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Wladimir I. Lenin 19071102 Revolution und Konterrevolution

Wladimir I. Lenin: Revolution und Konterrevolution

[Proletarij" Nr. 17, 2. November (20. Oktober) 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 86-95]

Der Oktober 1905 war für Russland der Zeitpunkt höchsten revolutionären Aufschwungs. Das Proletariat fegte die Bulygin-Duma von seiner Bahn hinweg und zog breite Volksmassen in den direkten Kampf gegen den Absolutismus hinein. Im Oktober 1907 erlebten wir den Zeitpunkt des offenbar größten Tiefstandes des offenen Massenkampfes. Doch die Periode des Niedergangs, die nach der Dezemberniederlage von 1905 einsetzte, brachte nicht nur die Blüte der Verfassungsillusionen, sondern auch ihren vollen Zusammenbruch mit sich. Die III. Duma, die nach dem Auseinanderjagen zweier Dumas und nach dem Staatsstreich vom 3. Juni nunmehr einberufen wird, macht der Periode des Glaubens an ein friedliches Zusammenleben des Absolutismus mit der Volksvertretung entschieden ein Ende und eröffnet eine neue Epoche in der Entwicklung der Revolution.

In einem Augenblick, wie dem gegenwärtigen, drängt sich ein Vergleich zwischen Revolution und Konterrevolution in Russland, zwischen der revolutionären Sturmperiode (1905) und der Zeit des konterrevolutionären Verfassungsspiels (1906 und 1907) von selbst auf. Jede Bestimmung der politischen Linie für die nächste Zeit schließt unvermeidlich einen solchen Vergleich mit ein. Die Gegenüberstellung der „Fehler der Revolution" oder der „revolutionären Illusionen" einerseits und der „positiven verfassungsmäßigen Arbeit" andererseits bildet das Leitmotiv der gegenwärtigen politischen Literatur. Darüber ereifern sich die Kadetten in den Wahlversammlungen. Darüber singen, reden und schreien die liberale Presse, Herr Struve, der seinen Ärger über den endgültigen Zusammenbruch der Hoffnung auf einen „Kompromiss" mit leidenschaftlicher Wut an den Revolutionären auslässt, Herr Miljukow, der, trotz seiner Ziererei und seines Jesuitentums, vom Lauf der Ereignisse zur deutlichen, klaren und – was die Hauptsache ist – ehrlichen Erklärung: „die Feinde stehen links"1 genötigt wurde, die Publizisten im Geiste des „Towarischtsch", die Kuskowa, Smirnow, Plechanow, Horn, Jordanski, Tscherewanin u. a. m., die den Oktober-und Dezemberkampf als leichtsinnig tadeln und mehr oder weniger offen eine „demokratische" Koalition mit den Kadetten predigen. Die wirklich kadettischen Elemente dieses trüben Stroms bringen die konterrevolutionären Interessen der Bourgeoisie und die grenzenlos knechtische Gesinnung der spießbürgerlichen Intellektuellen zum Ausdruck. Bei jenen Elementen aber, die noch nicht gänzlich auf das Niveau Struves hinab gesunken sind, ist der vorherrschende Zug der, dass ihnen jegliches Verständnis für den Zusammenhang zwischen Revolution und Konterrevolution in Russland abgeht, dass sie unfähig sind, all das, was wir erlebt haben, als eine einheitliche soziale Bewegung zu betrachten, die sich nach ihrer inneren Logik entwickelt.

Die Periode des revolutionären Ansturms hat die einzelnen Klassen der Bevölkerung Russlands in Aktion gezeigt und ihr Verhalten zur alten Selbstherrschaft demonstriert. Durch diese Ereignisse haben alle, selbst die dem Marxismus gänzlich Fernstehenden, gelernt, die Zeitrechnung der Revolution mit dem 9. Januar 1905 zu beginnen, d. h. mit der ersten bewusst politischen Bewegung von Massen, die zu einer bestimmten Klasse gehören. Als die Sozialdemokratie aus der Analyse der ökonomischen Wirklichkeit in Russland die führende Rolle, die Hegemonie des Proletariats in unserer Revolution ableitete, da schien dies eine übertriebene Bücherweisheit von Theoretikern zu sein. Die Revolution erbrachte für unsere Theorie den Richtigkeitsbeweis, denn sie ist die einzige wirklich revolutionäre Theorie. Das Proletariat marschierte in der Tat die ganze Zeit an der Spitze der Revolution. Die Sozialdemokratie erwies sich in der Tat als ideelle Vorhut des Proletariats. Der Kampf der Massen entwickelte sich unter Führung des Proletariats außerordentlich rasch – rascher, als es viele Revolutionäre erwartet haben. Im Laufe eines Jahres erhob er sich bis zu den entschlossensten Formen des revolutionären Ansturms, die die Geschichte überhaupt kennt, bis zum Massenstreik und zum bewaffneten Aufstand. Die Organisation der proletarischen Massen wuchs mit überraschender Schnelligkeit im Verlauf des Kampfes selbst. Nach dem Proletariat begannen auch andere Bevölkerungsschichten sich zu organisieren und bildeten die Kampfkader des revolutionären Volkes. Es organisierte sich die halb proletarische Masse der Angestellten aller Art, dann die Bauerndemokratie, die Intellektuellen verschiedener Berufe usw. Die Zeit der proletarischen Siege war die Zeit eines in Russland nie gesehenen, selbst vom europäischen Standpunkt riesenhaften Wachstums der Massenorganisiertheit überhaupt. Das Proletariat erreichte in dieser Periode eine ganze Reihe von Verbesserungen seiner Arbeitsbedingungen. Die Bauernmassen erreichten eine „Einschränkung" der Willkür der Gutsbesitzer, Herabsetzung des Pachtzinses und der Bodenpreise. Ganz Russland erreichte ein erhebliches Maß von Versammlungs-, Vereins- und Redefreiheit, einen offenen Verzicht der Selbstherrschaft auf die alte Ordnung sowie Anerkennung der Konstitution.

Alles, was die Freiheitsbewegung bisher erobert hat, ist ausschließlich und in vollem Umfang durch den revolutionären Kampf der Massen, mit dem Proletariat an der Spitze, errungen worden.

Die Wendung in der Entwicklung des Kampfes tritt mit der Niederlage des Dezemberaufstandes ein. In dem Maße, wie der Massenkampf nachlässt, geht die Konterrevolution Schritt um Schritt zur Offensive über. In der Zeit der I. Duma kam der Massenkampf in einer Verstärkung der Bauernbewegung, in der Zerstörung zahlreicher Burgstätten der fronherrlichen Gutsbesitzer, in einer ganzen Reihe von Soldatenmeutereien noch eindringlich genug zum Ausdruck. Damals rückte die Reaktion noch langsam vor, sie konnte sich nicht sofort zu einem Staatsstreich entschließen. Erst nach der Niederwerfung der Aufstände von Sveaborg und Kronstadt im Juli 1906 schöpft sie Mut, führt das Regime der Feldkriegsgerichte ein, beginnt das Wahlrecht zu beschneiden (Senatserläuterungen), lässt die II. Duma endgültig von der Polizei umzingeln und stürzt die ganze berühmte Verfassung. An Stelle aller eigenmächtig entstehenden freien Massenorganisationen trat zu jener Zeit der „legale Kampf" im Rahmen der von Dubassow, Stolypin und Konsorten ausgelegten polizeilichen Verfassung. Die führende Rolle der Sozialdemokratie ging auf die Kadetten über, die in beiden Dumas herrschten. Die Zeit des Niedergangs der Massenbewegung war die Zeit höchster Blüte der Kadettenpartei. Sie schlachtete diesen Niedergang in ihrem Interesse aus, indem sie sich als „Kämpfer" für die Verfassung gebärdete. Sie unterstützte aus allen Kräften den Glauben des Volkes an diese Verfassung und predigte die Notwendigkeit, sich lediglich auf den „parlamentarischen" Kampf zu beschränken.

Der Bankrott der „Kadettenverfassung" ist zugleich der Bankrott der Kadettentaktik und Kadettenhegemonie im Freiheitskampf. Der eigennützige Klassencharakter des ganzen Geredes unseres Liberalismus über „revolutionäre Illusionen" und über „Fehler der Revolution" tritt beim Vergleich beider Revolutionsperioden offenkundig hervor. Der proletarische Massenkampf brachte dem ganzen Volke Eroberungen. Die Führung der Bewegung durch die Liberalen brachte nichts als Niederlagen. Der revolutionäre Ansturm des Proletariats hob stetig das Bewusstsein der Massen und ihre Organisiertheit, indem er ihnen immer höhere Aufgaben stellte, ihre selbständige Beteiligung am politischen Leben förderte, sie kämpfen lehrte. Die Hegemonie der Liberalen in der Periode der beiden Dumas drückte das Bewusstsein der Massen herab, zersetzte ihre revolutionäre Organisiertheit, stumpfte die Erkenntnis der demokratischen Aufgaben ab.

Die liberalen Führer der 1. und der II. Duma demonstrierten vor dem Volke ausgezeichnet den kniefälligen, legalen „Kampf", der zur Folge hatte, dass die absolutistischen Fronherren das Verfassungsparadies der liberalen Schwätzer mit einem Federstrich aus der Welt schafften und höhnisch über die feingesponnene Diplomatie der bei den Ministern antichambrierenden Politiker lachten. Für die ganze Zeit der russischen Revolution haben die Liberalen keine einzige Errungenschaft aufzuweisen, keinen einzigen Erfolg, kein einziges irgendwie demokratisches Beginnen, das die Kräfte des Volkes zum Freiheitskampfe organisiert hätte.

Vor dem Oktober 1905 beobachteten die Liberalen gegenüber dem revolutionären Kampf der Massen manchmal eine wohlwollende Neutralität, jedoch schon damals begannen sie gegen ihn aufzutreten, indem sie zum Zaren Deputationen mit niederträchtigen Reden schickten und, nicht aus Unverstand, sondern aus offener Feindschaft gegen die Revolution, die Bulygin-Duma unterstützten. Nach dem Oktober 1905 aber taten die Liberalen nichts weiter, als dass sie die Sache der Volksfreiheit auf Schritt und Tritt schmählich verrieten.

Im November 1905 schickten sie Herrn Struve zu intimen Unterhaltungen zu Herrn Witte. Im Frühjahr 1906 arbeiteten sie dem revolutionären Boykott entgegen, sie lehnten es ab, sich vor ganz Europa offen gegen die Anleihe auszusprechen, und verhalfen dadurch der Regierung zu den Milliarden, die sie für die Eroberung Russlands brauchte. Im Sommer 1906 kuhhandelten sie von hinten herum mit Trepow über Ministerportefeuilles und bekämpften in der I. Duma die „Linken", d. h. die Revolution. Im Januar 1907 schweifwedelten sie wieder vor den Polizeibehörden (Besuch Miljukows bei Stolypin). Im Frühjahr 1907 unterstützten sie die Regierung in der II. Duma. Die Revolution bewirkte eine ungewöhnlich rasche Entlarvung des Liberalismus und deckte in der Tat seine konterrevolutionäre Natur auf. In dieser Beziehung war die Zeit der Verfassungshoffnungen für das Volk durchaus nicht ohne Nutzen. Die Erfahrungen der I. und II. Duma haben nicht nur die grenzenlose Jämmerlichkeit der Rolle zu erkennen gelehrt, die der Liberalismus in unserer Revolution spielt. Nein, sie liquidierten auch in der Tat den Versuch, die demokratische Bewegung durch eine Partei zu führen, die nur von politischen Säuglingen oder altersschwachen Greisen als eine wirklich konstitutionell-„demokratische" betrachtet werden kann.

1905 und Anfang 1906 war die Klassenzusammensetzung der bürgerlichen Demokratie in Russland noch nicht allen klar. Die Hoffnung, der Absolutismus ließe sich mit einer wirklichen Vertretung nennenswert breiter Volksmassen vereinigen, war nicht nur bei den unwissenden und eingeschüchterten Einwohnern verschiedener Krähwinkel zu finden. Auch den herrschenden Kreisen des Absolutismus war diese Hoffnung nicht fremd. Warum stand nach dem Wahlgesetz zur Bulygin- und zur Witte-Duma der Bauernschaft eine bedeutende Vertretung zu? Weil der Glaube an die monarchistische Stimmung des Dorfes noch stark war. „Der einfache Bauer wird uns retten" – dieser Ausruf der Regierungszeitung im Frühjahr 1906 brachte die Hoffnung der Regierung auf den konservativen Geist der Bauernschaft zum Ausdruck.2 Die Kadetten begriffen damals nicht den Antagonismus zwischen dem Demokratismus der Bauernschaft und dem Liberalismus der Bourgeoisie, ja sie hatten sogar Befürchtungen wegen der Rückständigkeit der Bauernschaft und wünschten nur das eine, die Duma möge dazu beitragen, den konservativen oder gleichgültigen Bauer in einen liberalen zu verwandeln. Im Frühjahr 1906 sprach Herr Struve einen kühnen Wunsch aus, als er schrieb: „Der Bauer wird in der Duma Kadett sein".3 Im Sommer 1907 entrollte derselbe Struve die Fahne des Kampfes gegen die Trudowiki- oder linken Parteien als gegen das Haupthindernis für die Abmachung zwischen dem bürgerlichen Liberalismus und dem Absolutismus. Binnen anderthalb Jahren vertauschten die Liberalen die Losung des Kampfes für die politische Aufklärung der Bauernschaft mit der Losung des Kampfes gegen den politisch „allzu" aufgeklärten und anspruchsvollen Bauer!

Dieser Losungswechsel bringt den vollen Bankrott des Liberalismus in der russischen Revolution mit aller denkbaren Klarheit zum Ausdruck. Der Klassengegensatz zwischen den demokratischen ländlichen Bevölkerungsmassen und den fronherrlichen Gutsbesitzern erwies sich ungleich tiefer, als die feigen und stumpfsinnigen Kadetten es sich vorstellen. Das war der Grund dafür, dass ihr Versuch, im Kampf um die Demokratie die Hegemonie zu übernehmen, so rasch und so endgültig zusammenbrach. Daher erlitt auch ihre ganze „Linie", die kleinbürgerliche demokratische Volksmasse mit den oktobristischen und reaktionären Gutsbesitzern zu versöhnen, Schiffbruch. Die große, wenn auch negative, Errungenschaft der konterrevolutionären Periode beider Dumas besteht in diesem Bankrott der verräterischen „Kämpfer" für „Volksfreiheit". Der unten geführte Klassenkampf warf diese Helden der Ministervorzimmer über Bord, machte aus diesen Prätendenten auf Führerschaft leicht konstitutionell angehauchte, einfache Lakaien des Oktobrismus.

Wer diesen Bankrott der Liberalen, deren Eignung als Kämpfer für die Demokratie oder zumindest als Kämpfer in den Reihen der Demokratie praktisch auf die Probe gestellt wurde, noch immer nicht sieht, der hat von der politischen Geschichte der beiden Dumas rein gar nichts begriffen. Die gedankenlose Wiederholung der auswendig gelernten Formel von der Unterstützung der bürgerlichen Demokratie verwandelt sich bei solchen Leuten in ein konterrevolutionäres Geplärre. Nicht bedauern müssen die Sozialdemokraten den Zusammenbruch der Verfassungsillusionen, sondern sie müssen sagen, was Marx über die Konterrevolution in Deutschland gesagt hat: das Volk hat das gewonnen, dass es seine Illusionen verloren hat. Der Gewinn der bürgerlichen Demokratie in Russland ist, dass sie untaugliche Führer und laue Verbündete verloren hat. Umso besser für die politische Entwicklung dieser Demokratie.

Nunmehr hat die Partei des Proletariats dafür zu sorgen, dass die reichen politischen Lehren unserer Revolution und Konterrevolution von den breiten Massen tiefer durchdacht und gründlicher verarbeitet werden. Die Periode des Ansturms gegen den Absolutismus hat die Kräfte des Proletariats zur Entfaltung gebracht, hat ihm die Grundlagen der revolutionären Taktik beigebracht, hat die Bedingungen für den Erfolg des unmittelbaren Massenkampfes aufgezeigt, durch den allein einigermaßen ernstliche Verbesserungen errungen werden können. Den Aktionen der proletarischen Hunderttausende, die gegen den alten Absolutismus in Russland tödliche Streiche führten, ging eine lange Periode der Vorbereitung der Kräfte des Proletariats, seiner Erziehung und Organisation voraus; dem Ausbruch des wahren Massenkampfes gingen langwierige, unsichtbare Bemühungen um die Führung aller Äußerungen des Klassenkampfes des Proletariats, um die Schaffung einer festen, konsequenten Partei voraus und sicherten die Voraussetzungen für die Verwandlung dieses Ausbruchs in die Revolution. Nunmehr hat das Proletariat, als Vorkämpfer des Volkes, die Aufgabe, seine Organisation zu festigen, jeden Schimmel des Intellektuellen-Opportunismus von sich abzukratzen, seine Kräfte zu ebenso zäher, beharrlicher Arbeit zusammenzuschließen. Die Aufgaben, die der russischen Revolution durch den Gang der Geschichte und durch die objektive Lage der breiten Massen gestellt werden, harren noch ihrer Lösung. Die Elemente einer neuen politischen Krise des ganzen Volkes sind nicht nur nicht beseitigt, sondern im Gegenteil vertieft und erweitert. Das Eintreten dieser Krise wird das Proletariat wieder an die Spitze der allgemeinen Volksbewegung stellten. Diese Rolle zu spielen, muss die sozialdemokratische Arbeiterpartei bereit sein. Und auf einem Boden, gedüngt von den Ereignissen des Jahres 1905 und der darauffolgenden Jahre, wird die Saat eine zehnmal bessere Ernte zeitigen. Wenn einer Partei von einigen tausend klassenbewussten, fortgeschrittenen Arbeitern Ende 1905 eine Million Proletarier gefolgt ist, so wird jetzt unsere Partei, die in ihren Reihen Zehntausende in der Revolution geschulter und durch den Kampf mit der Arbeitermasse aufs Engste verbundener Sozialdemokraten zählt, zehn Millionen mitreißen und den Feind niederschlagen.

Unter dem Einfluss der revolutionären Ereignisse sind sowohl die sozialistischen als auch die demokratischen Aufgaben der Arbeiterbewegung in Russland ungleich deutlicher zum Ausdruck gelangt, nachdrücklicher in den Vordergrund getreten. Der Kampf gegen die Bourgeoisie erhebt sich auf eine höhere Stufe. Die Kapitalisten schließen sich zu allrussischen Verbänden zusammen, verbünden sich enger mit der Regierung, greifen häufiger zu den äußersten Mitteln des Wirtschaftskampfes und scheuen auch Massenaussperrungen nicht, um das Proletariat „klein zu kriegen". Doch nur sterbende Klassen fürchten sich vor Verfolgungen, das Proletariat hingegen wächst an Zahl und Geschlossenheit um so rascher, je rascher die Fortschritte der Herren Kapitalisten sind. Für die Unbesiegbarkeit des Proletariats bürgt die Wirtschaftsentwicklung sowohl Russlands wie der ganzen Welt. Erst während unserer Revolution begann sich die Bourgeoisie zu einer Klasse, zu einer geschlossenen und bewussten politischen Kraft heraus zu gestalten. Um so erfolgreicher wird auch die Organisierung der Arbeiter von ganz Russland zu einer einheitlichen Klasse vor sich gehen. Um so tiefer wird die Kluft zwischen der Welt des Kapitals und der Welt der Arbeiter, um so klarer wird das sozialistische Bewusstsein der Arbeiter sein. Die sozialistische Agitation unter dem Proletariat wird, durch die Erfahrungen der Revolution bereichert, bestimmter werden. Die politische Organisierung der Bourgeoisie ist der beste Anstoß zur endgültigen Herausgestaltung der sozialistischen Arbeiterpartei.

Die Aufgaben dieser Partei im Kampf um die Demokratie können von heute an nur unter „sympathisierenden" Intellektuellen, die auf dem Sprunge sind, zu den Liberalen überzugehen, Diskussionen hervorrufen. Den Arbeitermassen aber sind diese Aufgaben im Feuer der Revolution bis zur Greifbarkeit klar geworden. Dass die Bauernmassen die Grundlage, die einzige Grundlage der bürgerlichen Demokratie als einer geschichtlichen Kraft in Russland sind, das weiß das Proletariat aus Erfahrung. Die Rolle des Führers dieser Massen im Kampfe gegen die fronherrlichen Gutsbesitzer und den zaristischen Absolutismus hat das Proletariat bereits im allgemein-nationalen Maßstab übernommen und keine Kraft vermag mehr, die Arbeiterpartei vom richtigen Wege abzubringen. Die Rolle der liberalen Kadettenpartei, die unter falscher demokratischer Flagge die Bauernschaft unter die Fittiche des Oktobrismus bugsieren wollte, ist ausgespielt, und unbeirrt durch das Jammern einzelner wird die Sozialdemokratie die Massen weiterhin über diesen Bankrott der Liberalen aufklären, sie wird ihnen klarmachen, dass die bürgerliche Demokratie ihre Aufgabe nicht erfüllen kann, wenn sie sich nicht endgültig vom Bündnis mit den Lakaien des Oktobrismus lossagt.

Niemand kann heute sagen, wie sich die weiteren Geschicke der bürgerlichen Demokratie in Russland gestalten werden. Möglicherweise wird der Bankrott der Kadetten zur Entstehung einer bäuerlichen demokratischen Partei, einer wirklichen Massenpartei führen – nicht jener Terroristenorganisation, die die Sozialrevolutionäre noch immer sind. Möglich aber auch, dass die objektiven Schwierigkeiten für den politischen Zusammenschluss des Kleinbürgertums die Herausbildung einer solchen Partei verhindern und die bäuerliche Demokratie auf lange Zeit hinaus in ihrem gegenwärtigen Zustand einer formlosen, gallertartigen „Trudowiki"-Masse belassen werden. In dem einen wie im anderen Falle ist unsere Linie die gleiche: durch rücksichtslose Kritik an jeglichem Schwanken, durch unversöhnlichen Kampf gegen den Anschluss der Demokratie an den Liberalismus, der sein konterrevolutionäres Wesen vollauf bewiesen hat, schmieden wir die demokratischen Kräfte.

Je weiter die Reaktion geht, je zügelloser der reaktionäre Gutsbesitzer wütet, je mehr er sich den Absolutismus unterordnet, desto langsamer wird die Wirtschaftsentwicklung Russlands und seine Befreiung von den Überresten der Hörigkeit sein. Dies aber bedeutet: um so stärker und breiter wird sich der bewusste und kampfbereite Demokratismus in den Massen des städtischen und ländlichen Kleinbürgertums entwickeln. Um so stärker wird der Massenwiderstand gegen Hungersnöte, Gewalt und Verhöhnung sein, zu denen die Oktobristen die Bauernschaft verdammen wollen. Die Sozialdemokratie wird dafür sorgen, dass, wenn der Zeitpunkt des unvermeidlichen Aufschwungs des Kampfes um die Demokratie gekommen ist, die Bande der liberalen Streber, die sich Kadettenpartei nennt, nicht wieder die Reihen der Demokratie spalten und Verwirrung in sie hinein tragen kann. Entweder mit dem Volke oder gegen das Volk, – schon längst hat die Sozialdemokratie alle, die auf die Rolle „demokratischer" Führer der Revolution Anspruch erheben, vor diese Alternative gestellt. Nicht alle Sozialdemokraten haben es bisher verstanden, konsequent an dieser Linie festzuhalten; manche sind selber auf die Versprechungen der Liberalen hereingefallen, andere wollten das Techtelmechtel der Liberalen mit der Konterrevolution nicht sehen. Jetzt sind wir bereits durch die Erfahrungen der ersten zwei Dumas gewitzigt.

Aus der Revolution hat das Proletariat den Massenkampf gelernt. Die Revolution hat bewiesen, dass das Proletariat im Kampfe für die Demokratie die Bauernmassen mit sich fortreißen kann. Die Revolution hat einen engeren Zusammenschluss der rein proletarischen Partei bewirkt, hat kleinbürgerliche Elemente von ihr weggestoßen. Die Konterrevolution hat die kleinbürgerliche Demokratie davon abgebracht, sich in den Reihen des Liberalismus, der vor nichts so Angst hat, wie vor dem Massenkampf, Führer und Verbündete zu suchen. Gestützt auf diese Lehren der Ereignisse können wir der Regierung der Schwarzhunderter-Gutsbesitzer getrost zurufen: Nur immer so weiter, ihr-Herren Stolypin und Co.! Ihr sät, und wir werden ernten!

1 Die Worte „Feinde von links" entnahm W. I. Lenin dem Artikel Miljukows „Wir haben keine Feinde von links" („Rjetsch" 1907, Nr. 224 vom 5. IX. 22), wo es heißt: „Wir haben, ganz Russland hat Feinde von links … Wir sind unsere eigenen Feinde, wenn wir den Esel auf unserem eigenen Rücken schleppen wollen." Während der Wahlkampagne waren die Kadetten bemüht, sich in den Augen der Rechten von jedem Verdacht einer Verbindung mit der Linken, besonders mit den revolutionären Parteien, zu reinigen.

2 Die „Regierungszeitung" im Frühjahr 1906 ist „Russkoje Gossudarstwo" („Der Russische Staat"), offiziöses Blatt der Witte-Regierung, dessen Redakteur A. Gurjew war. „Der schlichte Bauer wird uns helfen" – ein Gedanke, der eine Zeitlang von den Regierungskreisen vertreten wurde, in der Meinung, eine breite Vertretung der Bauern werde für den Absolutismus von Vorteil sein. Das Wahlgesetz vom 11. Dezember 1906 wurde in der Hoffnung auf konservative Gesinnung der Bauernschaft erlassen: diesem Gesetz gemäß sollte in der Duma eine bäuerliche Mehrheit, die der Regierung Gefolgschaft leistet, zustande kommen.

3 Lenin zitiert die Worte P. B. Struves aus dem Aufsatz „Notizen eines Publizisten. Der Parteitag des ,Verbandes des 17. Oktober' und die Einberufung der Reichsduma", „Poljarnaja Swesda", Nr. 10 vom 23. (10.) November 1906.

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