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Wladimir I. Lenin 19080527 Zehn Fragen an den Referenten

Wladimir I. Lenin: Zehn Fragen an den Referenten1

[Nach Sämtliche Werke, Band 13, Wien-Berlin 1927, S. 373 f.]

1. Erkennt der Referent an, dass die Philosophie des Marxismus der dialektische Materialismus ist?

Wenn nicht, warum hat er sich auch nicht ein einziges Mal mit den zahlreichen diesbezüglichen Erklärungen Engels' auseinandergesetzt?

Wenn ja, warum nennen die Machisten ihre „Revision" des dialektischen Materialismus „Philosophie des Marxismus"? (Siehe „Sammelbuch der Machisten", S. 234.2)

2. Erkennt der Referent an, dass Engels eine grundlegende Einteilung der philosophischen Systeme in Materialismus und Idealismus vornimmt, wobei er die Linie Humes in der neueren Philosophie als eine mittlere, zwischen Materialismus und Idealismus schwankende bezeichnet, sie „Agnostizismus" nennt und den Kantianismus für eine Abart des Agnostizismus erklärt?3

3. Erkennt der Referent an, dass der Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus die Anerkennung der Außenwelt und deren Widerspiegelung im Kopfe des Menschen zugrunde liegt?

4. Erkennt der Referent Engels' Auffassung der Verwandlung der „Dinge an sich" in „Dinge für uns" als richtig an? („Feuerbach", S. 15 u. 65.)

5. Erkennt der Referent die Behauptung Engels', dass „die wirkliche Einheit der Welt in ihrer Materialität besteht", als richtig an? („Anti-Dühring", 2. Aufl., S. 28, 1. Abschnitt, § III über Apriorismus"4, S. 31.)

6. Erkennt der Referent die Behauptung Engels', dass „Materie ohne Bewegung ebenso undenkbar ist, wie Bewegung ohne Materie", als richtig an? („Anti-Dühring", 1886, 2. Aufl., S. 45, § VI über Naturphilosophie, Kosmogenie, Physik und Chemie, S. 50.)

7. Erkennt der Referent an, dass die Idee der Kausalität, der Notwendigkeit, der Gesetzmäßigkeit usw. die Widerspiegelung der Naturgesetze, der wirklichen Welt im Kopfe des Menschen ist? Oder war Engels im Unrecht, als er dies behauptete? („Anti-Dühring", S. 20 u. 21 im § III über Apriorismus und S. 103 u. 104 § XI über Freiheit und Notwendigkeit.)

8. Ist dem Referenten bekannt, dass Mach sich mit dem Haupt der Immanentenschule, Schuppe, einverstanden erklärt und ihm sogar sein letztes und wichtigstes philosophisches Werk gewidmet hat? Wie erklärt sich der Referent diesen Anschluss Machs an die offen idealistische Philosophie Schuppes, eines Verteidigers des Pfaffentums und überhaupt eines offenen Reaktionärs in der Philosophie?

9. Warum hat der Referent den „Vorfall" mit seinem gestrigen Genossen (aus den „Beiträgen"5), dem Menschewik Juschkewitsch, verschwiegen, der heute Bogdanow (wie Rachmetow es tut) für einen Idealisten erklärt hat? Ist dem Referenten bekannt, dass Petzoldt in seinem letzten Werk eine ganze Reihe von Machs Schülern zu den Idealisten rechnet?

10. Gibt der Referent die Tatsache zu, dass Machismus mit Bolschewismus nichts gemein hat? Dass Lenin gegen den Machismus wiederholt protestiert hat? Dass die Menschewiki Juschkewitsch und Valentinow „reine" Empiriokritiker sind?

1 Der Referent, an den die „Zehn Fragen" gerichtet waren, ist A. Lunatscharski, der heutige Volkskommissar für Volksbildung der RSFSR (die Volksbildung ist autonome Angelegenheit jeder Sowjetrepublik des Bundes; ein Bundesvolkskommissariat für Volksbildung besteht nicht). Lunatscharski hatte im Herbst 1908 in Genf einen öffentlichen Vortrag über philosophische Fragen angekündigt. Lunatscharski war, wie der Leser aus „Materialismus und Empiriokritizismus“ entnehmen wird, Anhänger der philosophischen Richtung A. Bogdanows, von dem er sich bloß durch eine religiöse Schattierung unterschied. Lenin war damals gerade mit der Abfassung des „Materialismus und Empiriokritizismus" beschäftigt. Er war aber der Ansicht, es müsse gegen den Empiriokritizismus noch vor der Veröffentlichung seines Werkes öffentlich Stellung genommen werden. Dies war um so notwendiger, als die Menschewiki (Plechanow) die philosophische Entgleisung Bogdanows und Lunatscharskis, die beide Mitglieder des bolschewistischen Zentrums waren, politisch gegen die Bolschewiki auszuschlachten suchten.

Mit der Entgegnung auf Lunatscharskis Rede wurde von Lenin der Genosse I. F. Dubrowinski, Mitglied der Redaktion des bolschewistischen Organs „Proletarij" (Der Proletarier) betraut, der die philosophischen Ansichten Lenins teilte. Zu diesem Zwecke entwarf Lenin die zehn Fragen. Nach dem Vortrag Lunatscharskis griff Dubrowinski den Referenten scharf an, was eine heftige Replik Bogdanows auslöste. In der Genfer Gruppe bolschewistischer Emigranten wurde dann über die Frage weiter lebhaft diskutiert. Damit war der Hauptzweck erreicht: eine öffentliche Abgrenzung der bolschewistischen Fraktion von A. Bogdanow und seinen Gesinnungsgenossen (siehe auch das Vorwort von A. Deborin, S. XV des vorliegenden Bandes).

2 Gemeint ist das von Lenin in „Materialismus und Empiriokritizismus“ oft zitierte und kritisierte Sammelbuch: „Beiträge zur Philosophie des Marxismus" mit Artikeln von W. Basarow, J. Berman, A. Lunatscharski, P. Juschkewitsch, A. Bogdanow, O. Helfond und S. Suworow

3 Diese Stelle beweist aufs neue, welche große Bedeutung Lenin der Einschätzung der Kantschen Erkenntnistheorie als einer Art Agnostizismus beimaß. Von der Billigung der Auffassung Engels' in dieser, wie auch in der Frage der „Widerspiegelung" (vgl. auch 7. Frage) hänge nach Lenin ab, ob jemand in der Philosophie Marxist sei oder nicht. Das muss besonders hervorgehoben werden, da vor wenigen Jahren erneut versucht worden ist, eine angebliche kommunistische Philosophie in der Art der russischen Machisten zu begründen. Dieselben Worte Engels' und dessen Widerspiegelungstheorie, von denen hier die Rede ist, wurden zum Zwecke der Darstellung einer angeblich kommunistischen Philosophie im Gegensatz zur Erkenntnistheorie des dialektischen Materialismus von einem unverhüllt idealistischen Standpunkt aus „kritisiert" (Lukacs – Korsch). Die Übereinstimmung mit den Machisten geht bis ins Einzelne. So leugnet z. B. Lukacs ebenfalls, dass Kant ein Agnostiker gewesen sei, d. h. eine Erkenntnis der objektiven Welt für unmöglich gehalten habe.

4 Offenbar ein Schreibfehler: der Engelssche Satz: „Die wirkliche Einheit der Welt besteht in ihrer Materialität" befindet sich nicht in § III, sondern in § IV über Weltschematik; die angegebene Seite 31 (ebenso die in der 6. Frage am Schluss angegebene Seite 50) bezieht sich auf die späteren Auflagen des „Anti-Dühring". Wahrscheinlich hat Lenin diese Seitenzahlen hinzugefügt, um Dubrowinski das Auffinden dieser Stellen zu erleichtern.

5 Gemeint ist dasselbe „Sammelbuch", von dem in Frage 1 die Rede ist.

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