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Wladimir I. Lenin 19071118 Vorbereitung einer „widerlichen Orgie"

Wladimir I. Lenin: Vorbereitung einer „widerlichen Orgie"

[Proletarij" Nr. 19, 18. (5.) November 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 136-142]

Bei einer Betrachtung der Aufgaben der Sozialdemokratie in der zweiten russischen Duma und der Bestrebungen der russischen Liberalen schrieb der bekannte deutsche Marxist Franz Mehring1, der deutsche Liberalismus gehe schon seit 60 Jahren einen elenden und schmachvollen Weg unter dem Deckmantel der Losung „positive Arbeit". Als in einer einzigen Sommernacht 1789 die Nationalversammlung die Befreiung der französischen Bauern vollzog, taufte der genial-feile Abenteurer Mirabeau, der größte Held der konstitutionellen Demokratie, dieses Ereignis mit dem geflügelten Wort „widerliche Orgie". Von unserem (vom sozialdemokratischen) Standpunkt aus war es positive Arbeit. Und umgekehrt, die Befreiung der preußischen Bauern, die sich im Schneckentempo 60 Jahre lang, von 1807 bis 1865, hinschleppte, wobei roh und mitleidslos eine Unzahl von Bauernleben geopfert wurde, war vom Standpunkt unserer Liberalen „positive Arbeit", über die sie nicht genug in die Posaune blasen können. Unserer Auffassung nach aber war es eine „widerliche Orgie".

So schrieb Mehring. Man kann nicht umhin, sich jetzt seiner Worte zu erinnern, wo die III. Duma zusammentritt, wo die Oktobristen im Begriff sind, an eine widerliche Orgie heranzugehen, wo die Kadetten bereit sind, sich mit Lakaieneifer an ihr zu beteiligen, und wo sich selbst unter den Sozialdemokraten – wir müssen es zu unserer Schande gestehen – die Plechanow-Anhänger finden, die bereit sind, bei dieser Orgie mitzuhelfen. Betrachten wir alle diese Vorbereitungen etwas näher.

Der Vorabend der III. Duma war gekennzeichnet durch eifrige Beratungen verschiedener Parteien über ihre Taktik in der Duma. Die Oktobristen arbeiteten in ihrer Moskauer Beratung einen Programmentwurf der Parlamentsfraktion des „Verbandes vom 17. Oktober" aus, und ihr Redner, Herr Plewako, schwang auf dem Bankett in Moskau „die Fahne der russischen liberalen Verfassungspartei". In drei oder vier Tagen waren die Kadetten mit ihrem 5. sogenannten „Parteitag" fertig. Die linken Kadetten wurden aufs Haupt geschlagen und gänzlich aus dem kadettischen ZK verjagt (das bei ihnen aus 38 Mitgliedern besteht, die in der „Partei" völlig das Heft in der Hand haben). Die rechten Kadetten erhielten volle Aktionsfreiheit im Geiste des „Referats über die Taktik in der III. Duma", dieser bemerkenswerten „geschichtlichen" Rechtfertigung der „widerlichen Orgie". Die Sozialdemokraten begannen im ZK und in der Konferenz der Petersburger Organisation der SDAPR mit der Erörterung der in der III. Duma zu befolgenden Taktik.

Das Parlamentsprogramm der Oktobristen zeichnet sich durch das offene Eingeständnis jener konterrevolutionären Politik aus, die im Grunde genommen in der II. Duma, unter dem Deckmantel von allerhand Phrasen und Ausreden, auch von den Kadetten getrieben wurde. So z. B. erklären die Oktobristen offen, die Revision der Grundgesetze und des Wahlgesetzes sei „unzeitgemäß": zuerst möge vermittelst „einer Reihe unaufschiebbarer Reformen" Beruhigung geschaffen und „der Kampf der Leidenschaften und Klasseninteressen aufgehoben" werden. Direkt ausgesprochen haben das die Kadetten nicht, aber gehandelt haben sie in der II. Duma eben in dieser Weise und nicht anders. Ein weiteres Beispiel: die Oktobristen sprechen sich „für Heranziehung eines möglichst breiten Personenkreises zur Beteiligung an der Selbstverwaltung" aus, zugleich aber auch für „Sicherung einer entsprechenden Vertretung" für den Adel. Diese offen konterrevolutionäre Gesinnung ist ehrlicher als die kadettische Politik – das allgemeine, direkte, gleiche und geheime Wahlrecht zu versprechen, in Wirklichkeit aber sowohl in der I. als auch in der II. Duma gegen diese Art der Wahl lokaler Agrarkomitees verzweifelt zu kämpfen und die Zusammensetzung dieser Komitees aus Bauern und Gutsbesitzern zu gleichen Teilen vorzuschlagen, was eben auf „Sicherung einer entsprechenden Vertretung" für den Adel hinausläuft. Ein weiteres Beispiel: Die Oktobristen lehnen eine Zwangsenteignung des gutsherrlichen Bodens offen ab. Die Kadetten „erkennen sie an", doch diese Anerkennung ist so beschaffen, dass sie in der II. Duma, als es sich darum handelte, die Agrardebatte durch eine allgemeine, die Anerkennung der Zwangsenteignung enthaltende Resolution abzuschließen, mit den Rechten gegen die Trudowiki und die Sozialdemokraten stimmten.

Unter der Bedingung der Verankerung der „Siege" der Konterrevolution sind die Oktobristen bereit, beliebige liberale Reformen zu versprechen – sowohl „Erweiterung der Budgetrechte der Duma" (alle Achtung!) als auch „Erweiterung ihrer Aufsichtsrechte über die Gesetzmäßigkeit der Regierungstätigkeit", Sicherung der Selbständigkeit der Gerichte, „Aufhebung der Beschränkungen für wirtschaftliche Arbeiterorganisationen und ökonomische Streiks („sofern staatliche und öffentliche Interessen von ihnen nicht bedroht sind"), „Festigung der Grundlagen der rechtmäßigen bürgerlichen Freiheit" usw. usf. Die Regierungspartei der „Oktoberleute" wirft ebenso freigebig mit „liberalen" Phrasen um sich, wie die Stolypin-Regierung selber.

Wie stellten nun die Kadetten auf ihrem Parteitag die Frage ihrer Haltung gegenüber den Oktobristen? Die linken Kadetten erwiesen sich als ein Häuflein von Schreihälsen, die es nicht einmal verstanden haben, die Frage richtig zu stellen. Die Masse der rechten Ritter des verkleideten Oktobrismus aber schloss sich fest zusammen, um die Wahrheit in der niederträchtigsten Weise zu vertuschen. Die Hilflosigkeit der linken Kadetten trat am deutlichsten in ihrem Resolutionsentwurf zutage: im ersten Punkt werden die Kadetten aufgefordert, „auf schroff oppositionellem Boden zu verharren und eine Annäherung an die ihr (der Partei der Kadetten) geistes- und programmfremden Oktobristen abzulehnen". Der zweite Punkt aber fordert sie auf, „die Unterstützung von Gesetzentwürfen nicht zu verweigern, die das Land den Weg der Befreiung und der demokratischen Reformen führen, woher sie auch kommen mögen". Das ist schon einfach lächerlich, denn von niemand anders als von den Oktobristen können in der III. Duma Gesetzentwürfe ausgehen, die eine Mehrheit finden können! Die Herren linken Kadetten haben ihre Niederlage vollkommen verdient, denn sie haben sich wie elende Feiglinge oder Narren benommen, nicht fähig, klipp und klar auszusprechen, dass es einfach unanständig ist, in einer solchen Duma gesetzgeberische Absichten zu haben, und dass eine gemeinsame Abstimmung mit den Oktobristen eine Unterstützung der Konterrevolution ist. Einzelne linke Kadetten waren sich augenscheinlich darüber klar, doch als Salondemokraten, die sie sind, bekamen sie es auf dem Parteitag mit der Angst zu tun. Wenigstens gibt Herr Schilkin im „Towarischtsch" folgende private Äußerung des Kadetten Safonow wieder:

Die Fraktion der Kadetten müsste jetzt, meiner Meinung nach, die Stellung der Trudowikigruppe der I. Duma einnehmen. Opposition, eindrucksvolle Reden – und sonst nichts. Sie aber wollen Gesetze machen. In welcher Weise? Freundschaft, Bündnis mit den Oktobristen? Ein sonderbarer Hang nach rechts! Das ganze Land steht links, wir aber schauen nach rechts." („Towarischtsch" Nr. 407.)2

Scheinbar hat Herr Safonow manchmal lichte Augenblicke von Scham und Gewissen ... aber nur privatim!

Dafür aber ließen Herr Miljukow und seine Bande ihre alten Qualitäten als scham- und gewissenlose Streber in hellstem Lichte erstrahlen. In der beschlossenen Resolution wurde der Kern der Sache vertuscht, um das breite Publikum zu narren, so wie die liberalen Helden der Parlamentsprostitution stets das Volk genarrt haben. In der Resolution des Parteitags („Thesen") steht kein einziges Wort über die Oktobristen!! Unglaublich, aber wahr. Den eigentlichen Kern des Parteitags der Kadetten bildete die Frage der gemeinsamen Abstimmung von Kadetten und Oktobristen. Um diesen Punkt drehte sich die ganze Diskussion. Die ganze Kunst der bürgerlichen Politikaster besteht jedoch gerade darin, die Massen zu betrügen, die Gaunerkniffe, die sie im Parlament anwenden, zu verheimlichen. Die vom Parteitag der Kadetten am 26. Oktober beschlossenen „taktischen Thesen" sind ein klassisches Dokument, das uns zeigt, erstens, wie die Kadetten sich mit den Oktobristen verschmelzen, und zweitens, wie Resolutionen geschrieben werden, die für die Beschwindelung der Massen durch die Liberalen bestimmt sind. Dieses Dokument muss man mit dem „Parlamentsprogramm" des „Verbandes vom 17. Oktober" vergleichen. Man muss dieses Dokument mit dem „Referat über Taktik" vergleichen, das Miljukow auf dem Parteitag der Kadetten erstattet hat („Rjetsch" Nr. 255). Hier die wichtigsten Stellen dieses Referats:

In die Opposition gedrängt, wird die Partei trotzdem" (ganz richtig – trotzdem!) „nicht die Rolle einer unverantwortlichen Minderheit spielen in dem Sinne, wie sie selbst diese Bezeichnung zur Kennzeichnung des Verhaltens der extremen Linken in der Duma gebraucht hat" (aus dem Parlamentarischen ins Einfache und Deutliche übersetzt, heißt dies: seid doch so gütig, liebe Herren Oktobristen, gebt uns ein Plätzchen, wir sind ja nur dem Namen nach Opposition!). „Sie wird die Duma nicht als Mittel zur Vorbereitung von Aktionen außerhalb ihrer Mauern betrachten, sondern als oberstes Staatsorgan, ausgestattet mit einem gesetzlichen, genau festgelegten Anteil an der höchsten Gewalt" (sind die Oktobristen nicht ehrlicher, wenn sie offen sagen: Revision der Grundgesetze ist unzeitgemäß?). „Wie in die beiden ersten, geht die Partei in die III. Duma mit der festen Absicht, an deren gesetzgeberischer Arbeit aktiven Anteil zu nehmen. Diese Art Tätigkeit betrachtete die Partei stets als die wichtigste und grundlegendste und setzte sie sowohl den Agitationszwecken der Linken als auch der konspirativen Tätigkeit der Rechten entgegen."

Nun, was die „Konspiration" anbelangt, so lügt ihr, liebe Herren, ebenfalls, denn in beiden Dumas habt ihr mit den Ministern oder ihren Lakaien konspiriert! Verzicht auf Agitation aber ist völliger und endgültiger Verzicht auf Demokratie.

Um sich in der III. Duma gesetzgeberisch zu betätigen, muss man sich so oder so, direkt oder indirekt, mit den Oktobristen verbünden, sich ganz und gar auf den Boden der Konterrevolution und der Verteidigung ihrer Siege stellen. Die Kadetten suchen diese offenkundige Tatsache zu verschweigen. Doch sie verplappern sich an einer anderen Stelle des Referats:

Die Ausübung der gesetzgeberischen Initiative muss von der vorhergehenden Klarstellung der praktischen Durchführbarkeit der Parteientwürfe abhängig gemacht werden."

Die praktische Durchführbarkeit hängt von den Oktobristen ab. Die Durchführbarkeit klarstellen, heißt über die Hintertreppe zu den Oktobristen gehen. Die Initiative von dieser Klarstellung abhängig machen, heißt den Oktobristen zu Gefallen Gesetzentwürfe beschneiden, heißt die eigene Politik von den „Oktoberleuten" abhängig machen.

Ein Mittelding gibt es nicht, Herrschaften. Man ist entweder eine wirkliche Oppositionspartei und folglich unverantwortliche Minderheit, oder aber eine Partei aktiver konterrevolutionärer Gesetzgebung, dann aber heißt das, den Oktobristen Lakaiendienste leisten. Die Kadetten haben das zweite gewählt, und zum Lohn dafür wird die reaktionäre Duma, wie es heißt, den rechten Kadetten Maklakow ins Präsidium wählen! Maklakow hat es verdient.

Aber wie haben sich Sozialdemokraten finden können, die gar jetzt noch imstande sind, von einer Unterstützung der Kadetten zu reden? Diese Sozialdemokraten sind aus dem Spießergeist der Intellektuellen, aus dem Philistertum des ganzen russischen Lebens entstanden. Solche Sozialdemokraten hat die Plechanowsche Vulgarisierung des Marxismus großgezogen. Auf der Konferenz der Petersburger sozialdemokratischen Organisation stellte es sich heraus, dass die Menschewiki, dem Beispiel der rechten Duma folgend, noch weiter nach rechts gehen. Sie sind bereit, die Oktobristen, d. h. eine Regierungspartei, zu unterstützen! Warum sollten denn die Sozialdemokraten nicht für Chomjakow stimmen, der besser ist als Bobrinski? Es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit! Warum nicht für Bobrinski stimmen, wenn man nur zwischen ihm und Purischkewitsch die Wahl hat? Warum nicht die Oktobristen gegen die Schwarzhunderter unterstützen, wo doch Marx gelehrt hat, die Bourgeoisie gegen die Feudalen zu unterstützen?3

Ja, wir schämen uns, es zu gestehen, es wäre aber Sünde, es zu verheimlichen, dass Plechanow seine Menschewiki zu einer unendlichen Schändung der Sozialdemokratie herabsinken ließ. Der richtige „Mann im Futteral", wiederholte er in einem fort die auswendig gelernten Worte von der „Unterstützung der Bourgeoisie" und trübte schließlich durch sein Einpauken jedes Verständnis für die besonderen Aufgaben und Bedingungen des Kampfes des Proletariats in der Revolution und des Kampfes gegen die Konterrevolution. Bei Marx dreht sich die ganze Analyse der revolutionären Epochen um den Kampf der wahren Demokratie und besonders des Proletariats gegen Verfassungsillusionen, gegen den liberalen Verrat, gegen die Konterrevolution. Plechanow anerkennt Marx – gefälscht à la Struve! Mag Plechanow jetzt ernten, was er gesät!

Der konterrevolutionäre Charakter des Liberalismus in der russischen Revolution ist durch den ganzen Lauf der Ereignisse vor und ganz besonders nach dem 17. Oktober erwiesen. Die III. Duma wird auch die Blinden sehend machen. Die Annäherung der Kadetten an die Oktobristen ist politische Tatsache. Durch keine Ausreden und Ausflüchte kann sie verdunkelt werden. Mag die Zeitung der stumpfsinnigen Bernsteinianer, „Towarischtsch", sich auf hilfloses Jammern darüber beschränken und, abwechselnd damit, die Kadetten zu den Oktobristen hin schubsen und politische Kuppelei treiben. Die Sozialdemokratie muss die Klassengründe des konterrevolutionären Wesens des russischen Liberalismus begreifen. Sie muss in der Duma alles Liebäugeln der Kadetten mit den Oktobristen, die ganze Niedertracht des quasi-demokratischen Liberalismus rücksichtslos entlarven. Die Arbeiterpartei wird jeden Gedanken vom „Hüten des Flämmchens" verächtlich von sich weisen, sie wird die Fahne des Sozialismus, die Fahne der Revolution entfalten.

1 Der Artikel von Mehring „Deutscher Liberalismus und russische Duma" wurde von Lenin übersetzt und ausgenützt im Aufsatz „Franz Mehring über die II. Duma", erschienen im März 1907 im Sammelbuch „Wioprossy momenta'' („Tagesfragen"), II (siehe sämtliche Werke, Bd. XI).

2 Lenin zitiert den Artikel von Schilkin „Aus dem Leben" im Towarischtsch" Nr. 407 vom 8. XI. (26. X.) 1907.

3 Lenin meint hier folgenden Satz aus dem Kommunistischen Manifest von Marx und Engels, Kap. IV: „In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei."

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