Lenin‎ > ‎1908‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19081126 Wie Plechanow und Konsorten den Revisionismus verteidigen

Wladimir I. Lenin: Wie Plechanow und Co. den

Revisionismus verteidigen

[Proletarij" Nr. 39, 26. (13.) November 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 479-483]

Die Anmerkung der Redaktion des „Golos Sozialdemokrata", d. h. Plechanows und Co., zum Brief des Genossen Maslow, mit dem wir uns im „Proletarij" Nr. 37 beschäftigt haben, ist auf einem besonderen Blatt als „Beilage" zu Nr. 8/9 des „Golos Sozialdemokrata" erschienen.

Diese „Anmerkung", im Umfang etwa einer halben Spalte des „Proletarij", verdient die Aufmerksamkeit der russischen Sozialdemokraten, denn sie zeigt, wie Plechanow und Co. aus kleinlichen Fraktionsrücksichten es so weit gebracht haben, dass sie den theoretischen Revisionismus mit Hilfe unwürdigster Sophismen verteidigen. Hier die Tatsachen:

Wir sind entschiedenste und absolut unversöhnliche Gegner jener Revision des Marxismus, die unter dem reaktionären Einfluss der Ideologen der westeuropäischen Bourgeoisie vor sich geht und bestrebt ist, die Grundlagen der philosophischen, soziologischen und ökonomischen Lehren von Marx und Engels zu untergraben".

So lautet der erste Satz der Anmerkung. „Entschiedenste und absolut unversöhnliche Gegner" – nicht wahr, man kann sich wohl schwerlich schärfer ausdrücken? Es ist auch schwer, eine großspurigere Formulierung der Versprechungen von Plechanow und Co. zu finden.

Aber … das ist ja eben der Kern der Sache, dass bei unsern „unversöhnlichen" Feinden des Revisionismus Maslow gegenüber (die Anmerkung Plechanows und Co. bezieht sich ja gerade auf den Artikel Maslows. gerade auf die Frage des Revisionismus Maslows) ein merkwürdiges „Aber" in Erscheinung tritt.

Wir waren aber niemals Sektierer des Marxismus – erklären Plechanow und Co. –, und wir begreifen wohl, dass man in der einen oder anderen Frage von Marx und Engels abweichen kann und dabei weder ihren Standpunkt zu verleugnen noch ihre Methode abzulehnen braucht, sondern beiden vollkommen treu bleibt".

Es folgt ein Beispiel: In der Frage der „Entstehung des Matriarchats" „weicht" der Sozialdemokrat Cunow „teilweise von Engels ab"; doch „nur einem kranken Menschen wird es einfallen, ihn aus diesem Grunde zum Revisionisten zu stempeln".1

Durch Obiges wird auch unsere Einstellung gegenüber den Auffassungen des Genossen Maslow über die Marxsche Rententheorie bestimmt. Wir teilen diese Auffassung nicht (Anmerkung des „Golos Sozialdemokrata": „Genosse Martynow hat in Nr. 1 des „Golos" entsprechende Vorbehalte gemacht und speziell erklärt, er sei mit der vom Genossen Maslow vorgenommenen Korrektur an der Lehre von der absoluten Rente nicht einverstanden"2), aber wir vermögen darin keinen Revisionismus zu erblicken."

Jetzt sieht der Leser den Gedankengang von Plechanow und Co. Wir sind „absolut unversöhnliche Gegner des Revisionismus", aber – „wir vermögen darin (in den Auffassungen Maslows über die Theorie der absoluten Rente) keinen Revisionismus zu erblicken". Der Revisionismus untergräbt die Grundlagen der Marxschen Lehre, Maslow aber weicht von Marx nur in einer Einzelfrage ab – dies ist die Verteidigung Plechanows und Co.. endgültig erläutert durch das Beispiel von Cunow.

Wir fragen jeden einigermaßen denkenden und einigermaßen unparteiischen Leser: Ist dies kein Sophismus? Die Marxsche Theorie der absoluten Rente ward zur „Einzelfrage" erklärt! Die Abweichung von der Rententheorie wird der „teilweisen Abweichung" Cunows von Engels in der Frage der Entstehung dies Matriarchats gleichgesetzt! Plechanow und Co. halten ihre Menschewiki, denen sie solche Erläuterungen auftischen, offenbar für kleine Kinder. Nur bei vollstem Mangel jeglicher Achtung vor sich selbst und den Lesern kann man sich in prinzipiellen Fragen von größter Bedeutung dergleichen Clown-Kunststücke leisten. Plechanow selber (und Co.) leitet ja seine Erläuterung mit einem feierlichen Satz ein, worin er den Revisionismus als Untergrabung der Grundlagen der Lehren von Marx und Engels bezeichnet. Was nun? Verleugnen Plechanow und Co. diesen Satz, wenn es sich um Maslow handelt? Ja oder nein? Oder verfolgen Plechanow und Co. mit ihrer Anmerkung den Zweck, ihre wahren Gedanken zu verbergen?

Maslow erklärte in einer Reihe von Aufsätzen und in einer Reihe von Ausgaben seiner „Agrarfrage": 1. dass die Marxsche Theorie der absoluten Rente falsch sei, 2. dass das Erscheinen einer solchen Theorie nur durch den „Konzept"-Charakter des III. Bandes zu erklären sei, 3. dass der „abnehmende Bodenertrag" eine Tatsache sei, 4. dass, wenn die Theorie der absoluten Rente richtig und das „Gesetz des abnehmenden Bodenertrages" falsch wäre, in Russland die Narodniki und in der ganzen Welt die Revisionisten recht behalten könnten.

Gerade diese vier Punkte wurden in jenem Artikel des „Proletarij", mit dem die Polemik in dieser Frage eingesetzt hat, gegen Maslow angeführt. Man sehe nun, wie Plechanow und Co. verfuhren. Erstens beschränkten sie sich in aller Bescheidenheit auf die Frage der Rente, d. h. sie übergingen alle anderen mit Schweigen. Ist das keine Verteidigung des Revisionismus? Oder wird es vielleicht Plechanow und Co. einfallen zu leugnen, dass die Revision der Marxschen Lehre von der Widersinnigkeit sowohl des Gesetzes als auch der „Tatsache" des abnehmenden Bodenertrages „unter dem reaktionären Einfluss der Ideologen der westeuropäischen Bourgeoisie vor sich geht"? Zweitens aber wird bei ihm die Lehre der absoluten Rente einer Einzelfrage gleichgesetzt, der („teilweisen") Abweichung in der Frage der Entstehung des Matriarchats!

Das sind Akrobaten-Stückchen, ihr Herren! Durch diese Akrobaten-Stückchen wollt ihr nur eure öffentliche Verteidigung des Revisionismus verschleiern. Denn ihr wagt es nicht, gerade heraus zu sagen, die Anerkennung der absoluten Rente und die Ablehnung des Gesetzes (oder der „Tatsache") des abnehmenden Bodenertrages sei keine „Grundlage" der ökonomischen Lehre von Marx auf dem Gebiete der Agrarfrage. Um euren Freund reinzuwaschen, fälscht ihr Marx im Maslowschen Geiste um und erklärt um Maslows willen die Abweichung von einer Grundlage der Marxschen Lehre zu einer „Einzelfrage". Dadurch bestätigt ihr das, was in Nr. 33 des „Proletarij" über die Famussows, die menschewistischen Theoretiker, gesagt wurde,3 die ihr Hausgesinde dadurch belohnen, dass sie die ökonomische Theorie von Marx zu einer „Einzelfrage" zu machen, sie der Frage der Entstehung des Matriarchats gleichzusetzen bereit sind.

Plechanow und Co. sind „unversöhnliche Feinde des Revisionismus" – doch wer Menschewik ist, der braucht diese schreckenerregenden Worte nicht zu fürchten! Der gehe zu der „Redaktion des ,Golos'" und wisse, dass Unversöhnlichkeit für Menschewiki sehr versöhnlich ist, so versöhnlich, dass sie bereit ist, die „Untergrabung der Theorie" einer „Differenz über die Entstehung des Matriarchats" gleichzusetzen. Sündenerlass zu billigen Preisen, der Ausverkauf beginnt, immer nur hereinspaziert, meine Herrschaften!

Aber weiter. Wir teilen nicht die Auffassung Maslows in der Rentenfrage – so erklären Plechanow und Co. Martynow hat es bereits ausdrücklich erklärt – schreiben sie.

Jener Mann, den die Redaktion des .Proletarij' als Schutzengel Maslows bezeichnet hat" (d. h. Plechanow), „hat bereits mehrfach (Hört! Hört!) mit Genossen Maslow über Fragen in der Presse polemisiert (vom „Golos" hervorgehoben), die in engstem Zusammenhange mit unserem Agrarprogramm stehen."

So heißt es wörtlich in der „Anmerkung" von Plechanow und Co.!

Lernt von eurer Redaktion Widerlegungen abzufassen, Genossen Menschewiki! Hier habt ihr ein in seiner Art klassisches Musterbeispiel. Es handelt sich um Revisionismus, der Streit begann um die Frage, ob es theoretische Unversöhnlichkeit oder nur kleinliche Fraktionsgehässigkeit war, die Plechanow bewogen hat, im Parteiorgan eine Reihe seiner Opponenten als „Herren" zu bezeichnen. In der „Widerlegung" aber heißt es: Plechanow hat „in der Presse mehrfach mit Maslow polemisiert" nicht über die Rente und auch nicht über die Abweichungen Maslows von der Marxschen Theorie.

Kann man einen parlamentarischen Ausdruck finden, um solche Methoden zu charakterisieren? Plechanow, der theoretische Diskussionen gern hat und es manchmal versteht, sie in Kampagnen zu verwandeln, hat kein einziges Mal mit Maslow darüber polemisiert, was seinen Revisionismus ausmacht, d. h. über die Leugnung der absoluten Rente, über die Bezeichnung dieser Theorie als „Konzept", über die Verteidigung der „Tatsache" des abnehmenden Bodenertrages, darüber, ob die Narodniki und Revisionisten recht behalten könnten, wenn nicht Maslow die Theorie Marxens widerlegt hätte. Niemals hat Plechanow darüber polemisiert, sondern über etwas ganz anderes, gerade über Einzelheiten, die jetzt von den Tartuffes des Menschewismus hinter dem raffiniert unklaren, den Leser bewusst irreführenden, diplomatisch verzwickten Ausdruck: „Fragen, die in engem Zusammenhange mit unserem Agrarprogramm stehen" versteckt werden!

Ausgezeichnet, nicht wahr? Wie soll man da nicht Plechanow und Co. zu einem solchen Anfang der Verteidigung des Revisionismus beglückwünschen! Wie soll man sich da nicht der Politikaster vom Schlage Clemenceaus erinnern! Clemenceau ist ein „unversöhnlicher" Feind der Reaktion, er hat „mehrfach mit ihr polemisiert", doch jetzt arbeitet die Reaktion, Clemenceau aber „macht Vorbehalte" und – leistet Lakaiendienste. Plechanow ist ein „unversöhnlicher" Feind des Revisionismus. Plechanow „polemisierte mehrfach" mit Maslow (über was man will – mit Ausnahme des Maslowschen Revisionismus). Heute schreibt Maslow gegen Marx, Maslow wiederholt seine Argumente gegen die Marxsche Theorie in den Spalten des „Golos". Plechanow und Co. aber machen nur Vorbehalte!

Kauft also Sündenerlass, ihr Herren Literaten! Schreibt euch bei den Menschewiki ein! Morgen dürft ihr im „Golos" auch die Marxsche Werttheorie widerlegen – mit dem Vorbehalt der Redaktion, sie sei „nicht einverstanden".

Wird der ,Proletarij' nicht versuchen – fragen uns Plechanow und Co. in ihrer Anmerkung –, seine Behauptung, die Maslowschen Ausführungen über die absolute Rente stünden im Zusammenhang mit dem die Nationalisierung ablehnenden Programm, zu begründen?"

Mit Vergnügen, liebe „Unversöhnlichen". Da habt ihr für den Anfang die erste kurze Begründung:

Ist es möglich, die Bedeutung des Privateigentums am Boden als Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen, wenn man die Marxsche Theorie der absoluten Rente nicht begreift?"

Haltet Rat mit Maslow, oh ihr „unversöhnlichen" Plechanow und Co., und beantwortet uns diese Frage, die euch die gewünschte Begründung gibt!

1 Die grundlegende Arbeit, in der H. Cunow seine Auffassungen über den Ursprung der Familie darlegt, ist: „Die Verwandtschaftsorganisationen der Australneger. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Familie", Stuttgart 1894. Über dasselbe Thema veröffentlichte H. Cunow eine Reihe von Artikeln in der „Neuen Zeit". Als Beilage zur „Neuen Zeit" erschien 1912-13 die Schrift Cunows „Zur Geschichte der Ehe und Familie", in der das ganze System der Auffassungen des Verfassers dargelegt wird.

2 In seiner Arbeit „Die Triebkräfte der russischen Revolution" („Golos Sozialdemokrata" Nr. 1–2) formuliert A. Martynow in der Anmerkung auf S. 13 sein Nichteinverständnis mit den Auffassungen Maslows folgendermaßen: „Indem ich das große theoretische Verdienst P. Maslows anerkenne, der zum ersten Mal vom marxistischen Standpunkt aus eine Theorie des Kampfes der Verpflegsrente gegen die kapitalistische gegeben hat, muss ich jedoch auf einen Mangel hinweisen, der sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht – Mangel an historischer Auffassung. Aus diesem Grunde sind seine ,Korrekturen' an Marx höchst misslungen, daher hat er auch die Marxsche Theorie der absoluten Rente nicht begriffen und sie ohne jeden Grund abgelehnt; ohne jeden Grund hat er auch das historisch beschränkte Gesetz der Agrar-Übervölkerung in der Ernährungswirtschaft zur absoluten Kategorie, zum allgemeinen Bevölkerungsgesetz erhoben, die historischen Wurzeln und Tendenzen unserer Dorfgemeinde übersehen usw." Bei dem Abdruck der Arbeit Martynows im Sammelband „Die soziale Bewegung", Bd. II, Teil 2, S. 309 ist diese Anmerkung weggelassen worden.

3 Hier meint Lenin sein Schreiben an Plechanow, veröffentlicht in einer Notiz „Von der Redaktion" nach dem Artikel „Wie Maslow die Konzepte von Karl Marx korrigiert". Er schrieb: „Wo bleibt denn Ihre Kritik an den revisionistischen Erfindungen des Genossen Maslow? Wo Ihre Verteidigung der ökonomischen Theorien von Karl Marx? Sie waren es doch, der Maslow in jeder Weise unterstützt und zu allem Ja und Amen gesagt hat. Die Famussows in unserer Partei haben nichts dagegen, sich als rücksichtslose Kämpfer für den Marxismus zu gebärden – doch um der Fraktions- und Vetternwirtschaft willen sind sie auch nicht abgeneigt, ernsteste Abweichungen vom Marxismus zu decken!"

Kommentare