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Wladimir I. Lenin 19080400 Zur Einschätzung der russischen Revolution

Wladimir I. Lenin: Zur Einschätzung der russischen Revolution

[Zum ersten Male veröffentlicht 1908 in der polnischen Zeitschrift „Przeglad Socjal-Demokratyczny" Nr. 2. Abgedruckt im „Proletarij" Nr. 30, 23. (10.) Mai 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 245-258]

In Russland wird jetzt niemand mehr daran denken, die Revolution nach Marx zu machen. So oder ungefähr so verkündete kürzlich eine liberale, ja fast demokratische, ja fast sozialdemokratische (menschewistische) Zeitung, die „Stolitschnaja Potschta".1 Man muss den Autoren dieses Ausspruchs Gerechtigkeit widerfahren lassen: sie haben es verstanden, das Wesen jener politischen Stimmung von heute und jener Einstellung zu den Lehren unserer Revolution richtig zu erfassen, die zweifellos in breitesten Kreisen der Intellektuellen, der halbgebildeten Spießbürger und wohl auch in vielen Schichten des gänzlich ungebildeten Kleinbürgertums herrscht.

In diesem Ausspruch äußert sich der Hass nicht nur gegen den Marxismus überhaupt, mit seiner unbeugsamen Überzeugung von der revolutionären Mission des Proletariats, seiner grenzenlosen Bereitschaft, jede revolutionäre Bewegung der breiten Massen zu unterstützen, den Kampf zu verschärfen und zu Ende zu führen. Nein. In dieser Äußerung gelangt auch der Hass gegen jene Kampf- und Aktionsmethoden, gegen jene Praxis zum Ausdruck, die erst ganz vor kurzem in der russischen Revolution praktisch erprobt worden sind. All die Siege – oder, richtiger gesagt, Halb- und Viertelsiege –. die unsere Revolution errungen hat, sind ausschließlich dem unmittelbaren revolutionären Ansturm des Proletariats zu verdanken, das an der Spitze der nichtproletarischen Elemente der werktätigen Bevölkerung marschiert ist. Alle Niederlagen sind durch die Schwächung dieses Ansturms bedingt, hängen mit einer Taktik zusammen, die ihn zu vermeiden sucht, die auf sein Fehlen und manchmal (bei den Kadetten) sogar direkt auf seine Beseitigung berechnet ist.

Heute, in einer Zeit, wo die Konterrevolution zügellos wütet, passt sich der feige Spießer den neuen Herrschern an, er macht sich bei den neuen Eintagsmachthabern lieb Kind, er sagt sich vom Alten los und ist bestrebt, es zu vergessen, er will sich selbst und anderen einreden, es falle in Russland niemand mehr ein, die Revolution nach Marx zu machen, niemand denke mehr an „Diktatur des Proletariats“ und so weiter.

Auch in anderen bürgerlichen Revolutionen hatte der physische Sieg der alten Macht über das aufständische Volk stets Hoffnungslosigkeit und Zerfall in breiten Kreisen der „gebildeten“ Gesellschaft zur Folge. Doch unter den bürgerlichen Parteien, die tatsächlich um Freiheit gekämpft, in wirklich revolutionären Ereignissen eine einigermaßen bedeutende Rolle gespielt hatten, waren stets Illusionen vorhanden, denen entgegengesetzt, die heute unter den intellektuellen Spießern in Russland herrschen. Es waren Illusionen eines unausbleiblichen, sofortigen und vollen Sieges der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, Illusionen über eine nicht bürgerliche, sondern die ganze Menschheit umfassende Republik, die Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen bringen werde. Es waren Illusionen über das Fehlen jeglicher Klassengegensätze innerhalb des von Monarchie und mittelalterlicher Ordnung unterdrückten Volkes, Illusionen über die Unmöglichkeit, mit roher Gewalt die „Idee“ niederzuzwingen, Illusionen über den absoluten Gegensatz zwischen dem Feudalismus, der sich bereits überlebt hat, einerseits und der neuen freien, demokratischen, republikanischen Ordnung anderseits, über deren bürgerlichen Charakter man sich gar nicht oder nur äußerst unklar Rechenschaft gab.

Daher mussten die Vertreter des Proletariats, die sich zum Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus durchgerungen hatten, in den konterrevolutionären Perioden (so z. B. 1850 Marx und Engels) gegen die Illusionen der bürgerlichen Republikaner kämpfen, gegen die idealistische Auffassung der Traditionen und des Wesens der Revolution, gegen oberflächliche Redensarten, die die ernste konsequente Arbeit unter einer bestimmten Klasse ersetzen sollten.2 Bei uns liegen die Dinge umgekehrt: wir sehen keine Illusionen primitiver republikanischer Gesinnung, die sich der dringenden Aufgabe der weiteren revolutionären Arbeit unter neuen, veränderten Bedingungen in den Weg stellen könnten. Wir sehen keine übertriebene Einschätzung der Republik, keine Verwandlung dieser im Kampf gegen Feudalismus und Monarchie notwendigen Losung in die allgemeine Losung eines jeden Befreiungskampfes aller Werktätigen und Ausgebeuteten überhaupt. Die Sozialrevolutionäre und die ihnen verwandten Gruppen, die ähnliche Ideen groß züchteten, blieben ein kleines Häuflein, und nach drei revolutionären Sturmjahren (1905–1907) erlebten sie statt der Begeisterung für die Republik die Entstehung einer neuen Partei des opportunistischen Spießertums, der Volkssozialisten, ein neues Erstarken des antipolitischen Aufwieglergeistes und des Anarchismus.

Im Philister-Deutschland traten bereits am Tage nach dem ersten Ansturm der Revolution von 1848 die Illusionen der kleinbürgerlichen republikanischen Demokratie deutlich zu Tage. Im Philister-Russland äußerten sich am Tage nach dem Ansturm der Revolution 1905 deutlich und äußern sich noch immer die Illusionen des kleinbürgerlichen Opportunismus, der einen Kompromiss ohne Kampf erhoffte, sich vor dem Kampfe fürchtete und nach der ersten Niederlage sich beeilt hat, seine Vergangenheit zu verleugnen, der die Öffentlichkeit mit Kleinmut, Mutlosigkeit und Renegatentum verseuchte.

Es ist klar, dass dieser Unterschied dem Unterschied in der sozialen Ordnung und in den historischen Begleitumständen beider Revolutionen entspringt. Nicht dass die Masse der kleinbürgerlichen Bevölkerung in Russland in minder scharfem Gegensatz zum alten Regime stünde. Gerade umgekehrt: unsere Bauernschaft hat bereits in der ersten Periode der russischen Revolution eine ungleich stärkere, bestimmtere, politisch bewusstere Agrarbewegung geschaffen als die Bauernbewegungen in allen vorherigen bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Die Schicht nämlich, die in Europa den Hauptkern der revolutionären Demokratie bildete – das zünftige städtische Handwerk, die städtische Bourgeoisie und das Kleinbürgertum – musste sich in Russland dem konterrevolutionären Liberalismus zuwenden. Das Klassenbewusstsein des sozialistischen Proletariats, das Schulter an Schulter mit der internationalen Armee der sozialistischen Umwälzung in Europa marschiert, der äußerst starke revolutionäre Geist des Muschik, der durch den jahrhundertelangen Druck der Fronherren in die verzweifeltste Lage und zur Forderung der Konfiskation des gutsherrlichen Bodens gebracht wurde – diese Tatsachen sind es, die den russischen Liberalismus in viel höherem Maße als den europäischen der Konterrevolution in die Arme getrieben haben. Der russischen Arbeiterklasse erwuchs daher mit besonderem Nachdruck die Aufgabe, die Traditionen des revolutionären Kampfes, von dem sich die Intellektuellen und das Kleinbürgertum so eilig lossagen, hochzuhalten, zu entwickeln und zu festigen, sie dem Bewusstsein breiter Volksmassen einzuprägen, sie bis zum nächstfolgenden Aufschwung der unvermeidlichen demokratischen Bewegung zu erhalten.

Diese Linie wird ganz spontan von den Arbeitern selbst durchgeführt. Zu leidenschaftlich haben sie den großen Oktober- und Dezemberkampf erlebt, zu klar haben sie die Änderung ihrer Lage einzig im Zusammenhang mit diesem unmittelbar revolutionären Kampf gesehen. Sie sagen heute alle, wie jener Weber – oder fühlen jedenfalls gleich ihm –, der in einem Brief an sein Gewerkschaftsorgan erklärte: die Unternehmer haben uns unsere Errungenschaften geraubt, die Werkführer verhöhnen uns ganz wie früher, aber wartet nur, das Jahr 1905 kommt wieder!

Wartet nur, das Jahr 1905 kommt wieder! das ist die Auffassung der Arbeiter. Ihnen gab dieses Jahr ein Schulbeispiel dafür, was man tun soll. Für die Intellektuellen aber und für die ins Renegatentum verfallenen Spießer ist dieses Jahr das „tolle Jahr", ein Beispiel dafür, was man nicht tun soll. Für das Proletariat muss die Durcharbeitung und kritische Aneignung der Erfahrungen der Revolution darin bestehen, die erfolgreichere Anwendung der damaligen Kampfmethoden zu erlernen, um den Streikkampf vom Oktober und den bewaffneten Kampf vom Dezember zu einem breiteren, konzentrierteren und bewussteren zu machen. Für den konterrevolutionären Liberalismus, der die ins Renegatentum verfallenen Intellektuellen am Gängelband führt, muss die Aneignung der Erfahrungen der Revolution darin bestehen, sich für immer vom „naiven" Draufgängertum des „ungezügelten" Massenkampfes zu befreien und es durch „kultivierte", zivilisierte, verfassungsmäßige Arbeit auf dem Boden der Stolypinschen „Verfassung" zu ersetzen.

Jedermann spricht heute von der Aneignung und kritischen Nachprüfung der Erfahrungen der Revolution. Davon reden Liberale und Sozialisten, Opportunisten und revolutionäre Sozialdemokraten. Doch nicht alle verstehen, dass die verschiedenen Rezepte für die Aneignung der revolutionären Erfahrungen sich gerade zwischen diesen zwei Gegensätzen bewegen. Nicht allen ist die Frage klar: sind es die Erfahrungen des revolutionären Kampfes, die wir uns aneignen und deren Aneignung durch die Massen im Interesse eines hartnäckigeren, zäheren und entschlosseneren Kampfes wir fördern sollen, oder sind es die „Erfahrungen" des kadettischen Verrats an der Revolution, die angeeignet und in die Massen getragen werden sollen?

Karl Kautsky behandelt diese Frage in ihrer grundlegenden theoretischen Gestalt. In der zweiten Auflage seiner bekannten, in alle europäischen Hauptsprachen übersetzten Arbeit „Die soziale Revolution" nahm er an ihr eine Reihe die Erfahrungen der russischen Revolution betreffende Ergänzungen und Abänderungen vor.3 Das Vorwort zur zweiten Auflage ist vom Oktober 1906 datiert. Folglich stand dem Verfasser bereits Material nicht nur über die „Sturm- und Drangperiode" von 1905 zur Verfügung, sondern auch über die Hauptereignisse der „Kadettenperiode" unserer Revolution, über die Zeit der allgemeinen (fast allgemeinen) Begeisterung für die Wahlsiege der Kadetten und für die I. Duma.

Welche Fragen aus den Erfahrungen der russischen Revolution erachtete Kautsky für wichtig und grundlegend oder mindestens bedeutsam genug, um einem Marxisten, der „Formen und Waffen der sozialen Revolution" überhaupt untersucht – (so lautet der Titel des 7. Abschnittes der Arbeit Kautskys, d. h. gerade desjenigen, der auf Grund der Erfahrungen von 1905 und 1906 ergänzt wurde) – neues Material zu liefern?

Es waren zwei Fragen:

Erstens, die klassenmäßige Zusammensetzung der Kräfte, die fähig sind, in der russischen Revolution zu siegen, sie zu einer wirklich siegreichen Revolution zu machen.

Zweitens, die Bedeutung der von der russischen Revolution herausgebildeten – in Bezug auf die Richtung der revolutionären Energie und auf den ihnen eigenen offensiven Charakter – höchsten Formen des Massenkampfes, nämlich des Dezemberkampfes, d. h. des bewaffneten Aufstandes.

Jeder Sozialist (und besonders Marxist), der den Ereignissen der russischen Revolution eine einigermaßen tiefere Aufmerksamkeit entgegenbringt, wird zugeben müssen, dass dies wirklich grundlegende, ausschlaggebende Fragen sind für die Beurteilung sowohl der russischen Revolution als auch der taktischen Linie, die der Partei durch die heutige Situation geboten ist. Wenn wir uns nicht vollkommen klar Rechenschaft darüber geben, welche Klassen kraft der objektiven wirtschaftlichen Bedingungen fähig sind, der russischen bürgerlichen Revolution zum Siege zu verhelfen, so wird alles Reden über unser Bestreben, diese Revolution zu einer siegreichen zu machen, nur leeres Gerede, bloße demokratische Deklamation bleiben, unsere Taktik in der bürgerlichen Revolution aber wird unvermeidlich eine prinzipienlose und schwankende sein.

Anderseits ist es jedoch klar, dass der bloße Hinweis auf die Klassen, die fähig sind, im Geiste der siegreichen Vollendung der Revolution zu handeln, nicht genügt, um die Taktik der revolutionären Partei in den stürmischen Tagen der allgemeinen Krise des Landes konkret zu bestimmen. Dadurch unterscheiden sich eben revolutionäre Perioden von Zeiten der sogenannten friedlichen Entwicklung, von Zeiten, wo die wirtschaftlichen Verhältnisse zu keinen tiefen Krisen führen und keine starken Massenbewegungen zeitigen, dass in den ersten die Formen des Kampfes unausbleiblich viel mannigfaltiger sind und der direkte revolutionäre Kampf der Massen die propagandistisch-agitatorische Tätigkeit der Führer in Parlament, Presse usw. überwiegt. Wenn wir uns daher bei der Wertung verschiedener revolutionärer Perioden nur auf die Bestimmung der Aktionslinie der einzelnen Klassen beschränken, ohne auf die Formen ihres Kampfes einzugehen, so wird unsere Auffassung vom wissenschaftlichen Standpunkt unvollständig, undialektisch sein, vom praktisch-politischen aber unfruchtbares Räsonieren (was denn auch, wollen wir in Parenthese bemerken, die Schriften Plechanows über die Taktik der Sozialdemokratie in der russischen Revolution in der Tat zu neun Zehnteln sind).

Um die Revolution wirklich marxistisch, vom Standpunkt des dialektischen Materialismus zu werten, muss man sie als Kampf lebendiger sozialer Kräfte betrachten, die unter bestimmten subjektiven Verhältnissen in bestimmter Weise wirken und mit größerem oder geringerem Erfolg die einen oder anderen Kampfformen anwenden. Auf dem Boden einer solchen Analyse, und natürlich nur auf diesem Boden, ist für den Marxisten auch die Beurteilung der taktischen Seite des Kampfes und seiner technischen Fragen durchaus angebracht, ja notwendig. Eine bestimmte Form des Kampfes anerkennen, die Notwendigkeit der Erlernung ihrer Taktik jedoch ablehnen, ist nicht anders, als würden wir die Notwendigkeit anerkennen, uns an einer Wahlaktion zu beteiligen, aber dabei auf das Gesetz, das gerade für diese Wahlen eine bestimmte Wahltechnik vorschreibt, keine Rücksicht nehmen.

Nun zu der Antwort, die Kautsky auf die beiden oben gestellten Fragen gibt, Fragen, die bekanntlich im Laufe der ganzen Revolution, seit Frühjahr 1905 – als der bolschewistische 3. Parteitag der SDAPR in London und zu gleicher Zeit die menschewistische Konferenz in Genf in klar formulierten Resolutionen die prinzipiellen Grundlagen ihrer Taktik festlegten – bis zum Londoner Parteitag der vereinigten SDAPR vom Frühjahr 1907 in den Kreisen der russischen Sozialdemokratie sehr lange und heftige Diskussionen hervorgerufen haben.

Die erste Frage beantwortet Kautsky folgendermaßen: In Westeuropa, sagt er, bildet das Proletariat bereits die Masse der Bevölkerung. Daher bedeutet der Sieg der Demokratie im heutigen Europa die politische Herrschaft des Proletariats.

Das ist in Russland mit seiner überwiegenden Bauernschaft nicht zu erwarten Wohl ist auch dort ein Sieg der Sozialdemokratie in absehbarer4 Zeit nicht ausgeschlossen, aber er könnte nur das Werk einer Koalition5 von Proletariat und Bauernschaft sein."6

Und Kautsky spricht sich sogar in dem Sinne aus, dass ein solcher Sieg ein mächtiger Anstoß für die proletarische Revolution in Europa wäre.

Somit sehen wir, dass der Begriff „bürgerliche Revolution“ noch keine genügende Definition der Kräfte bietet, die in einer solchen Revolution den Sieg davontragen können. Es sind bürgerliche Revolutionen möglich – und es hat tatsächlich solche gegeben –, in denen die Handels- oder die Handels- und Industriebourgeoisie die Haupttriebkraft war. Der Sieg solcher Revolutionen war möglich als Sieg einer entsprechenden Schicht der Bourgeoisie über ihre Gegner (etwa über den privilegierten Adel oder die absolute Monarchie). Anders steht es in Russland. Bei uns ist der Sieg der bürgerlichen Revolution als Sieg der Bourgeoisie unmöglich. Eine scheinbar paradoxe Behauptung, aber trotzdem richtig. Das Überwiegen der Bauernbevölkerung, ihre entsetzliche Unterdrückung durch den (halb-) feudalen Großgrundbesitz, die Kraft und das Bewusstsein des bereits in einer sozialistischen Partei organisierten Proletariats – alle diese Umstände verleihen unserer bürgerlichen Revolution einen besonderen Charakter. Diese Eigenart hebt den bürgerlichen Charakter unserer Revolution nicht auf (wie Martow und Plechanow in ihren mehr als verunglückten Bemerkungen über den Standpunkt Kautskys dartun möchten7). Vielmehr bedingt diese Eigentümlichkeit nur den konterrevolutionären Charakter unserer Bourgeoisie und die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft für den Sieg einer solchen Revolution. Denn die „Koalition von Proletariat und Bauernschaft", die in einer bürgerlichen Revolution siegt, ist nichts anderes als die revolutionär-demokratische Diktatur von Proletariat und Bauernschaft.

Dieser Satz bildet den Ausgangspunkt der taktischen Meinungsverschiedenheiten in der Sozialdemokratie zur Zeit der Revolution. Nur wenn man ihn in Betracht zieht, kann man alle einzelnen Diskussionen (über die Unterstützung der Kadetten überhaupt, über den linken Block und seinen Charakter usw.), alle Zusammenstöße aus einzelnen Anlässen verstehen. Nur in dieser grundlegenden taktischen Meinungsverschiedenheit – keinesfalls aber in den „Kampfgruppen" oder im „Boykottismus", wie unkundige Leute manchmal meinen – ist die Quelle der Differenzen zwischen Bolschewiki und Menschewiki in der ersten Periode der Revolution (1905–1907) zu suchen.

Die Notwendigkeit, diese Quelle unserer Meinungsverschiedenheiten mit aller Aufmerksamkeit zu ergründen, die Erfahrungen beider Dumas und des unmittelbaren Bauernkampfes von diesem Standpunkt aus zu untersuchen, kann gar nicht genug betont werden. Tun wir diese Arbeit nicht jetzt, werden wir beim nächsten Aufschwung der Bewegung auf taktischem Gebiet keinen Schritt tun können, ohne alte Diskussionen wiederaufleben zu lassen oder neue Einzelkonflikte und inneren Parteizwist heraufzubeschwören. Die Stellung der Sozialdemokratie zum Liberalismus und zur bürgerlichen Bauerndemokratie muss auf Grund der Erfahrungen der russischen Revolution festgelegt werden. Sonst kommen wir zu keiner prinzipiellen konsequenten proletarischen Taktik. Die „Koalition von Proletariat und Bauernschaft" darf, nebenbei bemerkt, keinesfalls als Verschmelzung verschiedener Klassen oder Verschmelzung der Parteien von Proletariat und Bauernschaft aufgefasst werden. Nicht nur eine Verschmelzung, sondern jeder auf längere Zeit berechnete Block würde für die sozialistische Arbeiterpartei verderblich sein und den revolutionär-demokratischen Kampf schwächen. Die unvermeidlichen Schwankungen der Bauernschaft zwischen liberaler Bourgeoisie und Proletariat entspringen ihrer Klassenlage, und unsere Revolution hat dafür aus den verschiedensten Kampfgebieten eine Menge von Beispielen erbracht (Boykott der Witte-Duma; die Wahlen; die Trudowiki in der I. und in der II. Duma usw.). Nur mit Hilfe einer absolut selbständigen Politik, einer Politik der revolutionären Vorhut, wird das Proletariat imstande sein, die Bauernschaft von den Liberalen abzuspalten, sie von ihrem Einfluss zu befreien, sie im Kampfe zu fuhren und die „Koalition" auf diese Weise faktisch zu verwirklichen – eine Koalition dann und in dem Maße, wenn und soweit die Bauernschaft in revolutionärer Weise kämpft. Nicht durch Liebäugeln mit den Trudowiki, sondern durch rücksichtslose Kritik ihrer Schwächen und Schwankungen, durch Propaganda des Gedankens einer republikanischen und revolutionären Bauernpartei kann die „Koalition" von Proletariat und Bauernschaft, die den Sieg über die gemeinsamen Feinde – nicht aber Block- und Abkommenspielereien – zum Zweck hat, verwirklicht werden.

Der von uns dargelegte besondere Charakter der russischen bürgerlichen Revolution hebt sie aus der Reihe anderer bürgerlicher Revolutionen der Neuzeit heraus, bringt sie aber den großen bürgerlichen Revolutionen der alten Zeit näher, in denen die Bauernschaft eine hervorragende revolutionäre Rolle gespielt hat. In dieser Hinsicht verdient der Inhalts- und gedankenreiche Aufsatz von Friedrich Engels „Über historischen Materialismus" (englisches Vorwort zur „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", von Engels selbst ins Deutsche übersetzt und in der „Neuen Zeit", Jahrgang XI, 1892-93, Bd. I, veröffentlicht8) höchste Beachtung.

Es ist sonderbar genug – sagt Engels –: in allen den drei großen bürgerlichen Revolutionen" (Reformation und Bauernkrieg in Deutschland im 16. Jahrhundert, englische Revolution im 17. Jahrhundert, französische Revolution im 18. Jahrhundert) „liefern die Bauern die Armee zum Schlagen, und die Bauern sind gerade die Klasse, die nach erfochtenem Sieg durch die ökonomischen Folgen dieses Sieges am sichersten ruiniert wird. Hundert Jahre nach Cromwell war die Yeomanry Englands" (die Bauernschaft) „so gut wie verschwunden. Jedenfalls war es nur durch die Einmischung dieser Yeomanry und des plebejischen Elements der Städte, dass der Streit bis auf die letzte Entscheidung durchgekämpft wurde und Karl I. aufs Schafott kam. Damit selbst nur diejenigen Siegesfrüchte vom Bürgertum eingeheimst wurden, die damals erntereif waren, war es nötig, dass die Revolution bedeutend über das Ziel hinausgeführt wurde – ganz wie 1793 in Frankreich und 1848 in Deutschland. Es scheint das in der Tat eins der Entwicklungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu sein."

An anderer Stelle des gleichen Aufsatzes weist Engels darauf hin, dass die französische Revolution „die erste" war, „die wirklich ausgekämpft wurde bis zur Vernichtung des einen Kombattanten" (des einen kämpfenden Teiles), „der Aristokratie, und zum vollständigen Sieg des andern, der Bourgeoisie".

Beide historischen Beobachtungen oder Verallgemeinerungen von Engels wurden durch den Verlauf der russischen Revolution glänzend bestätigt. Bestätigt wurde, dass nur die Einmischung der Bauernschaft und des Proletariats, des „plebejischen Elements der Städte", imstande ist, die bürgerliche Revolution ernstlich vorwärts zu bringen (kann für das Deutschland des 16. Jahrhunderts, für das England des 17. Jahrhunderts und für das Frankreich des 18. Jahrhunderts die Bauernschaft in den Vordergrund gestellt werden, so muss für das Russland des 20. Jahrhunderts das Verhältnis unbedingt umgekehrt werden, denn ohne Initiative und Anleitung des Proletariats ist die Bauernschaft nichts). Es hat sich ferner bestätigt, dass die Revolution ein großes Stück über ihre unmittelbaren, nächsten, bereits vollkommen herangereiften bürgerlichen Ziele hinausgeführt werden muss, sollen diese Ziele tatsächlich verwirklicht, die minimalen bürgerlichen Errungenschaften unerschütterlich verankert werden. Danach kann man beurteilen, wie verächtlich Engels die Achseln gezuckt hätte über die Spießerrezepte, die Revolution im Voraus in einen rein bürgerlichen, eng bürgerlichen Rahmen zu zwängen, „damit die Bourgeoisie nicht abschwenke", wie die kaukasischen Menschewiki in ihrer Resolution von 1905 sagten9, oder um eine „Garantie gegen die Restauration" zu schaffen, wie Plechanow in Stockholm sagte.

Die zweite Frage, die des Dezemberaufstandes von 1905, wird von Kautsky im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Broschüre behandelt. Er schreibt:

Ich kann heute nicht mehr mit der Bestimmtheit, wie ich es damals noch tat, erklären, dass bewaffnete Insurrektionen mit Barrikadenkämpfen in der kommenden Revolution keine entscheidende Rolle mehr spielen werden. Dagegen sprechen zu laut die Erfahrungen des Moskauer Straßenkampfes, wo sich eine Handvoll Menschen über eine Woche lang gegen eine ganze Armee im Barrikadenkampf behauptete und fast siegte, wenn nicht das Versagen der revolutionären Bewegung in anderen Städten erlaubt hätte, die Armee so zu verstärken, dass schließlich eine ungeheure Übermacht gegen die Insurgenten konzentriert war. Freilich war dieser relative Erfolg des Barrikadenkampfes nur möglich, weil die Bevölkerung der Stadt die Revolutionäre tatkräftig unterstützte und die Truppen total demoralisiert waren. Aber wer kann mit Bestimmtheit behaupten, dass etwas Derartiges in Westeuropa unmöglich sei?"

Also fast ein Jahr nach dem Aufstand, als nicht mehr das Bestreben maßgebend sein konnte, den Mut der Kämpfenden aufrechtzuerhalten, bezeichnet ein so vorsichtiger Forscher, wie Kautsky, den Moskauer Aufstand als „relativen Erfolg" des Barrikadenkampfes und hält es für notwendig, seine allgemeine Schlussfolgerung, die Rolle der Straßenkämpfe in den künftigen Revolutionen könne nicht mehr groß sein, zu revidieren.

Der Dezemberkampf 1905 hat bewiesen, dass der bewaffnete Aufstand unter den gegenwärtigen militärtechnischen und militärorganisatorischen Bedingungen siegen kann. Der Dezemberkampf führte zu dem Ergebnis, dass die ganze internationale Arbeiterbewegung von nun an mit der Wahrscheinlichkeit ähnlicher Kampfformen in den bevorstehenden proletarischen Revolutionen rechnen muss. Das sind die Schlüsse, die in Wahrheit aus den Erfahrungen unserer Revolution folgen, das sind die Lehren, die die breitesten Massen sich zu eigen machen müssen. Wie himmelweit entfernt sind diese Schlüsse und Lehren von der Linie Plechanows in seinem herostratisch berühmten Ausspruch über den Dezemberaufstand: „Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen“. Was für ein Ozean von Renegatenkommentaren wurde durch dieses Urteil entfesselt! Was für eine Unzahl liberaler Schmutzhände hat danach gegriffen, um den spießbürgerlichen Korruptions- und Kompromissgeist in die Arbeitermassen zu tragen!

Das Urteil Plechanows enthält kein Gran historischer Wahrheit. Wenn Marx, der ein halbes Jahr vor der Kommune gesagt hat, Aufstand würde Wahnsinn sein, es trotzdem verstand, diesen „Wahnsinn" als größte Massenbewegung des Proletariats im 19. Jahrhundert einzuschätzen, so müssen die russischen Sozialdemokraten mit tausendfach größerem Recht jetzt die Überzeugung in die Massen tragen, dass der Dezemberkampf nächst der Kommune die notwendigste, allerberechtigteste, größte proletarische Bewegung war. Die Arbeiterklasse Russlands wird im Geiste dieser Auffassungen groß werden – wie sehr manche Intellektuelle aus der Sozialdemokratie das auch beklagen mögen.

Die Frage der Einschätzung unserer Revolution ist keineswegs von nur theoretischer, sondern auch von eminent unmittelbarer, praktischer, aktueller Bedeutung. Unsere ganze Agitations-, Propaganda- und Organisationsarbeit steht gegenwärtig in unlöslichem Zusammenhang mit dem Prozess der Aneignung der Lehren der drei großen Jahre durch die breitesten Massen der Arbeiterklasse und der halbproletarischen Bevölkerung. Wir können uns gegenwärtig nicht auf die bloße Erklärung (im Geiste der Resolutionen des 10. Kongresses der PPS-„Lewica") beschränken, es sei gegenwärtig nicht möglich festzustellen, ob wir einer revolutionären Explosion entgegengehen oder ob ein Weg langsamer, schrittweiser Entwicklung vor uns liegt. Das kann natürlich heute keine Statistik der Welt feststellen. Selbstverständlich müssen wir unsere Tätigkeit so entfalten, dass sie von allgemeinem sozialistischen Geist und Inhalt durchdrungen ist – wie schwere Prüfungen uns die Zukunft auch bereithalten mag. Das ist aber nicht alles. Dabei stehen bleiben, hieße, dass die proletarische Partei unfähig ist, irgend eine praktische Anleitung zu geben. Wir müssen mit aller Entschiedenheit die Frage stellen und beantworten, in welcher Richtung wir nunmehr die Erfahrungen der drei Revolutionsjahre verarbeiten wollen. Wir müssen zur Belehrung der Schwankenden und Mutlosen, zur Beschämung der Renegaten und der vom Sozialismus Abfallenden offen und laut erklären, dass die Arbeiterpartei im unmittelbaren revolutionären Kampf der Massen, im Oktober- und Dezemberkampf von 1905 die nächst der Kommune größten Bewegungen des Proletariats erblickt, dass nur in der Entwicklung dieser Kampfformen die Gewähr für die künftigen Erfolge der Revolution liegt, dass diese Kämpfe uns bei der Heranbildung neuer Generationen von Kämpfern als Leitstern voran leuchten müssen.

Leisten wir in dieser Richtung unsere Tagesarbeit und halten wir uns dabei vor Augen, dass die Partei ihren vollen Einfluss auf das Proletariat im Jahre 1905 nur langen Jahren ernster und konsequenter Vorbereitungsarbeit zu verdanken hat, so werden wir es erreichen können, dass die Arbeiterklasse bei jedem Entwicklungslauf der Ereignisse, bei jedem Tempo der Zersetzung des Absolutismus immer mehr erstarken und zu einer bewussten, revolutionären sozialdemokratischen Kraft heranwachsen wird.

1 Lenin zitiert den Artikel von E. K. (E. Kuskowa) „Über den russischen Marxismus" in Nr. 251 der „Stolitschnaja Potschta" vom 14. (1.) März 1908.

2 Lenin meint hier den Artikel aus der „Neuen Rheinischen Revue", geschrieben Januar 1850, wo Marx folgende Illusionen der bürgerlichen Republikaner aufzählt: „Sie sehen nicht die Klassengegensätze zwischen Bourgeoisie und Proletariat, sie merken nur den Druck des Absolutismus, betrachten die bürgerliche Republik als Endziel und idealisieren sie in dem Glauben, die Ungleichheit ließe sich durch Gesetzgebung der bürgerlichen Republik beseitigen." (Aus dem literarischen Nachlass von K. Marx und F. Engels, Revue, London, 1. November 1850, Bd. III, S. 466–475.)

3 Die zweite Ausgabe des Kautskyschen Buches erschien unter dem Titel „Die soziale Revolution". 1. „Sozialreform und soziale Revolution". 2. durchgesehene und vermehrte Aufl., Berlin 1907. Lenin zitiert folgende Kapitel dieses Buches: „Vorwort zur 2. Aufl." und Paragraph 7: „Die Formen und Waffen der sozialen Revolution".

4 Bei Lenin auch deutsch. Die Red.

5 Bei Lenin auch deutsch. Die Red.

6 2. Auflage, 1907, S. 62. In der „dritten durchgesehenen" Auflage ist diese Stelle nicht enthalten. Die Red.

7 Die Auffassungen Kautskys über die russische Revolution, niedergelegt in seiner Broschüre „Triebkräfte und Aussichten der russischen Revolution" („Neue Zeit", Jahrgang XXV, Bd. I, S. 284, in russischer Ausgabe unter der Redaktion und mit Vorwort von N. Lenin, Moskau 1907 erschienen, siehe Sämtliche Werke, Bd. X, Seite 314–321), wurden von Plechanow in den „Notizen eines Publizisten", Brief 5 in „Sowremennaja Schisn", 1907, Heft 2 (siehe Plechanow, Sämtliche Werke, Bd. XV, S. 295–304), sowie von Martow in „Karl Kautsky und die russische Revolution", Sammelband „Otkliki" II, Petersburg 1907, S. 1–24, einer scharfen Kritik unterzogen.

8 Die volle Überschrift des Aufsatzes lautet: „Über historischen Materialismus", „Neue Zeit", Jahrg. XI, Rd. 1, 1892-93, Heft 1/2. Es ist eine deutsche Übersetzung des Engelsschen Vorworts zur englischen Ausgabe seiner Broschüre „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", erschienen 1892.

9 Die Resolution der kaukasischen Konferenz (1905) über die Stellung der Sozialdemokratie zur provisorischen Regierung lautete: „… da sie (die Konferenz) das Ziel verfolgt, der Partei die absolute Freiheit der Kritik an dem entstehenden bürgerlich-staatlichen Regime zu sichern, spricht sie sich gegen die Bildung einer sozialdemokratischen provisorischen Regierung und gegen den Eintritt in eine solche Regierung aus … Die Konferenz glaubt, dass die Bildung einer provisorischen Regierung durch die Sozialdemokraten oder der Eintritt in dieselbe zum Abfall breiter Massen des Proletariats von der Sozialdemokratischen Partei führen würde … andererseits aber die bürgerlichen Klassen veranlassen würde, von der Revolution abzuschwenken, wodurch ihr Schwung vermindert würde" (ausführlichere Analyse dieser Resolution siehe in der Broschüre Lenins „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution"

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