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Wladimir I. Lenin 19070904 Notizen eines Publizisten

Wladimir I. Lenin: Notizen eines Publizisten

[Geschrieben am 4. September (22. August) 1907 Veröffentlicht im ersten Sammelbuch ,.Golos Schisni" St. Petersburg 1907. Gez.: N, L. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 52-65]

Nach der Auseinanderjagung der II. Duma ist Kleinmut, Reue und Renegatentum der vorherrschende Zug in der politischen Literatur geworden. Von Herrn Struve angefangen, über den „Towarischtsch" bis zu einer Reihe von Schriftstellern, die der Sozialdemokratie nahestehen, sehen wir ein Sichlossagen von der Revolution, von ihren Traditionen, von ihren Kampfmethoden, ein Bestreben, sich so oder so möglichst rechts anzubiedern. Um zu kennzeichnen, wie gewisse Sozialdemokraten jetzt reden und schreiben, wollen wir die ersten besten ihrer Kundgebungen aus der laufenden periodischen Presse nehmen: den Artikel des Herrn Newedomski in Nr. 7 von „Obrasowanije" und den des Herrn Wl. Horn in Nr. 348 des „Towarischtsch".

Herr M. Newedomski beginnt seinen Artikel mit der schärfsten Kritik an den Kadetten in der II. Duma, mit der entschiedensten Verteidigung der Linksblocktaktik und des Verhaltens der Sozialdemokraten. Der Schluss seines Artikels aber lautet:

Wenn ich im Indikativ sprechen soll, so werde ich sagen, dass für jeden Sozialdemokraten eins klar sein muss: in dem Stadium der politischen Evolution, in dem wir uns befinden, bahnt die Tätigkeit der sozialistischen Parteien letzten Endes doch nur den Weg für die bürgerlichen Parteien und bereitet ihren zeitweiligen Triumph vor.

Daraus folgt ein Imperativ folgender Art: was diese Mimikri-Kadetten-Partei („bald brünett, bald blond") auch darstellen mag, so lange sie die einzige Oppositionspartei ist, muss man die sozialistische Tätigkeit mit ihrer Tätigkeit koordinieren. Das wird vom Prinzip der Ökonomie der Kräfte diktiert ... Im Allgemeinen bestimmt – ich spreche ohne jede Ironie – (Herr M. Newedomski musste einen solchen Vorbehalt machen, da er ohne Floskel und Schnörkel, die sowohl die Leser als auch den Verfasser selbst in Verwirrung bringen, nicht schreiben kann. L.) dieser Satz von Miljukow das gegenseitige Verhältnis der einen und der anderen Parteien in den wesentlichen Zügen vollkommen richtig ... (es handelt sich um folgenden Satz Miljukows: „die Drohungen mit einem Eingreifen des Volkes sind nur dann zu verwirklichen, wenn dieses Eingreifen im Voraus vorbereitet ist, und auf diese Vorbereitung muss denn auch die Arbeit aller derer gerichtet werden, denen die eigene Macht der Duma zur Erfüllung ihrer gewaltigen Aufgaben ungenügend erscheint"; möge nun die Linke eine Bewegung vorbereiten und schaffen – kommentiert Herr Newedomski richtig diesen Satz–, „die Herren Kadetten und die Duma aber würden diese Arbeit in Rechnung stellen". L.) ... Vielleicht ist dieser Satz, wenn er aus dem Mund eines Vertreters der in Rechnung stellenden Partei stammt, nicht des Zynismus bar, wenn aber die Frage z. B. von Plechanow in dieser Weise gestellt wird, so ist das nur eine genaue und realistische Festlegung der Linie des Verhaltens der Sozialdemokratie und der Methode, wie sie die Kräfte der liberalen Opposition ausnützen soll".

Wir sind bereit anzunehmen, dass Plechanow ein gewisses.... nun, wollen wir mild sagen, Unbehagen spürt, wenn solche Herrschaften ihm liebenswürdig auf die Schulter klopfen. Aber mit seinen Kadettenlosungen, wie der einheitlichen Plattform der Sozialdemokraten und der Kadetten oder der Schonung der Duma, hat Plechanow zweifellos anderen das Recht gegeben, seine Reden gerade in dieser Weise auszunützen.

Und nun höre man Herrn Wl. Horn: ;

Es ist klar, dass zu ihrer (d. h. der antidemokratischen Koalition der Gutsbesitzer und der Großbourgeoisie, die durch das Wahlgesetz vom 3. Juni geschaffen wird. L.) Überwindung zwei Bedingungen notwendig sind. Erstens müssen alle Schichten der Demokratie, das Proletariat nicht ausgenommen, sich verständigen, um der einen Koalition eine andere entgegenzustellen, zweitens muss der Kampf geführt werden nicht durch ein Ausklügeln entschiedenster Losungen mit dem Ziel der Abspaltung der ungenügend revolutionären Elemente und der Forcierung der Bewegung einer revolutionären offenbaren Minderheit (gesperrt von Herrn Horn), vielmehr muss es ein realer, konkreter, die Massen selbst erfassender Kampf gegen die ebenfalls konkreten Maßnahmen der antidemokratischen Koalition sein. Um eine demokratische Koalition zu schaffen, ist nicht eine Verschmelzung nötig, sondern nur eine Verständigung über Mittel und unmittelbare Ziele des Kampfes. Solche Verständigungen aber sind durchaus möglich, wenn die zielbewussten Vertreter der Massen – d. h. die Parteien – sich auf den Boden der Herbeiführung von realen Änderungen der sozialen Existenzbedingungen stellen und nicht lediglich auf den Standpunkt der Agitation."

Geht aus diesen Auszügen nicht klar hervor, dass unsere beiden Helden modischer Kadettenwörtlein im Grunde ein und dasselbe sagen? Herr Horn ist nur ein klein wenig offener und hat sich ein klein wenig mehr entblößt, der Unterschied aber zwischen ihm und Herrn Newedomski ist um kein Haar größer als der zwischen Herrn Struve und Herrn Nabokow oder Herrn Maklakow.

Die Politik hat ihre innere Logik. Wie viele Male wurde darauf hingewiesen, dass zwischen den Sozialdemokraten und den Liberalen technische Verständigungen möglich seien, die nicht im Geringsten zu einem politischen Block führen, den alle Parteisozialdemokraten immer abgelehnt haben (von solchen, die der Partei nicht angehören, oder von solchen, die ein Doppelspiel treiben, indem sie in der Partei das eine und in einer „freien" parteilosen Zeitung das andere sagen, sprechen wir hier nicht). Und das Leben hat diese schönen Konstruktionen und frommen Wünsche stets zerschlagen, denn unter dem Deckmantel „technischer" Verständigungen suchten sich die Ideen des politischen Blocks hartnäckig einen Weg zu bahnen. In einem kleinbürgerlichen Lande, in der Periode der bürgerlichen Revolution, bei dem Überfluss an kleinbürgerlichen Intellektuellen in der Arbeiterpartei, hat die Tendenz, das Proletariat den Liberalen politisch untertänig zu machen, die realsten Wurzeln. Und diese Tendenz, die in der objektiven Lage der Dinge wurzelt, erweist sich als der wirkliche Inhalt jeder quasi-sozialistischen Politikasterei über das Thema von Koalitionen mit den Kadetten. Mit der Naivität eines Intellektuellen, der lediglich sozialdemokratische Wörtlein gebraucht, dessen ganzer Gedankengang aber, dessen ganzer geistiger Habitus, dessen „Inneres" rein liberal oder spießbürgerlich ist, propagiert Herr Horn geradezu den politischen Block, die „demokratische Koalition", nicht mehr und nicht weniger.

Es ist ungemein charakteristisch, dass Herr Horn den Vorbehalt machen musste: „Es ist nicht eine Verschmelzung nötig!" Dadurch, dass er diesen Vorbehalt machte, verriet er nur Reste seines schlechten sozialistischen Gewissens. Denn indem er sagt: „Es ist nicht eine Verschmelzung nötig, sondern nur eine Verständigung", hat er hier sogleich, ohne Verzug, eine solche Beschreibung dieser „Verständigung", eine solche Definition ihres Inhaltes gegeben, die mit der größten Deutlichkeit sein sozialdemokratisches Renegatentum aufdeckt. Nicht auf das Wörtlein kommt es ja an, ob man die Sache „Verschmelzung" oder „Verständigung" nennt. Es kommt vielmehr darauf an, welches der reale Inhalt dieser „Paarung" ist. Es kommt darauf an, um welchen Preis ihr die sozialdemokratische Arbeiterpartei zur Maitresse des Liberalismus machen wollt.

Der Preis ist klar bestimmt.

1. Den Standpunkt der Agitation verlassen.

2. Auf das „Ausklügeln" entschiedener Losungen verzichten.

3. Aufhören, die ungenügend revolutionären Elemente abzuspalten.

4. Auf die „Forcierung" der Bewegung einer revolutionären offenbaren Minderheit verzichten.

Ich wäre bereit, demjenigen eine Prämie zu geben, der imstande wäre, ein klareres und präziseres Programm des vollsten und des schnödesten Renegatentums aufzustellen. Herr Horn unterscheidet sich von Herrn Struve nur dadurch, dass Herr Struve seinen Weg klar sieht und seine Schritte bis zu einem gewissen Grade „selbständig" bestimmt. Herr Horn aber wird von seinen kadettischen Ziehvätern am Gängelbande geführt.

Den Standpunkt der Agitation verlassen, dies lehrten die Kadetten das Volk die ganze Zeit in der II. Duma. Das bedeutet, das Klassenbewusstsein und die Ansprüche der Arbeitermassen und der Bauernschaft nicht zu entwickeln, sondern das eine wie das andere niederzuhalten, zu dämpfen und zu löschen, den sozialen Frieden zu propagieren.

Keine entschiedenen Losungen ausklügeln, das bedeutet, nach dem Beispiel der Kadetten, auf das Propagieren jener Losungen, die die Sozialdemokraten schon lange vor der Revolution aufstellten, zu verzichten.

Die ungenügend revolutionären Elemente nicht abspalten, das bedeutet, auf jede Kritik an der kadettischen Heuchelei, Lüge und Reaktion vor den Massen zu verzichten, das bedeutet, Herrn Struve zu umarmen.

Nicht die Bewegung einer revolutionären offenbaren Minderheit forcieren, das bedeutet dem Wesen nach, auf revolutionäre Kampfmethoden zu verzichten. Denn es ist vollkommen unbestreitbar, dass an den revolutionären Aktionen während des ganzen Jahres 1905 eine revolutionäre offenbare Minderheit beteiligt war: gerade weil zwar Massen gekämpft haben, jedoch Massen, die in der Minderheit waren, gerade deshalb haben sie einen vollen Erfolg im Kampfe nicht errungen. Aber all die Erfolge, die die Freiheitsbewegung in Russland überhaupt erreicht hat, all die Errungenschaften, die sie überhaupt machte, – dies alles ist restlos und ohne Ausnahme nur durch diesen Kampf der Massen, die in der Minderheit waren, errungen worden. Das zum ersten. Zweitens war aber das, was die Liberalen und ihre Nachbeter eine „forcierte Bewegung" nennen, die einzige Bewegung, an der sich Massen (obgleich für das erste Mal leider in der Minderheit) selbständig und nicht durch Vertreter beteiligten, die einzige Bewegung, die keine Angst vor dem Volke hatte, die die Interessen der Massen zum Ausdruck brachte, mit der die gigantische, am revolutionären Kampf sich unmittelbar nicht beteiligende Masse sympathisierte (das haben die Wahlen zur I., hauptsächlich aber die zur II. Duma bewiesen).

Wenn Herr Horn von der „Forcierung der Bewegung einer revolutionären offenbaren Minderheit" spricht, begeht er eine der landläufigsten, rein Bureninschen Übertreibungen. Als Burenins Zeitung während der Epoche der II. Duma Alexinski bekämpfte, stellte sie die Sache immer so dar, als ob ihre Feindschaft gegen Alexinski nicht durch dessen Kampf für politische Freiheit hervorgerufen würde, sondern dadurch, dass Alexinski eine Freiheit wolle, die das Recht geben soll,... Fenster einzuschlagen, auf die Laternen zu klettern usw. Gerade eine solche Schwarzhunderter-Vorbereitung betreibt auch jetzt der Publizist vom „Towarischtsch". Er bemüht sich, die Sache so darzustellen, als ob der Verständigung zwischen Sozialisten und Liberalen durchaus nicht das im Wege stände, dass die Sozialisten sich für die Entwicklung des revolutionären Klassenbewusstseins und der revolutionären Aktivität der Massen überhaupt einsetzen und immer einsetzen werden, sondern nur das, dass die Sozialisten eine Bewegung forcieren, d. h. aufgreifen, künstlich aufschrauben, dass sie offenbar aussichtslose Bewegungen schüren.

Auf solche Ausfälle werden wir kurz antworten. Die gesamte sozialistische Presse, die menschewistische sowohl wie die bolschewistische, hat sowohl in der Epoche der I. als auch in der Epoche der II. Duma jedes „Forcieren" der Bewegung verurteilt ... Nicht weil die Bewegung forciert wurde, kämpften die Kadetten gegen die Sozialdemokraten sowohl in der I. als auch in der II. Duma, sondern weil die Sozialdemokraten das revolutionäre Klassenbewusstsein und die Ansprüche der Massen entwickeln, weil sie das reaktionäre Verhalten der Kadetten und das Trügerische der konstitutionellen Illusionen entlarven. Diese allbekannten historischen Tatsachen sind durch keinerlei Zeitungs-Equilibristik zu umgehen. Was aber die Form angeht, in der Herr Horn auftritt, so ist sie so charakteristisch wie nur irgend möglich für unsere Zeit, wo die „gebildete Gesellschaft" sich von der Revolution lossagt und sich der Pornographie zuwendet. Ein Subjekt, das sich für einen Sozialdemokraten hält, begibt sich zu einer parteilosen Zeitung, um vor dem breiten Publikum Reden nach der Art von „Nowoje Wremja" darüber zu halten, dass die Arbeiterpartei die Bewegung einer „offenbaren" Minderheit „forciere"! Die Renegatenstimmungen erzeugen bei uns auch Renegatensitten.

Betrachten wir nun die Frage von einer anderen Seite. Die Ansichten der Herren Newedomski und Horn, die solchen Ekel erregen, wenn sie von angeblichen Sozialdemokraten vorgebracht werden, sind zweifellos die höchst typischen und natürlichen Ansichten breiter Kreise unserer bürgerlichen Intelligenz, der liberalisierenden „Gesellschaft", der frondierenden Beamten usw. Es genügt nicht, diese Ansichten als den Ausdruck des politisch-charakterlosen, morschen und schwankenden Kleinbürgertums zu charakterisieren. Man muss sie außerdem vom Standpunkt der jetzigen Lage der Dinge in der Entwicklung unserer Revolution aus erklären.

Weshalb bringen gerade jetzt, vor der III. Duma, bestimmte Kreise des Kleinbürgertums solche Ansichten vor? Weil diese Kreise, indem sie demütig ihre Überzeugungen nach jeder Wendung der Regierungspolitik ändern, an die oktobristische Duma glauben, d. h. ihre Mission für erfüllbar halten und sich beeilen, sich den „oktobristischen Reformen" anzupassen, ihre Anbiederung an den Oktobrismus ideell zu begründen und zu rechtfertigen.

Die Mission der oktobristischen Duma besteht nach dem Plan der Regierung darin, die Revolution durch ein offenes Abkommen zwischen dem alten Regime und den Gutsbesitzern nebst der Großbourgeoisie auf der Basis eines bestimmten Minimums von konstitutionellen Reformen abzuschließen. Abstrakt gesprochen, ist daran nichts absolut Unmögliches, denn in Westeuropa wurde eine Reihe bürgerlicher Revolutionen durch die Befestigung „oktobristischer" Konstitutionsverhältnisse abgeschlossen. Die Frage ist nur die, ob im gegenwärtigen Russland oktobristische „Reformen", die der Revolution Einhalt gebieten könnten, möglich sind. Sind die oktobristischen „Reformen" infolge der Tiefe unserer Revolution nicht zu dem gleichen Zusammenbruch verdammt, wie ihn die „Kadettenreformen" erlitten haben? Wird die oktobristische Duma nicht ebenso eine kurze Episode sein, wie es die Kadettendumas waren, eine Episode auf dem Wege zur Wiederaufrichtung der Macht der Schwarzhunderter und der Autokratie?

Wir erlebten die Periode des unmittelbaren revolutionären Massenkampfes (1905), der gewisse freiheitliche Errungenschaften brachte. Wir erlebten dann die Periode der Stockung dieses Kampfes (1906 und die erste Hälfte von 1907). Diese Periode brachte eine Reihe von Siegen der Reaktion und keinen einzigen Sieg der Revolution, die die Errungenschaften der ersten Periode einbüßte. Die zweite Periode war eine Kadettenperiode, eine Periode von Konstitutionsillusionen. Die Massen glaubten noch mehr oder weniger an den „Parlamentarismus" unter der Autokratie, und die Autokratie, die die Gefahr einer reinen Schwarzhunderterherrschaft begriff, versuchte, sich mit den Kadetten zu verständigen, nahm Experimente vor, machte Anproben mit Konstitutionskostümen von verschiedenem Typus und untersuchte, welchem Maß von Reformen die „Herren" Russlands, die Herren Großgutsbesitzer, zustimmen könnten. Das Experiment der Kadettenkonstitution endete mit einem Zusammenbruch, trotzdem die Kadetten in der II. Duma sich vollkommen oktobristisch verhielten, nicht nur die Regierung nicht angriffen, nicht nur die Massen nicht gegen die Regierung zu stimmen suchten, sondern vielmehr systematisch bemüht waren, die Massen zu beschwichtigen, die „Linken", d. h. die Parteien des Proletariats und der Bauernschaft, bekämpften und offen und entschlossen die gegebene Regierung unterstützten (Budget usw.). Das Experiment der Kadettenkonstitution ist mit einem Wort nicht deshalb misslungen, weil die Kadetten oder die Regierung nicht den guten Willen hatten, sondern weil die objektiven Gegensätze der russischen Revolution sich stets als zu tief erwiesen. Diese Gegensätze erwiesen sich tatsächlich als so tief, dass es unmöglich war, die schmale Kadettenbrücke über den Abgrund zu schlagen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass selbst bei vorübergehender vollständiger Unterdrückung des Massenkampfes, bei vollständiger Willkür des alten Regimes in Bezug auf Fälschung der Wahlen usw., die Bauernmassen (in einer bürgerlichen Revolution aber hängt der Ausgang vor allem von der Bauernschaft ab) solche Forderungen stellten, die der Herrschaft der privilegierten Gutsbesitzer anzupassen jede Diplomatenkunst der kadettischen Makler außerstande ist. Wenn Herr Struve jetzt gegen die Trudowiki (von den Sozialdemokraten schon gar nicht zu reden) erbost ist, wenn die „Rjetsch" einen ganzen Feldzug gegen sie führt, so ist dies kein Zufall und nicht einfach der Unwille des bürgerlichen Advokaten, dessen Dienste der Muschik abgelehnt hat. Es ist ein unvermeidlicher politischer Schritt in der Evolution der Kadetten: da es nicht gelungen ist, die Gutsbesitzer mit den Trudowiki zu versöhnen, – also (für die bürgerliche Intelligenz kann es nur eine solche Schlussfolgerung geben), also muss man nicht breitere Massen zum Kampf gegen die Gutsbesitzer erheben, sondern die Forderungen der Trudowiki mäßigen, den Gutsbesitzern noch größere Zugeständnisse machen, die „revolutionären Utopien beiseite werfen", wie Struve und die „Rjetsch" sagen, oder das Ausklügeln entschiedener Losungen und das Forcieren der Bewegung beiseite werfen, wie der neue Diener der Kadetten, Herr Horn, sagt.

Die Regierung passt sich den Gutsbesitzern dadurch an, dass sie die Wahlen ganz ihnen in die Hände gibt und die Bauernschaft faktisch des Wahlrechts beraubt. Die Kadetten passen sich den Gutsbesitzern dadurch an, dass sie gegen die Trudowiki wegen ihres Revolutionarismus und wegen ihrer Nachgiebigkeit wettern. Die parteilosen Politikaster vom Schlage der Mitarbeiter des „Towarischtsch" im Allgemeinen und des Herrn Horn im Besonderen passen sich den Gutsbesitzern dadurch an, dass sie das Proletariat und die Bauernschaft auffordern, ihre Politik mit der der Kadetten „in Einklang zu bringen" (bei Herrn Newedomski heißt es: „koordinieren"), in eine „demokratische Koalition" mit den Kadetten einzutreten, auf „entschiedene Losungen" zu verzichten usw. u. a. m.

Die Regierung arbeitet systematisch. Schritt für Schritt nimmt sie das zurück, was durch die „forcierte Bewegung" errungen worden und was beim Stillstand dieser Bewegung ohne Schutz geblieben ist. Schritt für Schritt probiert sie, zu welchen „Reformen" man die Zustimmung der Herren Gutsbesitzer gewinnen könnte. Die Kadetten konnten es nicht vollbringen? Sie konnten es nicht wegen der Hindernisse von Seiten der Linken, trotz des aufrichtigen Wunsches und der Anstrengungen der Kadetten selbst? Also muss man das Wahlrecht der „Linken" beschneiden und die Entscheidung in die Hände der Oktobristen legen: erst wenn auch dieses Experiment misslingt, wird es notwendig sein, sich restlos dem „Rate des Vereinigten Adels" anzuvertrauen.

In den Handlungen der Regierung liegt Sinn, System, Logik. Es ist die Logik der Klasseninteressen des Gutsbesitzers. Diese Interessen müssen verteidigt werden, aber auch die bürgerliche Entwicklung Russlands muss wohl oder übel gestützt werden.

Zur Verwirklichung dieser Regierungspläne ist eine gewaltsame Unterdrückung der Interessen und der Bewegung der Massen, die Entziehung ihrer Wahlrechte, ihre Auslieferung an die Willkür der 30.0001 erforderlich. Ob es gelingen wird, diese Pläne zu verwirklichen, – diese Frage wird jetzt niemand entscheiden. Diese Frage wird nur der Kampf entscheiden.

Wir Sozialdemokraten wollen diese Frage durch unseren Kampf entscheiden. Auch die Kadetten wollen sie durch den Kampf ... gegen die Linken entscheiden. Die Kadetten kämpfen für die von der Regierung angestrebte Entscheidung dieser Frage: sie taten es systematisch in der II. Duma in der parlamentarischen Arena. Sie tun es auch jetzt systematisch durch ihren ideellen Kampf gegen die Sozialdemokraten und gegen die Trudowiki.

Gewiss, für den durchschnittlichen russischen Intellektuellen wie auch für jeden halbgebildeten Spießbürger klingt es wie ein Paradox: die Kadetten, die sich Demokraten nennen, die liberale Reden halten, kämpfen für die von der Regierung angestrebte Entscheidung dieser Frage! Das ist ja eine offensichtliche Sinnwidrigkeit! Sie sind Demokraten, also hinein mit ihnen in die „demokratische Koalition"! Das ist ja eine so klare Schlussfolgerung für politische Einfaltspinsel, die nicht einmal in zwei Jahren russischer Revolution gelernt haben, im Kampfe der verschiedenen Klassen die wirkliche Grundlage sowohl der Regierungsmaßnahmen als auch der liberalen Wortergüsse zu suchen. Und wie groß ist die Zahl unserer „Marxisten" aus dem Lager der Intellektuellen, die sich zum Prinzip des Klassenkampfes bekennen, in Wirklichkeit aber echt liberal Betrachtungen über die Kadetten, über die Rolle der Duma, über den Boykott anstellen! Und wie viele Budgetbewilligungen der Kadetten werden diese politischen Einfaltspinsel noch nötig haben, um eine in Europa längst bekannte Erscheinung geistig zu verdauen: den Liberalen, der sich in Reden gegen die Regierung ergeht, in jeder ernsten Frage aber die Regierung unterstützt.

Die Ablösung der II. durch die III. Duma ist die Ablösung des Kadetten, der wie ein Oktobrist handelt, durch den Oktobristen, der mit Hilfe des Kadetten handelt. In der II. Duma herrschte die Partei der bürgerlichen Intellektuellen, die sich für das Volk Demokraten nannten und für die Bourgeoisie die Regierung unterstützten. In der III. Duma soll die Partei der Gutsbesitzer und der Großbourgeoisie herrschen, die sich zu scheinbarer Opposition und tatsächlichen Dienstleistungen die bürgerlichen Intellektuellen dingen. Diese simple Sache ist durch das ganze politische Verhalten der Kadetten und besonders durch die II. Duma erwiesen. Diese simple Sache begann jetzt selbst der Spießbürger zu begreifen: wir wollen uns auf einen Zeugen wie Herrn Schilkin berufen, den der Sympathie für den Bolschewismus oder einer voreingenommenen und unversöhnlichen Feindschaft gegen die Kadetten zu verdächtigen ein lächerliches Beginnen wäre.

Im heutigen „Towarischtsch" (Nr. 351) schildert Herr Schilkin die Eindrücke eines „zuversichtlichen" (sic! unter „Zuversicht" versteht Herr Schilkin ungefähr dasselbe wie Horn oder Newedomski) Provinzlers folgendermaßen:

Die Gutsbesitzer aus den Reihen der Oktobristen, mit denen ich sprach, urteilen so: .Kadetten kann man wählen. Was ist an ihnen gut? Sie lassen mit sich handeln. In der I. Duma verlangten sie viel. In der II. gaben sie nach. Sogar das Programm haben sie beschnitten. Nun, und in der III. Duma werden sie noch mehr nachgeben. So werden sie dann handelseins werden. Außerdem aber, um die ganze Wahrheit zu gestehen, haben wir unter den Oktobristen niemanden, den man wählen könnte ...

... Möge man denn schon Kadetten wählen. Der Unterschied zwischen uns ist nicht gar so groß. Auch sie werden in der III. Duma nach rechts gehen ... Mit den Oktobristen halten wir aus Not Freundschaft ... Wo sind ihre großen Redner oder Männer?' "

Wer über Parteien nach ihrem Namen, ihrem Programm, ihren Verheißungen und Reden urteilt, oder sich mit dem plumpen Bernsteinisierten „Marxismus" begnügt – der Wiederholung der Wahrheit von der Unterstützung der bürgerlichen Demokratie in der bürgerlichen Revolution, – der kann Hoffnungen auf eine demokratische Koalition der Linken und der Kadetten während der III. Duma setzen. Wer aber auch nur einen Gran revolutionären Gefühls besitzt und mit ein klein wenig Überlegung zu den Lehren unserer Revolution Stellung nimmt, oder wer wirklich sich von dem Prinzip des Klassenkampfes leiten lässt und über Parteien nach ihrem Klassencharakter urteilt, der wird sich absolut nicht darüber wundern, dass die Partei der bürgerlichen Intelligenz nur zu Lakaiendiensten für die Partei der Großbourgeoisie taugt. Die Herren Horn und Newedomski sind fähig zu glauben, dass Differenzen zwischen den Kadetten und der Demokratie eine Ausnahme, Differenzen zwischen den Kadetten und den Oktobristen dagegen die Regel seien. Die Dinge liegen aber gerade umgekehrt. Ihrer ganzen Klassennatur nach sind die Kadetten wirkliche Verwandte der Oktobristen. Der Kadettendemokratismus ist Flittergold, eine vorübergehende Widerspiegelung des Demokratismus der Massen oder aber ein direkter Betrug, auf den die russischen Bernsteinianer und Spießbürger, besonders die vom „Towarischtsch", hereinfallen.

Und nun, wenn ihr die uns interessierende Frage von dieser Seite aus betrachtet, wenn ihr die wirklich historische Rolle des Kadetten – dieses bürgerlichen Intellektuellen, der dem Gutsbesitzer hilft, den Bauer durch eine Bettelreform zufriedenzustellen – begreifen werdet, dann werdet ihr den ganzen Abgrund der Weisheit der Herren Horn und Newedomski ermessen, die dem Proletariat raten, seine Aktionen mit denen der Kadetten in Einklang zu bringen! Das Bild der oktobristischen „Reformen", die man uns verspricht, ist ganz klar. Der Gutsbesitzer „regelt die Verhältnisse" des Muschik und regelt sie so, dass es ohne Strafexpeditionen, ohne Auspeitschung der Bauern und Erschießung von Arbeitern unmöglich ist, die Bevölkerung zu zwingen, die Reformen anzunehmen. Der Kadettenprofessor macht Opposition: er beweist, vom Standpunkt der modernen Rechtswissenschaft, die Notwendigkeit konstitutioneller Bestätigung der Vorschriften über Strafexpeditionen und verurteilt den Übereifer der Polizei. Der Kadettenadvokat macht Opposition: er führt den Nachweis, dass man nach dem Gesetz 60, nicht aber 200 Schläge zu verabreichen habe und dass man der Regierung Mittel für Ruten bewilligen und ihr dabei die Wahrung der Gesetzlichkeit zur Bedingung machen müsse. Der Kadettenarzt ist bereit, die Pulsschläge des Ausgepeitschten zu zählen und eine wissenschaftliche Abhandlung zu schreiben über die Notwendigkeit, die Höchstzahl der Schläge um die Hälfte herabzusetzen.

Ist etwa die Kadettenopposition in der II. Duma nicht eine solche gewesen? Und ist es nicht klar, dass um einer solchen Opposition willen der oktobristische Gutsbesitzer nicht nur den Kadetten in die Duma wählen, sondern auch bereit sein wird, ihm ein Professoren- oder ein anderes Gehalt zu zahlen?

Eine demokratische Koalition der Sozialisten mit den Kadetten in der II. Duma, nach der ll. Duma oder während der III. Duma würde kraft der objektiven Lage der Dinge nichts anderes bedeuten als die Verwandlung der Arbeiterpartei in ein blindes und armseliges Anhängsel der Liberalen, als den vollständigen Verrat der Sozialisten an den Interessen des Proletariats und den Interessen der Revolution. Sehr wohl möglich, dass die Herren Newedomski und Horn nicht begreifen, was sie tun. Bei solchen Leuten sitzt die Überzeugung häufig nicht tiefer als auf der Zungenspitze. Im Grunde aber laufen ihre Bestrebungen darauf hinaus, mit der selbständigen Partei der Arbeiterklasse, mit der Sozialdemokratie, ein Ende zu machen. Die Sozialdemokratie, die ihre Aufgaben begreift, muss mit solchen Herren Schluss machen. Leider wird bei uns noch immer die Kategorie der bürgerlichen Revolution zu einseitig aufgefasst. Es wird bei uns z. B. außer acht gelassen, dass diese Revolution dem Proletariat zeigen muss – und nur sie ist in der Lage, das dem Proletariat zum ersten Male zu zeigen, – wie die Bourgeoisie des gegebenen Landes in Wirklichkeit ist, welches die nationalen Besonderheiten der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums in der betreffenden nationalen bürgerlichen Revolution sind. Die wirkliche, endgültige Massenabsonderung des Proletariats als Klasse, die es allen bürgerlichen Parteien gegenüberstellt, kann nur dann erfolgen, wenn die Geschichte des eigenen Landes dem Proletariat das ganze Antlitz der Bourgeoisie als Klasse, als politisches Ganzes gezeigt haben wird – das ganze Antlitz des Kleinbürgertums als Schicht, als bestimmte geistige und politische Größe, die in bestimmten offenen, umfassend politischen Handlungen in Erscheinung getreten ist. Wir müssen dem Proletariat unermüdlich die theoretischen Wahrheiten klarzumachen suchen, die das Wesen der Klasseninteressen der Bourgeoisie und des Kleinbürgertums in der kapitalistischen Gesellschaft betreffen. Aber diese Wahrheiten werden in Fleisch und Blut wirklich breiter proletarischer Massen erst dann übergehen, wenn diese Klassen das Verhalten der Parteien der einen oder der anderen Klasse sehen, spüren werden, – wenn zur klaren Erkenntnis ihrer Klassennatur die unmittelbare Reaktion der proletarischen Psyche auf die ganze Physiognomie der bürgerlichen Parteien hinzukommen wird. Vielleicht nirgends in der Welt hat die Bourgeoisie während einer bürgerlichen Revolution eine solche reaktionäre Bestialität, ein so enges Bündnis mit dem alten Regime, eine solche „Freiheit" von allem, was auch nur im Entferntesten einer aufrichtigen Sympathie für Kultur, für Fortschritt, für den Schutz menschlicher Würde ähnlich wäre, an den Tag gelegt, wie bei uns; möge denn auch unser Proletariat aus der russischen bürgerlichen Revolution verdreifachten Hass gegen die Bourgeoisie und Entschlossenheit zum Kampfe gegen sie schöpfen! Wohl nirgends in der Welt hat das Kleinbürgertum – angefangen von den „Volkssozialisten" und den Trudowiki bis zu den in die Sozialdemokratie hinein geschlüpften Intellektuellen – eine solche Feigheit und Charakterlosigkeit im Kampfe, eine solche niederträchtige Schrankenlosigkeit der Renegatenstimmungen, eine solche Liebedienerei gegenüber den Helden der bürgerlichen Mode oder der reaktionären Gewalt gezeigt. So möge denn unser Proletariat aus unserer bürgerlichen Revolution dreifache Verachtung gegen kleinbürgerliche Schlappheit und Wankelmütigkeit schöpfen. Wie auch unsere Revolution weiter verlaufen möge, welche schweren Zeiten das Proletariat manchmal auch noch wird durchmachen müssen, – dieser Hass und diese Verachtung werden seine Reihen enger zusammenschließen, werden es von untauglichen fremden Klassenelementen reinigen, werden seine Kraft vermehren, werden es für die Schläge stählen, die es zu seiner Zeit der gesamten bürgerlichen Gesellschaft versetzen wird.

1 Die Großgrundbesitzer. Die Red.

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