedruckten oder in einer sonstigen Versammlung gehaltenen Rede.

Unsere Beteiligung an der oktobristischen Duma müssen wir den Massen ebenso einfach erklären. Infolge der Niederlage im. Dezember 1905 und des Scheiterns der Versuche der Jahre 1906–1907, diese Niederlage zu „korrigieren", hat uns die Reaktion unvermeidlicherweise in immer schlimmere quasi-konstitutionelle Institutionen getrieben und wird uns ständig weiter dorthin treiben. Wir werden stets und überall unsere Überzeugung wiederholen, dass nichts Gutes zu erwarten ist, solange das alte Regime sich behauptet, solange es nicht mit der Wurzel ausgerottet ist. Wir wollen die Bedingungen des neuen Aufstiegs vorbereiten, aber bis er eintritt und damit er eintrete, heißt es, beharrlicher arbeiten und nicht Losungen ausgeben, die nur unter den Verhältnissen des Aufstiegs Sinn haben.

Ebenso unrichtig wäre es, den Boykott als taktische Linie zu betrachten, die das Proletariat und einen Teil der revolutionären bürgerlichen Demokratie dem Liberalismus und der Reaktion entgegenstellt. Der Boykott ist keine taktische Linie, sondern ein besonderes Mittel des Kampfes, das unter besonderen Umständen anwendbar ist. Bolschewismus und „Boykottismus" gleichzusetzen, wäre ebenso falsch, als wollte man Bolschewismus und „Kampfaktivismus" gleichsetzen. Der Unterschied zwischen der taktischen Linie der Bolschewiki und der der Menschewiki ist bereits durchaus klar zutage getreten und hat seinen Ausdruck gefunden in den prinzipiell verschiedenen Resolutionen im Frühjahr 1905 auf dem bolschewistischen 3. Parteitag in London und der menschewistischen Konferenz in Genf. Weder von Boykott noch von „Kampfaktivismus" war und konnte damals die Rede sein. Sowohl bei den Wahlen zur II. Duma, als wir keine Boykottisten waren, wie auch in der II. Duma war unsere taktische Linie ganz und gar von der menschewistischen verschieden, wie alle Welt weiß. Die taktischen Linien gehen bei allen Methoden und Mitteln des Kampfes, auf jedem Gebiete des Kampfes auseinander, ohne jedoch irgendwelche spezielle, dieser oder jener Linie eigentümliche Formen des Kampfes zu erzeugen. Wollte man den Boykott der III. Duma rechtfertigen durch das Fiasko der an die erste oder zweite Duma geknüpften revolutionären Erwartungen, durch das Fiasko der „gesetzlichen",„starken", „festen" und „wahren" Verfassung, oder würde er dadurch ausgelöst, so wäre das Menschewismus schlimmster Sorte.

VI

Die Betrachtung der stärksten und allein marxistischen Beweisgründe für den Boykott haben wir auf den Schluss unserer Ausführungen verschoben. Der aktive Boykott hat keinen Sinn außerhalb eines breiten revolutionären Aufschwungs. Mag sein. Doch ein breiter Aufschwung entwickelt sich aus einem minder breiten. Anzeichen eines gewissen Aufschwungs sind vorhanden. Wir müssen die Boykottlosung aufstellen, da diese Losung den beginnenden Aufschwung unterstützt, entwickelt und erweitert.

Dies ist, meiner Auffassung nach, der Hauptgedankengang, der den Boykottsympathien sozialdemokratischer Kreise mehr oder weniger deutlich zugrunde liegt. Und hierbei gehen die Genossen, die der unmittelbaren proletarischen Arbeit am nächsten stehen, nicht von einer nach bestimmter Schablone „aufgebauten" Argumentation, sondern von einer bestimmten Summe von Eindrücken aus, die sie aus ihrer Berührung mit den Arbeitermassen empfangen.

Eine der wenigen Fragen, in denen es, wie es scheint, zwischen den beiden sozialdemokratischen Fraktionen keine Differenzen gibt oder bisher nicht gegeben hat, ist die Frage nach der Ursache der längeren Ruhepause in der Entwicklung unserer Revolution. „Das Proletariat hat sich nicht erholt" – das ist diese Ursache. Und in der Tat, das Proletariat allein hat fast die ganzen Oktober-und Dezemberkämpfe zu tragen gehabt. Für die Gesamtnation hat das Proletariat allein systematisch, organisiert, unaufhörlich gekämpft. Kein Wunder daher, dass in dem Lande mit dem (im Vergleich mit Europa) niedrigsten Prozentsatz proletarischer Bevölkerung das Proletariat von einem solchen Kampf aufs Äußerste erschöpft werden musste. Überdies stürzten sich die vereinten Kräfte der bürgerlichen und der Regierungsreaktion nach dem Dezember 1905 und seitdem unaufhörlich gerade auf das Proletariat. Polizeiliche Verfolgungen und Hinrichtungen dezimierten das Proletariat anderthalb Jahre hindurch, die systematischen Aussperrungen aber, von der „zu Strafzwecken" erfolgten Schließung der Staatsbetriebe an bis zu den Verschwörungen der Kapitalisten gegen die Arbeiter, steigerten die Not der Arbeitermassen ins Unerhörte. Und nun, sagen einige sozialdemokratische Parteiarbeiter, sind unter den Massen Anzeichen einer steigenden Stimmung, eines Sammelns der Kräfte des Proletariats zu bemerken. Dieser etwas unbestimmte und nicht ganz greifbare Eindruck wird durch ein stärkeres Argument ergänzt: in einigen Industriezweigen ist zweifellos eine Belebung des Geschäftsganges zu konstatieren. Die gesteigerte Nachfrage nach Arbeitskräften muss eine Verstärkung der Streikbewegung zur Folge haben. Die Arbeiter werden versuchen müssen, wenigstens einen Teil der gewaltigen Verluste wieder hereinzubringen, die sie in der Zeit der Repressalien und Aussperrungen erlitten haben. Das dritte und stärkste Argument endlich ist der Hinweis nicht auf eine problematische und überhaupt zu erwartende Streikbewegung, sondern auf einen großen, von den Arbeiterorganisationen bereits angesagten Streik. Bereits Anfang 1907 erörterten Vertreter von 10.000 Textilarbeitern ihre Lage und fassten Maßnahmen zur Verstärkung der Gewerkschaften dieses Industriezweiges ins Auge. Zum zweiten Mal versammelten sich bereits Vertreter von 20.000 Arbeitern und beschlossen, im Juli 1907 einen allgemeinen Streik der Textilarbeiter zu erklären. Diese Bewegung kann unmittelbar bis an die 400.000 Arbeiter erfassen. Ihr Ausgangspunkt ist das Moskauer Gebiet, d. h. das größte Zentrum der Arbeiterbewegung in Russland, das größte Handels- und Industriezentrum. Gerade Moskau und nur in Moskau allein kann die Massenbewegung der Arbeiterschaft am ehestenden Charakter einer breiten Volksbewegung von entscheidender politischer Bedeutung erlangen. Die Textilarbeiter sind aber der am schlechtesten bezahlte, geistig am wenigsten fortgeschrittene Teil der Arbeiterklasse, der sich an den vorhergehenden Bewegungen am wenigsten beteiligt hat und dessen Zusammenhang mit der Bauernschaft am engsten ist. Dass die Initiative von solchen Arbeitern ausgeht, kann als Beweis dafür gelten, dass die Bewegung unvergleichlich breitere proletarische Schichten erfassen wird als bisher. Der Zusammenhang aber zwischen Streikbewegung und revolutionärem Aufschwung der Massen ist im Laufe der russischen Revolution bereits mehr als einmal zu Tage getreten.

Größte Aufmerksamkeit und die größten Anstrengungen auf diese Bewegung zu konzentrieren, ist direkte Pflicht der Sozialdemokratie. Im Vergleich zu den Wahlen zur oktobristischen Duma muss der gerade auf diesem Gebiet zu leistenden Arbeit entschieden der Vorzug gegeben werden. In den Massen muss die Überzeugung geweckt werden von der Notwendigkeit, diese Streikbewegung in einen allgemeinen und breiten Ansturm gegen den Absolutismus zu verwandeln. Die Boykottlosung bedeutet eben nichts anderes als die Verlegung des Mittelpunktes der Aufmerksamkeit von der Duma auf den unmittelbaren Massenkampf. Die Boykottlosung bedeutet eben Durchtränkung der neuen Bewegung mit politischem und revolutionärem Inhalt.

Dies ist ungefähr der Gedankengang, der manche Sozialdemokraten zu der Überzeugung bringt, die III. Duma müsse boykottiert werden. Diese Argumentation für den Boykott ist zweifellos eine marxistische und hat nichts zu tun mit der bloßen Wiederholung einer aus dem Zusammenhang besonderer historischer Verhältnisse herausgerissenen Losung.

Doch wie stark diese Argumentation auch ist, so genügt sie meines Erachtens trotzdem nicht, um uns zur unverzüglichen Annahme der Boykottlosung zu bewegen. Diese Argumentation betont einen Punkt, der von einem russischen Sozialdemokraten, der sich über die Lehren unserer Revolution Gedanken gemacht hat, überhaupt nicht angezweifelt werden kann, nämlich: dass wir nicht ein für allemal auf den Boykott verzichten dürfen, dass wir bereit sein müssen, diese Losung im passenden Augenblick aufzustellen, dass unsere Art der Behandlung der Boykottfrage nichts zu tun hat mit der liberalen philiströs-beschränkten und jedes revolutionären Inhalts baren Fragestellung: sollen wir uns enthalten, sollen wir uns nicht enthalten?E

Nehmen wir alles, was die sozialdemokratischen Boykott-Verfechter über die veränderte Stimmung der Arbeiter, über die Belebung der Industrie und den im Juli bevorstehenden Textilarbeiterstreik sagen, als bewiesen und der Wahrheit entsprechend an.

Was folgt aus all dem? Wir haben den Beginn eines gewissen Teilaufschwungs von revolutionärer Bedeutung vor uns.F Sind wir verpflichtet, alles daranzusetzen, um ihn zu unterstützen und zu entfalten, in dem Bestreben, ihn in einen allgemeinen revolutionären Aufschwung und dann auch in eine offensive Bewegung zu verwandeln? Unbedingt. Für Sozialdemokraten (ausgenommen vielleicht solche, die im „Towarischtsch" schreiben) kann es keine zwei Meinungen darüber geben. Ist aber in diesem Augenblick, beim Beginn dieses Teilaufschwungs, vor seiner Verwandlung in einen allgemeinen Aufschwung die Boykottlosung für die Entwicklung der Bewegung notwendig? Kann sie die Entwicklung der heutigen Bewegung fördern? Das ist eine andere Frage, und diese Frage ist meiner Auffassung nach negativ zu beantworten.

Man kann und muss den Teilaufschwung durch direkte und unmittelbare Argumente und Losungen, ohne Bezugnahme auf die III. Duma zu einem allgemeinen entwickeln. Der ganze Verlauf der Ereignisse nach dem Dezember 1905 ist von A bis Z eine Bestätigung der sozialdemokratischen Auffassung von der Rolle der monarchistischen Konstitution, von der Notwendigkeit des unmittelbaren Kampfes. Bürger! werden wir sagen, wenn ihr nicht wollt, dass es mit der Sache der Demokratie in Russland ebenso wie nach dem Dezember 1905, während der Hegemonie der Herren Kadetten in der demokratischen Bewegung, unaufhaltsam und immer rascher und rascher bergab gehe, wenn ihr das nicht wollt, so unterstützt den beginnenden Aufschwung der Arbeiterbewegung, unterstützt den unmittelbaren Massenkampf.

Außerhalb dieses Kampfes gibt es keine, kann es keine Garantie für die Freiheit in Russland geben.

Eine Agitation dieser Art wird zweifellos eine konsequente revolutionär-sozialdemokratische Agitation sein. Muss man da noch unbedingt hinzufügen: glaubt nicht an die III. Duma und schaut auf uns Sozialdemokraten, die sie aus Protest boykottieren!?

Eine derartige Hinzufügung ist unter den Verhältnissen unserer Zeit nicht nur überflüssig, sondern klingt sogar sonderbar, fast wie Hohn. An die III. Duma glaubt sowieso niemand, d. h. in den Bevölkerungsschichten, die die demokratische Bewegung nähren können, gibt es und kann es jene Begeisterung für die III. Duma als Verfassungseinrichtung nicht geben, wie es sie für die I. Duma, für die ersten Versuche der Schaffung von Verfassungsinstitutionen in Russland überhaupt zweifellos gegeben hat.

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit breiter Bevölkerungskreise stand 1905 und Anfang 1906 die erste, wenn auch auf Grund einer monarchistischen Verfassung aufgebaute Volksvertretung. Das ist Tatsache. Dagegen mussten die Sozialdemokraten kämpfen und aufs anschaulichste demonstrieren.

Jetzt liegen die Dinge anders. Nicht die Begeisterung für das erste „Parlament" ist das charakteristische Merkmal der Lage, nicht der Glaube an die Duma, sondern der Unglaube an den Aufschwung.

Wenn wir unter solchen Umständen die Boykottlosung vorzeitig aufstellen, so verstärken wir die Bewegung in keiner Weise, paralysieren keineswegs die wirklichen Hindernisse, die ihr entgegenstehen. Noch mehr: wir riskieren sogar dadurch, unsere Agitation abzuschwächen, denn der Boykott ist eine Losung, die einen bereits deutlichen Aufschwung begleitet, das ganze Elend ist aber heute, dass breite Bevölkerungskreise nicht an den Aufschwung glauben, seine Kraft nicht sehen.

Zuerst muss man dafür sorgen, dass diese Kraft durch Tatsachen bewiesen werde, dann werden wir immer noch Zeit haben, eine Losung aufzustellen, die diese Kraft indirekt zum Ausdruck bringt. Und es ist noch eine Frage, ob es für eine revolutionäre Bewegung von offensivem Charakter einer besonderen Losung bedürfen wird, die die Aufmerksamkeit von ... der III. Duma ablenkt. Möglicherweise nicht. Um etwas Bedeutsames zu umgehen, das wirklich imstande ist, eine unerfahrene Menge, die noch keine Parlamente gesehen hat, zu begeistern, mag es notwendig sein, das zu boykottieren, was umgangen werden soll. Aber um eine Institution zu umgehen, die gänzlich unfähig ist, die heutige demokratische oder halb demokratische Menge zu begeistern, braucht man gar nicht unbedingt den Boykott zu proklamieren. Nicht um den Boykott handelt es sich jetzt, sondern um direkte und unmittelbare Bemühungen zur Verwandlung des Teilaufschwunges in einen allgemeinen, zur Verwandlung einer gewerkschaftlichen Bewegung in eine revolutionäre, einer Abwehr der Aussperrungen in eine Offensive gegen die Reaktion.

VII

Fassen wir zusammen: Die Boykottlosung ist aus einer besonderen historischen Periode heraus geboren. 1905 und Anfang 1906 stellte die objektive Situation die kämpfenden sozialen Kräfte vor die Wahl des nächsten Weges: unmittelbarer revolutionärer Weg oder monarchistisch-konstitutionelle Wendung. Den Inhalt der Boykottagitation bildete dabei in der Hauptsache der Kampf gegen die Verfassungsillusionen. Bedingung für den Erfolg des Boykotts war der breite, allgemeine, rasche und mächtige revolutionäre Aufschwung.

Nach allen diesen Richtungen hin verlangt die Lage der Dinge im Herbst 1907 keineswegs eine solche Losung, und sie vermag sie nicht zu rechtfertigen.

Indem wir unsere alltägliche Arbeit zur Vorbereitung der Wahlen fortsetzen und selbst auf die Beteiligung an den reaktionärsten Vertretungskörperschaften nicht von vornherein verzichten, müssen wir unsere ganze Propaganda und Agitation darauf richten, das Volk über den Zusammenhang zwischen der Niederlage im Dezember 1905 einerseits, und dem ganzen darauffolgenden Niedergang der Freiheit und der Verunglimpfung der Verfassung andererseits aufzuklären. Wir müssen den Massen die feste Überzeugung einprägen, dass ohne unmittelbaren Massenkampf eine solche Verunglimpfung unvermeidlich fortgesetzt und gesteigert werden wird.

Ohne im Voraus auf die Anwendung der Boykottlosung in Augenblicken des Aufschwungs zu verzichten, falls ein ernstes Bedürfnis nach einer solchen Losung entsteht, müssen wir gegenwärtig unsere ganzen Kräfte darauf richten, mit Hilfe einer direkten und unmittelbaren Einwirkung den einen oder anderen Aufschwung der Arbeiterbewegung in eine allgemeine, breite, revolutionäre und offensive Bewegung gegen die gesamte Reaktion, gegen ihre Grundpfeiler zu verwandeln.

A Hier der Text der Resolution:

In Erwägung: 1. dass das neue Wahlgesetz, auf Grund dessen die III. Reichsduma einberufen wird, den werktätigen Massen selbst das bescheidene Wahlrecht raubt, das sie um den Preis so großer Opfer erkauft und bisher besessen haben; 2. dass dieses Gesetz eine offenkundige und gröbliche Fälschung des Volkswillens zugunsten der reaktionärsten und privilegierten Bevölkerungsschichten ist; 3. dass die III. Duma sowohl ihrem Wahlmodus als auch ihrer Zusammensetzung nach die Frucht eines reaktionären Staatsstreiches sein wird; 4. dass die Regierung die Beteiligung der Volksmassen an den Dumawahlen ausnützen wird, um dieser Beteiligung die Bedeutung einer Sanktionierung des Staatsstreiches durch das Volk beizulegen, – beschließt der 4. Delegiertenkongress des Allrussischen Verbandes der Lehrer und Volksbildner: 1. jegliche Beziehung zur III. Duma und ihren Organen abzulehnen; 2. sich als Organisation weder direkt noch indirekt an den Wahlen zur III. Duma zu beteiligen; 3. als Organisation die Auffassung über die III. Duma und die Wahlen zu ihr zu verbreiten, die in der vorliegenden Resolution zum Ausdruck gebracht ist."

1 Die umfassendste Darlegung der Auffassungen Plechanows in der Boykottfrage, von denen Lenin schreibt, ist im „Tagebuch eines Sozialdemokraten", Heft 3, S. 18—19 (Plechanow, Sämtliche Werke, Bd. XIII, S. 350), und Heft 4 (Bd. XV, S. 14—15) zu finden. Der Standpunkt Plechanows wurde von Lenin in seinem Aufsatz „Die gegenwärtige Lage Russlands und die Taktik der Arbeiterpartei" analysiert (Sämtliche Werke, Bd. IX). Den Standpunkt P. B. Axelrods in der Boykottfrage siehe in der Broschüre „Volksduma und Arbeiterkongress", Genf 1905, Iskra-Verlag.

B Man findet diesen Artikel in dem Sammelbuch „Internationales aus dem Volksstaat". Russische Übersetzung; „Aufsätze aus dem ,Volksstaat'“, Verlag „Snanije“

C Es handelt sich im Text überall um den aktiven Boykott, d. h. nicht um einen einfachen Verzicht auf Beteiligung an Unternehmen der alten Macht sondern um einen Ansturm auf diese Macht. Leser, die mit der sozialdemokratischen Literatur aus der Epoche des Boykotte der Bulygin-Duma nicht bekannt sind, müssen daran erinnert werden, dass die Sozialdemokraten damals direkt von einem aktiven Boykott sprachen, den sie dem passiven Boykott entschieden entgegenstellten, ja noch mehr, sie verknüpften den aktiven Boykott entschieden mit dem bewaffneten Aufstand.

2 Parvus schrieb über den Boykott im Jahre 1905 in seinem Aufsatz „Sozialdemokratie und Reichsduma", „Iskra" Nr. 110 vom 10. September 1905, und in der Broschüre „Worin gehen unsere Meinungen auseinander? Antwort an Lenin auf seine Artikel im ,Proletarij' ", Genf 1905 (Aufsatz und Broschüre abgedruckt in dem Sammelband von Parvus „Russland und die Revolution", Verlag N. Glagolew, St. Petersburg 1906, S. 144-149, 150-176)

3 In Nr. 301 des „Towarischtsch" vom 7. Juli (24. Juni) 1907 wurde unter dem Titel „Dürfen wir Wahlenthaltung üben?" ein Brief an die Redaktion (nicht ein Artikel, wie Lenin schreibt) von L. Martow über die Beteiligung an den Wahlen zur III. Reichsduma veröffentlicht.

4 Die Worte über „Emigrantengrimm" sind in dem bekannten Buch W. Sombarts „Sozialismus und soziale Bewegung", Kap. IV, „Die Kritik des Marxismus", zu finden.

5 Die Bemerkung, es sei der Reaktion in Deutschland gelungen, die Erinnerung an 1848-49 gänzlich zu vertilgen, ist im Brief von Marx an Kugelmann vom 3. März 1869 enthalten.

6 Im Aufsatz „Zwei Streikkomitees" („Poljarnaja Swesda" Nr. 3 vom 12. Januar 1906 [30. Dezember 1905], S. 223) schrieb P. Struve: „Wir sind alle machtlos vor dem Wahnsinn der Elemente und vor dem Element des Wahnsinns."

7 Lenin meint hier den Standpunkt des Ehepaars S. und B. Webb, von ihnen dargelegt in dem Buch „Geschichte der Arbeiterbewegung in England", vor allem im Kap. III: „Die revolutionäre Periode".

8 wie sie alle heißen.Die Red.

9 ist es nur ein Schritt. Die Red.

10 Die „Zweite Adresse des Generalrats über den deutsch-französischen Krieg" (9. September 1870) enthält folgende Stelle: „Die französischen Arbeiter müssen ihre Pflicht als Bürger tun; aber sie dürfen sich nicht beherrschen lassen durch die nationalen Erinnerungen von 1792, wie die französischen Bauern sich betrügen ließen durch die nationalen Erinnerungen des ersten Kaiserreichs. Sie haben nicht die Vergangenheit zu wiederholen, sondern die Zukunft aufzubauen".

D Vergl. im (Genfer) „Proletarij" von 1905 den Aufsatz über den Boykott der Bulyginschen Duma, wo betont wird, dass wir nicht ein für allemal auf ihre Ausnützung verzichten, jetzt aber eine andere Aufgabe zu lösen haben: Die Aufgabe des Kampfes für den unmittelbar-revolutionären Weg. Vergl. auch den Aufsatz „Über den Boykott" in dem in Russland erscheinenden „Proletarij'", 1906, Nr. 1, wo das bescheidene Ausmaß des Nutzens der Arbeit in der Duma betont wird.

E Siehe im „Towarischtsch" ein Musterbeispiel liberaler Argumentation eines ehemaligen Mitarbeiters der sozialdemokratischen Presse und heutigen Mitarbeiters liberaler Zeitungen, L. Martows.

F Es wird auch die Meinung ausgesprochen, der Textilarbeiterstreik sei eine Bewegung von neuem Typ, die die gewerkschaftliche Bewegung von der revolutionären trenne. Wir übergehen aber diese Auffassung, erstens, weil die Auslegung aller Symptome komplizierterer Erscheinungen im pessimistischen Sinne überhaupt eine gefährliche Methode ist, die viele nicht ganz „sattelfeste" Sozialdemokraten oft auf Abwege gebracht hat. Zweitens, wenn der Textilarbeiterstreik solche Eigentümlichkeiten aufwiese, dann wären wir Sozialdemokraten zweifelsohne verpflichtet, in der energischsten Weise gegen sie zu kämpfen. Im Falle des Erfolges unseres Kampfes würde folglich die Frage gerade so stehen, wie wir sie stellen.

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