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Boykottfrage 1907

Am 1. Juni 1907 verlangte Stolypin von der II. Duma den Ausschluss von 55 Abgeordneten, Mitgliedern der sozialdemokratischen Fraktion, von denen 16 verhaftet werden sollten. Die Fraktion wurde beschuldigt, mit der Militärorganisation Verbindungen unterhalten und zur Vorbereitung eines Aufstandes beigetragen zu haben. Diese sich auf Provokation stützende Beschuldigung sollte nun in einer Dumakommission erörtert werden. Doch löste die Regierung, ohne das Resultat der Kommissionsarbeit abzuwarten, die Duma auf, verhaftete die sozialdemokratische Fraktion und erließ ein neues Wahlgesetz (das Wahlgesetz vom 3. Juni), das den Großgrundbesitzern viele Vorrechte gab, die Zahl der Arbeiterabgeordneten auf 6 beschränkte, die Vertretung der „Grenzgebiete" stark beschnitt und die Vertretung der Bauernschaft auf die Hälfte herabsetzte.

Lenin sah die Möglichkeit der Auseinanderjagung der II. Duma sowie die Möglichkeit des Staatsstreichs vom 3. Juni voraus, als er bereits im Februar 1907 schrieb, die Regierung werde zweifellos genötigt sein, die Duma aufzulösen (siehe den Aufsatz „Die nahe Auseinanderjagung der Duma und Fragen der Taktik", Bd. XI der Sämtlichen Werke).

In der Frage der Wahlen zur III. Reichsduma kam es unter den Bolschewiki zu bedeutenden Meinungsverschiedenheiten, die der verschiedenen Beurteilung der Lage nach dem Staatsstreich vom 3. Juni entsprangen, Ein Teil der Bolschewiki vertrat den Standpunkt, die Bedingungen für eine, unmittelbare breite Massenaktion seien noch vorhanden und somit seien die Formen des revolutionären Kampfes die gleichen geblieben wie in allen vorhergehenden Etappen der Revolution von 1905; daher vertrat dieser Teil der Bolschewiki die Boykott-Taktik. Die Meinungsverschiedenheiten in der Frage des Boykotts der III. Duma vertieften sich in der Folge und führten 1909 zur Entstehung einer besonderen Gruppe „Wperjod", die aus ehemaligen Boykottisten, Otsowisten und Ultimatisten (überdies in ihrer Mehrheit philosophischer Revisionisten) bestand und sich vom Bolschewismus abwandte.

Alle diese Richtungen, wie auch die „Wperjod"-Gruppe, die sie aufgesogen hatte, waren „Liquidatorentum von links", denn ihre Taktik lief auf Liquidierung derjenigen Methoden der Parteiarbeit hinaus, die die Partei zur Massenpartei, nicht aber zu einer Sektierergruppe machten (Ausnützung der legalen Möglichkeiten: Dumatribüne, Gewerkschaften, verschiedene Vereine und Kongresse). Die „Linken" überschätzten den revolutionären Charakter der Situation, verfielen der revolutionären Phrase, indem sie eine auf revolutionären Aufschwung berechnete Taktik vertraten (bewaffneter Aufstand, Instrukteur-Schulen usw.) und die Erfüllung der Aufgaben, die der revolutionären Sozialdemokratie in einer Situation des Rückzugs und des Sammelns neuer Kräfte erstanden, ablehnten.

Vertreter des ZK auf dem von Lenin erwähnten Kongress war N. A. Roschkow.

In der 8. Sitzung kam es zum Streit darüber, ob der ZK-Vertreter die Sache richtig aufgefasst habe, wenn er meint, dass der ZK-Beschluss (in der 5. Sitzung, deren Protokoll abhanden gekommen war), die Frage der Reichsduma auf die Tagesordnung der Allrussischen Konferenz zu stellen, noch keine Entscheidung in der Boykottfrage bedeutet. Mit 15 Stimmen gegen 4 bei 3 Stimmenthaltungen wurde folgende Resolution angenommen: „Nach Entgegennahme eines Berichts über den Lehrerkongress bezeichnet das ZK die Haltung seines Vertreters auf diesem Kongress als vollkommen seinem Auftrag entsprechend."

Aus dem Charakter der Reden in der 8. Sitzung des ZK geht hervor, dass in der 5. Sitzung antiboykottistische Stimmungen vorherrschend waren.

In der Broschüre „Über den Boykott der III. Duma" (Moskau 1907, S. 33), die einen für die Wahlbeteiligung Stellung nehmenden Aufsatz Lenins enthielt, wurde der Standpunkt der Boykottanhänger von L. B. Kamenew vertreten (Jurij K-w), und zwar in dem Artikel „Für den Boykott", datiert vom 11. Juli (28. Juni), (Neuabdruck im Sammelband der Artikel von L. B. Kamenew „Zwischen zwei Revolutionen", Verlag „Nowaja Moskwa", 1922, S. 232-241). Ende 1907 kam Kamenew von seinem Boykott-Standpunkt ab. Um der Broschüre ein legales Aussehen zu geben, ist auf dem Umschlag ein falscher Erscheinungsort angegeben: „Moskau, Buchdruckerei von Gorisontow". In Wirklichkeit wurde die Broschüre in einer illegalen Druckerei in Petersburg hergestellt. Sie wurde verfolgt und sollte, laut Beschluss des Petersburger Gerichtshofes, eingezogen werden. [Band 12]

Für die menschewistische Auffassung der Boykottlosung, wie sie sich bereits 1907 herausgebildet hat, ist der Artikel L. Martows „Inmitten taktischer Widersprüche" im Sammelband „Otkliki" („Echo") Nr. 3 charakteristisch, wo er schreibt: „Der Verzicht auf den Boykott wird den Tod des Bolschewismus bedeuten". Die Tatsache, dass die Menschewiki die Stellung der Bolschewiki zur Boykottlosung nicht verstanden, wurzelte in ihrer eigenen dogmatischen Einstellung zu diesem Problem. Sie betrachteten jeden Verzicht auf die Ausnützung von Vertretungsinstitutionen, wie es die Bulygin-Duma sein sollte und die I. Reichsduma war, als Anarchismus. Über den Boykott der I. Duma schrieb Lenin später, im Jahre 1920, in „Der .Radikalismus', die Kinderkrankheit des Kommunismus" (Sämtliche Werke,. Bd. XXV, S. 219): „Der Boykott der ,Duma' durch die Bolschewiki im Jahre 1906 war bereits ein Fehler, wenn auch ein kleiner Fehler, den man mit Leichtigkeit wieder verbessern konnte."

Er bezeichnete die Boykott-Taktik gegenüber der I. Duma deshalb als Fehler, weil die Bolschewiki 1906 glaubten, das Land stehe am Vorabend eines neuen, noch größeren Aufschwungs als Oktober-Dezember 1905.[Band 12]

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