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Wladimir I. Lenin 19101200 Über die Statistik der Streiks in Russland

Wladimir I. Lenin: Über die Statistik der Streiks in Russland

Geschrieben Ende 1910

[Veröffentlicht im Dezember 1910 und Januar 1911 in der Zeitschrift „Mysl“ Nr. 1 und 2. Gezeichnet: W. Iljin. Nach Sämtliche Werke, Band 15, Moskau 1941, S. 29-56]

I

Die bekannten Publikationen des Ministeriums für Handel und Industrie: „Statistik der Streiks der Industriearbeiter“ für das Jahrzehnt von 1895 bis 1904 und für die Jahre 1905 bis 1908 wurden schon wiederholt in unserer Literatur vermerkt. Das in diesen Publikationen gesammelte Material ist so reichhaltig und wertvoll, dass sein erschöpfendes Studium und seine allseitige Bearbeitung noch sehr viel Zeit erfordern wird. Die in der genannten Publikation durchgeführte Bearbeitung ist nur ein erster Beginn, der bei weitem nicht genügt. Wir beabsichtigen, in dem gegenwärtigen Artikel die Leser mit den vorläufigen Ergebnissen eines Versuches einer detaillierteren Bearbeitung bekannt zu machen, wobei wir eine vollständige Darstellung bis zu einer anderen Gelegenheit hinausschieben.

Festgestellt sei vor allem die Tatsache, dass die Streiks in Russland in den Jahren 1905 bis 1907 eine Erscheinung darstellen, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Hier die Daten über die Zahl der Streikenden in Tausenden, geordnet nach Jahren und Ländern:

Durchschnitt für die Jahre

Russland

Ver. Staaten von Amerika

Deutschland

Frankreich

1895-1904

1905

1906

1907

1908

19091

43

2863

1108

740

176

64



660



527



438

Maximum für die ganzen 15 Jahre 1894–1908

    Die dreijährige Periode von 1905 bis 1907 stellt etwas ganz Außergewöhnliches dar. Das Minimum der Streikenden in Russland in diesen drei Jahren übersteigt das Maximum, das in den entwickeltesten kapitalistischen Ländern der Welt je erreicht worden ist. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die russischen Arbeiter entwickelter oder stärker wären als die des Westens. Es bedeutet jedoch, dass die Menschheit bisher nicht gewusst hat, welche Energie das Industrieproletariat auf diesem Gebiete zu entfalten fähig ist. Die Eigentümlichkeit des historischen Verlaufs der Ereignisse kam darin zum Ausdruck, dass die ungefähren Ausmaße dieser Fähigkeit zum ersten Mal in Erscheinung getreten sind in einem rückständigen Land, das erst die bürgerliche Revolution durchmacht.

Um sich klarzumachen, wie in Russland bei der im Vergleich mit Westeuropa geringen Zahl von Industriearbeitern die Zahl der Streikenden so groß werden konnte, muss man die wiederholten Streiks in Betracht ziehen. Hier die Angaben über die Zahl der wiederholten Streiks, geordnet nach Jahren, sowie über das Verhältnis der Zahl der Streikenden zur Zahl der Arbeiter:

Jahre

Prozentuales Verhältnis der Zahl der Streikenden zur Gesamtzahl der Arbeiter

Prozentuales Verhältnis der Zahl der wiederholten Streiks zur Gesamtzahl der Streiks

1895-1904

1905

1906

1907

1908

1,46-5,10

163,8

65,8

41,9

9,7

36,2

85,5

74,5

51,8

25,4

Hieraus sehen wir, dass die drei Jahre 1905 bis 1907, die nach der Gesamtzahl der Streikenden besonders auffallend sind, ebenso auffallen nach der Häufigkeit der wiederholten Streiks und der Höhe des prozentualen Verhältnisses der Zahl der Streikenden zur Gesamtzahl der Arbeiter.

Die Statistik gibt uns auch die wirkliche Zahl der bestreikten Betriebe und der an den Streiks beteiligten Arbeiter an; hier diese Angaben nach Jahren:


Prozentuales Verhältnis der Zahl der Streikenden in den bestreikten Betrieben zur Gesamtzahl der Arbeiter

In 10 Jahren (1895–1904) insgesamt

1905

1906

1907

1908

27,0

60,0

37,9

32,1

11,9

Auch diese Tabelle zeigt, ähnlich wie die vorhergehende, dass der Rückgang der Zahl der Streikenden in der Zeit von 1906 bis 1907 im Allgemeinen viel schwächer ist als der Rückgang in der Zeit von 1905 bis 1906. Wir werden in der weiteren Darlegung sehen, dass in einigen Produktionszweigen und einigen Gebieten in der Zeit von 1906 bis 1907 nicht ein Rückgang, sondern eine Verstärkung der Streikbewegung zu beobachten ist. Einstweilen wollen wir hervorheben, dass aus den für die einzelnen Gouvernements vorliegenden Angaben über die Zahl der Arbeiter, die tatsächlich an den Streiks teilnahmen, folgende interessante Erscheinung zu ersehen ist. In der Zeit von 1905 bis 1906 ist der Prozentsatz der Arbeiter, die an Streiks teilnahmen, in der überwiegenden Mehrheit der Gouvernements mit entwickelter Industrie zurückgegangen; es gibt aber eine Reihe von Gouvernements, wo dieser Prozentsatz in der Zeit von 1905 bis 1906 gestiegen ist. Das sind die industriell am geringsten entwickelten, die sozusagen abgelegensten Gouvernements. Hierzu gehören z. B. die Gouvernements des Hohen Nordens: Archangelsk (11.000 Industriearbeiter; 1905 – 0,4 Prozent streikende Arbeiter; 1906 – 78,6 Prozent), Wologda (6000 Industriearbeiter; 26,8 Prozent bzw. 40,2 Prozent, für die gleichen Jahre), Olonez (1000 Industriearbeiter; 0 bzw. 2,6 Prozent); ferner das Schwarze-Meer-Gouvemement (1000 Industriearbeiter; 42,4 Prozent bzw. 93,5 Prozent); von den Wolgagouvernements – Simbirsk (14.000 Industriearbeiter; 10,0 Prozent bzw. 33,9 Prozent); von den zentralen ackerbautreibenden Gouvernements – Kursk (18.000 Industriearbeiter; 14,4 Prozent bzw. 16,9 Prozent); von den östlichen Randgebieten – das Gouvernement Orenburg (3000 Industriearbeiter; 3,4 Prozent bzw. 29,4 Prozent).

Was die Steigerung des Prozentsatzes der Streikenden in diesen Gouvernements in der Zeit von 1905 bis 1906 bedeutet, ist klar: die Streikwelle hatte sie 1905 noch nicht erreichen können, sie begannen erst in die Bewegung hineingezogen zu werden, nachdem die fortgeschritteneren Arbeiter schon ein Jahr lang in einem Kampf gestanden hatten, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Dieser Erscheinung, die für das Verstehen des historischen Verlaufes der Ereignisse sehr wichtig ist, werden wir bei der weiteren Darstellung noch wiederholt begegnen.

Umgekehrt, in der Zeit von 1906 bis 1907 steigt der Prozentsatz der Streikenden in einigen industriell stark entwickelten Gouvernements, z. B. in den Gouvernements Petersburg (68,0 Prozent im Jahre 1906; 85,7 Prozent im Jahre 1907 – fast ebensoviel wie 1905: 85,9 Prozent), Wladimir (37,1 Prozent bzw. 49,6 Prozent), Baku (32,9 Prozent bzw. 85,5 Prozent), Kiew (10,9 Prozent bzw. 11,4 Prozent) und in einer Reihe anderer Gouvernements. Wenn also in dem Ansteigen des Prozentsatzes der Streikenden in einer Reihe von Gouvernements in der Zeit von 1905 bis 1906 die Nachhut der Arbeiterklasse in Erscheinung tritt, die den Moment der höchsten Entwicklung des Kampfes versäumt hatte, so zeigt uns das Ansteigen dieses Prozentsatzes in einer Reihe anderer Gouvernements in der Zeit von 1906 bis 1907 die Vorhut in ihrem Bestreben, von neuem den Kampf aufzunehmen, den begonnenen Rückzug zum Stehen zu bringen.

Um dieser richtigen Schlussfolgerung eine noch größere Exaktheit zu geben, wollen wir die absoluten Zahlen der Arbeiter und der tatsächlich Streikenden anführen, geordnet nach den Gouvernements der ersten und der zweiten Art.

Gouvernements, in denen der Prozentsatz der streikenden Arbeiter in der Zeit von 1905 bis 1906 gestiegen ist:

Zahl solcher Gouvernements

Zahl der Industriearbeiter dort

Zahl der Arbeiter, die tatsächlich an den Streiks teilnahmen



1905

1906

10

61.800

6564

21.484

Durchschnittlich entfallen auf jedes Gouvernement 6000 Industriearbeiter. Die Zunahme der Zahl der Arbeiter, die an Streiks tatsächlich teilnahmen, beträgt insgesamt 15.000.

Gouvernements, in denen der Prozentsatz der streikenden Arbeiter in der Zeit von 1906 bis 1907 gestiegen ist:

Gouvernements, in denen der Prozentsatz der streikenden Arbeiter in der Zeit von 1906 bis 1907 gestiegen ist:

Zahl solcher Gouvernements

Zahl der Industriearbeiter dort

Zahl der Arbeiter, die tatsächlich an den Streiks teilnahmen



1906

1907

19

572.132

186.926

285.673

Durchschnittlich entfallen auf jedes Gouvernement 30.000 Industriearbeiter. Die Zunahme der Zahl der Arbeiter, die an Streiks tatsächlich teilnahmen, beträgt fast 100.000, wenn man jedoch die Arbeiter der Erdölindustrie des Gouvernements Baku, die 1906 nicht mitgezählt wurden, abzieht (wahrscheinlich nicht mehr als 20.000–30.000), so sind es etwa 70.000.

Die Rolle der Nachhut im Jahre 1906 und der Vorhut im Jahre 1907 tritt in diesen Zahlen deutlich in Erscheinung.

Zu einer genaueren Beurteilung dieser Ausmaße muss man die Daten für die einzelnen Gebiete Russlands nehmen und die Zahl der Streikenden der Zahl der Industriearbeiter gegenüberstellen. Hier eine Aufstellung dieser Daten:

Industriegebiete

Zahl der Industriearbeiter 1905 (in 1000)

Zahl der Streikenden (in 1000)

1895–1904

zusammen

1905

1906

1907

1908

I. Petersburg

II. Moskau

III. Warschau

IV.–VI. Kiew, Wolgagebiet und Charkow

298

567

252

543

137

123

69

102

1033

540

887

403

307

170

625

106

325

154

104

157*

44

28

35

69*

Insgesamt

1660

431

2863

1108

740

176

Die Arbeiter der verschiedenen Gebiete nahmen an der Bewegung ungleichmäßig teil. Im Großen und Ganzen stellten 1.660.000 Arbeiter 2.863.000 Streikende, d. h. auf je 100 Arbeiter entfielen 164 Streikende oder, mit anderen Worten, etwas über die Hälfte aller Arbeiter streikte 1905 durchschnittlich zweimal. Aber diese Durchschnittszahlen vertuschen den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Petersburger und dem Warschauer Gebiet einerseits und allen übrigen anderseits. Die Gebiete Petersburg und Warschau weisen zusammen ein Drittel der Gesamtzahl der Industriearbeiter (550.000 von 1 660.000) auf, während sie zwei Drittel der Gesamtzahl der Streikenden stellten (1.920.000 von 2.863.000). In diesen Gebieten streikte jeder Arbeiter 1905 durchschnittlich fast viermal. In den übrigen Gebieten kommen auf 1.110.000 Arbeiter 943.000 Streikende, d. h. verhältnismäßig viermal weniger als in den zwei oben genannten Gebieten. Schon daraus ist zu ersehen, wie falsch die von unseren Liquidatoren wiederholten Behauptungen der Liberalen sind, dass die Arbeiter ihre Kräfte überschätzt hätten. Umgekehrt, die Tatsachen beweisen, dass sie ihre Kräfte unterschätzt haben, denn sie haben sie nicht restlos ausgenutzt. ,Wären die Energie und die Hartnäckigkeit des Streikkampfes (wir sprechen hier allein von dieser Form des Kampfes) in ganz Russland so gewesen, wie sie in den Gebieten Petersburg und Warschau waren, so wäre die Gesamtzahl der Streikenden doppelt so groß gewesen. Mit andern Worten lässt sich diese Schlussfolgerung so ausdrücken: die Arbeiter konnten auf dem gegebenen Gebiet der Bewegung nur die Hälfte ihrer Kräfte werten, da sie die andere Hälfte noch nicht ausgewertet hatten. Geographisch gesprochen: der Westen und der Nordwesten waren schon erwacht, aber das Zentrum, der Osten und der Süden schliefen noch zur Hälfte. Die Entwicklung des Kapitalismus tut mit jedem Tag etwas für die Aufrüttelung derjenigen, die sich verspätet haben.

Die nächste wichtige Schlussfolgerung aus den Angaben für die einzelnen Gebiete besteht darin, dass in der Zeit von 1905 bis 1906 der Rückgang der Bewegung überall, wenn auch nicht im selben Maße, zu verzeichnen war; in der Zeit von 1906 bis 1907 sehen wir aber bei einem gewaltigen Rückgang im Gebiet Warschau, bei einer sehr geringen Verminderung in den Gebieten Moskau, Kiew und dem Wolgagebiet eine Steigerung in den Gebieten Petersburg und Charkow. Das bedeutet, dass bei dem gegebenen Niveau des Klassenbewusstseins und der Vorbereitung der Bevölkerung die von uns betrachtete Form der Bewegung im Verlaufe von 1905 sich erschöpft hatte; sie musste, insofern die objektiven Widersprüche des sozialen und politischen Lebens nicht verschwunden waren, in eine höhere Form der Bewegung übergehen. Aber nach einem Jahr der Erholung, wenn man sich so ausdrücken darf, bzw. nach der Periode der Sammlung der Kräfte im Verlauf des Jahres 1906, machte sich ein neuer Aufschwung bemerkbar, begann er in einem Teil des Landes. Wenn die Liberalen und in ihrem Gefolge die Liquidatoren bei der Einschätzung dieser Periode verächtlich von den „Erwartungen der Romantiker“ reden, so muss ein Marxist sagen, dass die Liberalen die letzte Möglichkeit zur Verteidigung der demokratischen Errungenschaften dadurch vereitelten, dass sie es ablehnten, diesen teilweisen Aufschwung zu unterstützen.

Zur Frage der territorialen Verteilung der Streikenden muss noch bemerkt werden, dass ihre überwiegende Mehrheit auf die sechs Gouvernements entfällt, die eine stark entwickelte Industrie aufweisen, und von denen fünf Gouvernements Großstädte besitzen. Diese sechs Gouvernements sind: Petersburg, Moskau, Livland, Wladimir, Warschau und Petrikau. 1905 gab es in diesen Gouvernements 827.000 Industriearbeiter bei einer Gesamtzahl von 1.661.000, d. h. fast die Hälfte der Gesamtzahl. Streikende gab es in diesen Gouvernements in den zehn Jahren von 1895 bis 1904 insgesamt 246.000 von 431.000, d. h. ungefähr 60 Prozent der Gesamtzahl der Streikenden; 1905 waren es 2.072.000 von 2.863.000, d. h. ungefähr 70 Prozent; 1906 – 852.000 von 1.108.000, d. h. etwa 75 Prozent; 1907 – 517.000 von 740.000, d. h. etwa 70 Prozent; 1908 – 85.000 von 176.000, d. h. weniger als die Hälfte.A

Die Rolle dieser sechs Gouvernements war also in den drei Jahren von 1905 bis 1907 größer als in der vorhergehenden und in der nachfolgenden Periode. Es ist somit klar, dass die Großstädte, und darunter die Hauptstädte, in diesen drei Jahren eine weitaus größere Energie entwickelt haben als alle übrigen Orte. Die Arbeiter, die über die Dörfer und die verhältnismäßig kleinen städtischen und industriellen Zentren verstreut sind und die Hälfte der Gesamtzahl der Arbeiter bilden, stellten 1895 bis 1904 40 Prozent der Gesamtzahl der Streikenden, 1905 bis 1907 dagegen nur 25 bis 30 Prozent. In Ergänzung der oben gezogenen Schlussfolgerung können wir sagen, dass die Großstädte erwacht waren, während die Kleinstädte und die Dörfer in bedeutendem Maße noch schliefen.

In Bezug auf das Dorf im allgemeinen, d. h. auf die Industriearbeiter, die in Dörfern leben, gibt es außerdem noch statistische Angaben über die Zahl der Streiks (nicht über die Zahl der Streikenden) in den Städten und außerhalb der Städte. Hier diese Angaben:


Zahl der Streiks


in den Städten

außerhalb der Städte

insgesamt

In 10 Jahren (1895–1904) zusammen

1905

1906

1907

1908

1326

11891

5328

3258

767

439

2104

786

315

125

1765

13995

6114

3573

892

Die Verfasser der offiziellen Statistik, die diese Daten anführen, weisen darauf hin, dass nach den bekannten Untersuchungen des Herrn Pogoschew von der Gesamtzahl aller Fabriken und Werke Russlands 40 Prozent sich in den Städten und 60 Prozent außerhalb der Städte befinden. Wenn also in normalen Zeiten (1895 bis 1904) die Zahl der Streiks in den Städten dreimal so groß ist wie ihre Zahl in den Dörfern, so ist das prozentuale Verhältnis der Zahl der Streiks zur Zahl der Betriebe in den Städten viereinhalbmal so groß wie in den Dörfern. 1905 war dieses Verhältnis ungefähr 8 : 1; 1906 – 9:1; 1907 – 15 : 1; 1908B – 6:1. Mit anderen Worten: die Rolle der städtischen Industriearbeiter in der Streikbewegung war im Vergleich mit der Rolle der Industriearbeiter, die in den Dörfern leben, im Jahre 1905 viel größer als in den vorhergehenden Jahren, wobei 1906 und 1907 diese Rolle immer größer und größer wurde, d. h. die Dorfbewohner nahmen proportionell immer weniger und weniger an der Bewegung teil. Die in den Dörfern lebenden Industriearbeiter, die durch das Jahrzehnt von 1895 bis 1904 zum Kampf am wenigsten vorbereitet waren, offenbarten die geringste Standhaftigkeit und traten nach 1905 am schnellsten den Rückzug an. Die Vorhut, d. h. die städtischen Industriearbeiter, machten 1906 besondere Anstrengungen und 1907 noch größere als 1906, um diesen Rückzug aufzuhalten.

Betrachten wir ferner die Verteilung der Streikenden nach Produktionszweigen. Dazu wollen wir vier Hauptgruppen der Produktion aussondern: A) Metallarbeiter; B) Textilarbeiter; C) Buchdrucker, Holz-, Leder- und Chemiearbeiter; D) Arbeiter in der Industrie mineralischer Stoffe und in der Nahrungsmittelindustrie. Nach Jahren geordnet, sind die Zahlen folgende:

Produktionsgruppe

Gesamtzahl der Industriearbeiter 1904 (In 1000)

Zahl der Streikenden (in 1000)

1895–1904

zusammen

1905

1906

1907

1908

A

B

C

D

252

708

277

454

117

237

38

39

811

1296

471

285

213

640

170

85

193

302

179

66

41

56

24

55

Insgesamt

1691

431

2 863

1108

740

176

Die Metallarbeiter waren durch das dem Jahre 1905 vorangegangene Jahrzehnt am besten vorbereitet. In diesem Jahrzehnt streikte beinahe die Hälfte von ihnen (117.000 von 252.000). Als die am besten Vorbereiteten stehen sie auch 1905 an der Spitze. Die Zahl der Streikenden beträgt bei ihnen mehr als das Dreifache der Zahl der Arbeiter (811.000 gegenüber 252.000). Noch plastischer tritt die Rolle dieser Avantgarde bei der Analyse der monatlichen Angaben für das Jahr 1905 hervor (eine ausführliche Untersuchung dieser Daten ist in einem kurzen Artikel unmöglich, und wir verschieben sie auf ein anderes Mal). Der Monat, auf den im Vergleich zu allen anderen Monaten 1905 die Höchstzahl der Streikenden entfällt, ist bei den Metallarbeitern nicht der Oktober, wie bei allen übrigen Produktionsgruppen, sondern der Januar. Die Vorhut begann die Bewegung mit maximaler Energie und brachte dadurch die übrige Masse „in Schwung“. Allein im Monat Januar 1905 streikten unter den Metallarbeitern 155.000 Mann, d. h. zwei Drittel der Gesamtzahl der Metallarbeiter (252.000); in einem einzigen Monat ist die Zahl der Streikenden bedeutend größer als in zehn Jahren vordem (155.000 gegenüber 117.000). Aber diese fast übermenschliche Energie erschöpft gegen Ende 1905 die Kräfte der Vorhut: die Metallarbeiter stehen nach dem Ausmaß des Abflauens der Bewegung im Jahre 1906 an erster Stelle. Der Rückgang der Zahl der Streikenden ist bei ihnen am größten: von 811.000 auf 213.000, d. h. fast auf ein Viertel. 1907 sammelt die Vorhut wiederum ihre Kräfte: die Zahl der Streikenden geht im Allgemeinen sehr unbedeutend zurück (von 213.000 auf 193.000), und in den drei wichtigsten Produktionszweigen aus der Gruppe der Metallindustrie, nämlich im Maschinenbau, im Schiffbau und in der Gusseisenproduktion, wächst die Zahl der Streikenden von 104.000 im Jahre 1906 auf 125.000 im Jahre 1907.

Die Textilarbeiter bilden die Hauptmasse der russischen Industriearbeiter, sie machen etwas weniger als die Hälfte der Gesamtzahl aus (708.000 von 1.691.000). Nach dem Grade der Vorbereitung in den zehn Jahren vor 1905 nehmen sie den zweiten Platz ein: es streikte ein Drittel der Gesamtzahl (237.000 von 708.000). Nach der Stärke der Bewegung im Jahre 1905 stehen sie ebenfalls an zweiter Stelle: etwa 180 Streikende auf 100 Arbeiter. Sie treten später in den Kampf als die Metallarbeiter: im Januar weisen sie etwas mehr Streikende auf als die Metallarbeiter (164.000 gegenüber 155.000), im Oktober mehr als das Doppelte (256.000 gegenüber 117.000). Später in die Bewegung einbezogen, hält sich diese Hauptmasse im Jahre 1906 am standhaftesten: der Rückgang ist in diesem Jahre allgemein, aber bei den Textilarbeitern ist er geringer als bei allen anderen, bei ihnen geht die Zahl der Streikenden auf die Hälfte zurück (640.000 gegenüber 1.296.000), bei den Metallarbeitern auf fast ein Viertel (213.000 bzw. 811.000), bei den übrigen beträgt die Verminderung das Zweieinhalb- bis Dreieinhalbfache. Erst 1907 erweisen sich die Kräfte der Hauptmasse ebenfalls als erschöpft: in der Zeit von 1906 bis 1907 ist gerade in dieser Gruppe der Rückgang am größten, er beträgt mehr als die Hälfte (302.000 gegenüber 640.000).

Ohne bei einer detaillierten Untersuchung der Angaben für die übrigen Produktionszweige zu verweilen, wollen wir nur hervorheben, dass an letzter Stelle die Kategorie D steht, die am schwächsten vorbereitet war und am geringsten an der Bewegung teilgenommen hat. Nimmt man die Metallarbeiter als Norm, so kann man sagen, dass die Kategorie D mehr als eine Million Streikender allein für das Jahr 1905 „schuldig geblieben“ ist.

Das Verhältnis zwischen den Metall- und den Textilarbeitern ist charakteristisch als das Verhältnis der fortgeschrittenen Schicht zur breiten Masse. Bei dem Fehlen freier Organisationen, einer freien Presse, der Parlamentstribüne usw. in den Jahren 1895 bis 1904 konnten sich 1905 die Massen nicht anders als spontan zusammenschließen, im Verlauf des Kampfes selbst. Der Mechanismus dieses Zusammenschlusses bestand darin, dass eine Streikwelle auf die andere folgte, wobei die Vorhut, um die breiten Massen „in Schwung zu bringen“, zu Beginn der Bewegung eine so gewaltige Energie verausgaben musste, dass sie sich in dem Moment, als die Bewegung ihren Höhepunkt erreichte, als verhältnismäßig geschwächt erwies. Im Januar 1905 gab es 444.000 Streikende, darunter 155.000 Metallarbeiter, d. h. 34 Prozent, im Oktober aber betrug die Zahl aller Streikenden 519.000, davon 117.000 Metallarbeiter, d. h. 22 Prozent. Es ist begreiflich, dass eine solche Ungleichmäßigkeit der Bewegung gleichbedeutend ist mit einer gewissen Vergeudung der Kräfte infolge ihrer Zersplitterung, ihrer ungenügenden Konzentration.. Das bedeutet, erstens, dass durch eine bessere Konzentration der Kräfte der Effekt hätte gesteigert werden können, und zweitens, dass auf Grund der objektiven Bedingungen der untersuchten Epoche am Anfang jeder Welle eine Reihe von tastenden Schritten, sozusagen Patrouillengängen, Probebewegungen usw. unvermeidlich und zur Erlangung eines Erfolges notwendig waren. Wenn also die Liberalen, und nach ihnen die Liquidatoren vom Schlage Martows, vom Standpunkt ihrer Theorie der „Überschätzung seiner Kräfte durch das Proletariat“ gegen uns die Anschuldigung erheben, dass wir „hinter dem spontanen Klassenkampf hertrotteten“, so brechen diese Herrschaften über sich selber den Stab und sprechen uns, gegen ihren Willen, das schönste Kompliment aus.

Um die Übersicht über die nach Jahren geordneten Angaben über die Streiks abzuschließen, wollen wir noch auf die Zahlen eingehen, die die Ausmaße und die Dauer der Streiks sowie die durch sie verursachten Verluste charakterisieren. Die Durchschnittszahl der Teilnehmer an einem Streik war:

In 10 Jahren (1895–1904)

1905

1906

1907

1908

244 Arbeiter

206 „

181 „

207 „

195 „

Die Verringerung der Ausmaße der Streiks (nach der Zahl der Teilnehmer) im Jahre 1905 ist daraus zu erklären, dass eine Unmenge von Kleinbetrieben in den Kampf hineingezogen wurde, die die Durchschnittszahl der Teilnehmer herabdrückten. Die weitere Verringerung im Jahre 1906 widerspiegelt offenbar das Schwinden der Kampfenergie. Das Jahr 1907 macht auch hier einen gewissen Schritt vorwärts.

Wenn wir die Durchschnittszahl der Teilnehmer an den rein politischen Streiks nehmen, so erhalten wir, nach Jahren geordnet, folgende Zahlen: 1905 – 180; 1906 – 174; 1907 – 203; 1908 – 197. Diese Zahlen weisen noch plastischer auf ein Schwinden der Kampfenergie im Jahre 1906 und einen neuen Aufstieg im Jahre 1907 hin oder (vielleicht auch zugleich damit) auf die Teilnahme vorwiegend der größten Betriebe an der Bewegung von 1907.

Die Zahl der Streiktage pro Streikenden betrug:

In 10 Jahren (1895–1904)

1905

1906

1907

1908

4,8 Tage

8,7 „

4,9 „

3,2 „

4,9 „

Die Hartnäckigkeit des Kampfes, die durch diese Zahlen charakterisiert wird, war 1905 am größten, dann ging sie bis 1907 rasch zurück und wuchs erst 1908 wieder an. Es muss bemerkt werden, dass die westeuropäischen Streiks der Hartnäckigkeit des Kampfes nach unvergleichlich höher stehen. Die Zahl der Streiktage pro streikenden Arbeiter betrug in den fünf Jahren von 1894 bis 1898 für Italien 10,3 Tage, für Österreich 12,1, für Frankreich 14,3 und für England 34,2.

Sondert man die rein politischen Streiks aus, so bekommt man folgende Zahlen: 1905 – 7,0 Tage auf jeden Streikenden; 1906 – 1,5 Tage; 1907 – 1,0 Tag. Die Streiks aus wirtschaftlichen Ursachen zeichnen sich immer durch eine längere Kampfdauer aus.

Berücksichtigt man die Unterschiede in der Hartnäckigkeit des Streikkampfes in den verschiedenen Jahren, so gelangen wir zu der Schlussfolgerung, dass die Angaben über die Zahl der Streikenden noch nicht genügend die relativen Ausmaße der Bewegung in den verschiedenen Jahren bestimmen. Zur genauen Bestimmung dient die Zahl der Streiktage, die in den einzelnen Jahren betrug:



Davon rein politische Streiks

In 10 Jahren (1895–1904) insgesamt

1905

1906

1907

1908

2.079.408

23 23.609 387

5.512.749

2.433.123

864.666

-

7.569.708

763.605

52.1647

89.021

Also sind die genau festgestellten Ausmaße der Bewegung allein im Jahre 1905 mehr als elf Mal so groß wie die Bewegung im ganzen vorhergegangenen Jahrzehnt insgesamt. Anders ausgedrückt: die Ausmaße der Bewegung sind 1905 hundertfünfzehn Mal so groß wie die durchschnittlichen Jahresausmaße der Bewegung im vorhergegangenen Jahrzehnt.

Dieses Verhältnis zeigt uns die ganze Kurzsichtigkeit der Leute, die nur zu oft unter den offiziellen Gelehrten (und nicht nur unter ihnen) anzutreffen sind, die das in den sogenannten „friedlichen“, „organischen“, „evolutionären“ Epochen zu beobachtende Tempo der sozialen und politischen Entwicklung als Norm für alle Fälle, als Kennziffer der für die heutige Menschheit möglichen Entwicklungsgeschwindigkeit nehmen. In Wirklichkeit ist das Tempo der „Entwicklung“ in den sogenannten „organischen“ Epochen eine Kennziffer für die größte Stagnation, für die größten Entwicklungshindernisse.

Auf Grund der Angaben über die Zahl der Streiktage bestimmt der Verfasser der offiziellen Statistik die von der Industrie erlittenen Verluste. Diese Verluste (Produktionsausfall) betrugen in den zehn Jahren von 1895 bis 1904 insgesamt 10,4 Millionen Rubel, 1905 – 127,3 Millionen, 1906 – 31,2 Millionen, 1907 – 15,0 Millionen und 1908 – 5,8 Millionen Rubel. In den drei Jahren von 1905 bis 1907 betrug der Produktionsausfall also 173,5 Millionen Rubel.

Die Verluste der Arbeiterschaft infolge Lohnausfall während der Streiktage (bestimmt nach der Höhe des durchschnittlichen Tagelohns in den verschiedenen Produktionszweigen) betrugen in den untersuchten Jahren in 1000 Rubel:

Produktionsgruppen (siehe oben S. 18)

Zahl der Industriearbeiter 1905 (in 1000)

Verluste der Arbeiter infolge der Streiks (in 1000 Rubel)

1895–1904 insgesamt

1905

1906

1907

1908

A

B

C

D

252

708

277

454

650

715

137

95

7654

6794

1997

1096

891

1968

610

351

450

659

576

130

132

228

69

22

Insgesamt

1691

1 597

17 541

3 820

1815

451

In den drei Jahren von 1905 bis 1907 betrugen die Verluste der Arbeiter 23,2 Millionen Rubel, d. h. über vierzehnmal soviel wie in den vorhergegangenen zehn Jahren zusammen.C Der Verfasser der offiziellen Statistik berechnet, dass diese Verluste durchschnittlich pro Kopf der in der Industrie beschäftigten Arbeiter (und nicht pro Streikenden) im ersten Jahrzehnt etwa 10 Kopeken im Jahre betrugen, etwa 10 Rubel im Jahre 1905, etwa 2 Rubel 1906, etwa 1 Rubel 1907. Aber diese Berechnung lässt die gewaltigen Unterschiede unberücksichtigt, die in dieser Hinsicht zwischen den Arbeitern der verschiedenen Produktionszweige bestehen. Hier eine ausführlichere Berechnung auf Grund der Zahlen der soeben angeführten Tabelle:




Produktionsgruppen

Durchschnittlicher Verlust (in Rubeln) infolge Streiks pro Kopf der in der Industrie beschäftigten Arbeiter

In 10 Jahren (1895– 1904) insgesamt

1905

1906

1907

1908

A

B

C

D

2,6

1,0

0,5

0,2

29,9




3,5

2,8

2,2

0,7

1,8

0,9

2,1

0,3

0,5

0,3

0,2

0,05

Insgesamt

0,9

10,4

2,3

1,1

0,3

Hieraus ist zu ersehen, dass auf einen Metallarbeiter (Gruppe A) infolge der Streiks im Jahre 1905 ein Verlust entfiel, der fast 30 Rubel ausmachte, also dreimal so groß war wie der Durchschnitt, mehr als zehnmal so groß wie die durchschnittlichen Verluste eines Arbeiters in der Industrie mineralischer Stoffe und in der Nahrungsmittelindustrie (Gruppe D). Die von uns oben gezogene Schlussfolgerung, dass die Metallarbeiter ihre Kräfte in der untersuchten Form der Bewegung Ende 1905 erschöpft hatten, wird durch die angeführte Tabelle noch eindringlicher bestätigt: in der Gruppe A ist der Verlust von 1905 bis 1906 auf weniger als ein Achtel gesunken, in den übrigen Gruppen auf ein Drittel bis ein Viertel.

Wir schließen hiermit die Analyse der nach Jahren gemachten Angaben der Streikstatistik ab und gehen im nächsten Kapitel zur Untersuchung der nach Monaten gegebenen Daten über.

II

Für das Studium des wellenförmigen Charakters der Streikbewegung ist die Zeitspanne eines Jahres allzu groß. Wir haben jetzt das statistisch begründete Recht zu sagen, dass in den drei Jahren 1905 bis 1907 jeder Monat soviel galt wie ein Jahr. Die Arbeiterbewegung hat in diesen drei Jahren dreißig Jahre durchlebt. Im Jahre 1905 sank die Zahl der Streikenden in keinem Monat unter das Jahresminimum der Streikenden im Jahrzehnt von 1895 bis 1904, und in den Jahren 1906 unid 1907 trat dieser Fall nur in je zwei Monaten ein.

Leider ist die Bearbeitung der Monatsangaben sowie der Angaben für die einzelnen Gouvernements in der offiziellen Statistik sehr mangelhaft. Viele Zusammenstellungen müssen von neuem gemacht werden. Aus diesem Grunde, ebenso wie aus Raumgründen, werden wir uns einstweilen auf die Daten über die Quartale beschränken. Zu der Einteilung in wirtschaftliche und politische Streiks sei bemerkt, dass die offizielle Statistik Daten für 1905 und für 1906–1907 gibt, die sich nicht ganz vergleichen lassen. Gemischte Streiks – nach der offiziellen Nomenklatur die Kategorie 12 mit wirtschaftlichen Forderungen und 12b mit wirtschaftlichen Forderungen – galten 1905 als politische und später als wirtschaftliche Streiks. Wir werden sie auch für das Jahr 1905 zu den wirtschaftlichen zählen.

Die Zahl der Streikenden betrug in 10002:


1905

1906

1907

Quartal

Quartal

Quartal

I

II

III

IV

I

II

III

IV

I

II

III

IV

Zusammen

Darunter:

wirtschaftliche

politische

810


604

206

481


239

242

294


165

129

1277


430

847

269



73

196

479



222

257

296



125

171

63



37

26

146



52

94

323



52

271

77



66

11

193



30

163

Umrahmt [fettgedruckt] sind jene Perioden, die das höchste Ansteigen der Welle aufweisen. Schon beim ersten Blick auf die Tabelle springt ins Auge, dass diese Perioden mit politischen Ereignissen von außerordentlicher Wichtigkeit zusammenfallen, die alle drei Jahre charakterisieren. 1905 I–der 9. Januar und seine Folgen; 1905 IV – die Oktober- und die Dezemberereignisse; 1906 II – die I. Duma; 1907 II – die II. Duma; im letzten Quartal 1907 ist das Ansteigen – das sich erklärt aus dem politischen Streik im November (134.000 Streikende) anlässlich des Prozesses gegen die Arbeiterdeputierten der II. Duma – am schwächsten. Somit ist diese Zeitspanne, mit der die drei Jahre abschließen und die den Übergang zu einer neuen Etappe der russischen Geschichte bildet, gerade eine solche Ausnahme, die die Regel bestätigt: wenn das Ansteigen der Streikwelle hier keinen allgemein sozialen und politischen Aufschwung bedeutet, so stellt sich bei einer näheren Betrachtung heraus, dass es auch keine Streikwelle gab, sondern nur einen einzelnen Demonstrationsstreik.

Als Regel für die zu untersuchenden drei Jahre gilt, dass das Ansteigen der Streikwelle kritische Augenblicke, Wendepunkte in der ganzen sozialen und politischen Evolution des Landes bezeichnet. Die Streikstatistik zeigt uns handgreiflich die Haupttriebkraft dieser Evolution. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Form der Bewegung, die wir untersuchen, die einzige oder die höchste Form wäre – wir wissen, dass dem nicht so ist –, das bedeutet nicht, dass man von der gegebenen Form der Bewegung unmittelbar auf Einzelfragen der sozialen und politischen Evolution schließen könnte. Aber es bedeutet, dass wir ein statistisches Bild (natürlich ein bei weitem nicht vollständiges Bild) der Bewegung einer Klasse vor uns haben, die die Haupttriebfeder war, welche die allgemeine Richtung der Ereignisse bestimmte. Die Bewegung der anderen Klassen gruppiert sich um dieses Zentrum, folgt ihm, wird von ihm gelenkt oder bestimmt (nach der positiven oder negativen Seite), hängt von ihm ab.

Es genügt, sich die Hauptmomente der politischen Geschichte Russlands in diesen drei Jahren ins Gedächtnis zu rufen, um sich von der Richtigkeit dieser Schlussfolgerung zu überzeugen. Nehmen wir das erste Quartal 1905. Was zeigt uns der Vorabend dieses Quartals? Die bekannte Bankettkampagne der Semstwos. War es richtig, die Aktionen der Arbeiter im Verlauf dieser Kampagne als den „höchsten Typ der Demonstration“ zu bewerten? Waren die Reden darüber, dass man keine „Panik“ bei den Liberalen hervorrufen dürfe, richtig? Man stelle diese Fragen in den Rahmen der Streikstatistik (1903 – 87.000 Streikende, 1904 – 25.000, Januar 1905 – 444.000, darunter 13.000 politische), und die Antwort wird klar sein. Der oben erwähnte Streit über die Taktik in der Semstwokampagne widerspiegelt lediglich den in den objektiven Verhältnissen wurzelnden Antagonismus der liberalen Bewegung und der Arbeiterbewegung.

Was sehen wir nach dem Aufschwung im Januar?D Die bekannten Verordnungen vom Februar, die eine gewisse Umgestaltung der Staatsstruktur einleiten.

Man nehme das dritte Quartal 1905. Im Vordergrund steht in der politschen Geschichte das Gesetz vom 6. August (die sogenannte Bulygin-Duma). Ist es diesem Gesetz beschieden, ins Leben umgesetzt zu werden? Die Liberalen glauben ja, und beschließen, ihr Verhalten entsprechend dieser Auffassung einzurichten. Im Lager der Marxisten ist man entgegengesetzter Ansicht, die von jenen nicht geteilt wird, die objektiv Schrittmacher der Ansichten des Liberalismus sind. Die Ereignisse des letzten Quartals 1905 entscheiden den Streit.

Nach den Zahlen, die sich auf ganze Quartale beziehen, scheint es, als hätte es Ende 1905 ein Ansteigen gegeben. In Wirklichkeit gab es deren zwei, die durch ein gewisses Abflauen der Bewegung voneinander getrennt waren. Im Oktober gab es 519.000 Streikende, darunter 328.000 aus rein politischen Gründen Streikende, im November 325.000 (darunter 147.000 politische) und im Dezember 433.000 (darunter 372.000 politische). In der historischen Literatur ist die Ansicht der Liberalen und unserer Liquidatoren (Tscherewanin und Konsorten) ausgesprochen, wonach in dem Ansteigen im Dezember ein Element des „Künstlichen“ gesteckt haben soll. Die Statistik widerlegt diese Ansicht, indem sie gerade für diesen Monat die maximale Zahl aus rein politischen Gründen Streikender aufweist: 372.000. Begreiflich sind die Tendenzen, die die Liberalen veranlassten, zu der bestimmten Einschätzung zu gelangen, aber von rein wissenschaftlichem Standpunkt wäre es unsinnig, eine Bewegung auch nur im entferntesten als „künstlich“ zu betrachten, deren Ausmaße derart waren, dass in einem Monat die Zahl der aus rein politischen Gründen Streikenden fast neun Zehntel der Gesamtzahl der Streikenden eines ganzen Jahrzehnts betrug.

Nehmen wir schließlich die zwei letzten Aufstiege im Frühjahr 1906 und im Frühjahr 1907.E Beide unterscheiden sie sich von dem Ansteigen im Januar und Mai 1905 (von denen das erste ebenfalls stärker war als das zweite) dadurch, dass sie auf der Linie des Rückzuges verlaufen, während die ersten zwei auf der Linie des Vormarsches verlaufen sind. Dieser Unterschied charakterisiert überhaupt die zwei letzten Jahre der von uns untersuchten drei Jahre im Vergleich mit dem ersten Jahr dieser drei Jahre. Die genaue Einschätzung der Erhöhung der Zahlen in den genannten Zeitabschnitten der Jahre 1906 und 1907 wird also dahin lauten, dass diese Erhöhung die Einstellung des Rückzugs und den Versuch der sich Zurückziehenden, wieder zum Angriff überzugehen, bezeichnet. Das ist die objektive Bedeutung dieser Aufstiege, die jetzt für uns vom Standpunkt der endgültigen Resultate der gesamten „drei Jahre Sturm und Drang“ klar ist. Die I. und die II. Duma stellten nichts anderes dar als politische Verhandlungen und politische Demonstrationen oben, infolge der Einstellung des Rückzuges unten.

Hieraus wird die ganze Kurzsichtigkeit der Liberalen klar, die in diesen Verhandlungen einen gewissen Selbstzweck, etwas Selbständiges sehen, etwas, das unabhängig davon ist, ob diese oder jene Einstellung des Rückzuges lange anhalten und wozu sie führen wird. Hieraus wird die objektive Abhängigkeit jener Liquidatoren von den Liberalen klar, die, ähnlich wie Martow, jetzt voller Verachtung von den „Erwartungen der Romantiker“ zur Zeit des Rückzuges reden. Die Statistik zeigt uns, dass es sich nicht um „Erwartungen der Romantiker“, sondern um tatsächliche Unterbrechungen, um Einstellungen des Rückzuges handelte. Wären diese Unterbrechungen nicht gewesen, so hätten die Ereignisse vom 3. Juni 1907, die historisch insofern absolut unvermeidlich waren, als Rückzüge eben Rückzüge blieben, vielleicht ein ganzes Jahr oder sogar mehr als ein Jahr früher stattgefunden.

Nachdem wir die Geschichte der Streikbewegung in Verbindung mit den Hauptmomenten der politischen Geschichte behandelt haben, gehen wir zum Studium der Wechselbeziehungen zwischen wirtschaftlichen und politischen Streiks über. Die offizielle Statistik liefert für diese Frage höchst interessante Angaben. Betrachten wir zunächst die Gesamtsummen nach den einzelnen Jahren der drei Jahre, die Gegenstand unserer Untersuchung sind:


Zahl der Streikenden (in 1000)


1905

1906

1907

Wirtschaftliche

Politische

1439

1424

458

650

200

540

Insgesamt

2863

1108

740

Die erste Schlussfolgerung hieraus ist die, dass die wirtschaftlichen und politischen Streiks aufs Engste miteinander zusammenhängen. Sie steigen gemeinsam an und gehen gemeinsam zurück. Die Stärke der Bewegung ist in der Epoche des Vormarsches (1905) dadurch gekennzeichnet, dass die politischen Streiks sich gewissermaßen auf der breiten Basis nicht minder starker wirtschaftlicher Streiks erheben, die, sogar einzeln genommen, die Zahlen für das ganze Jahrzehnt von 1895 bis 1904 weit hinter sich lassen.

Bei dem Rückgang der Bewegung sinkt die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden schneller als die Zahl der aus politischen Gründen Streikenden. Die Schwäche der Bewegung im Jahre 1906 und besonders im Jahre 1907 ist unzweifelhaft gekennzeichnet durch das Fehlen der breiten und festen Basis des wirtschaftlichen Kampfes. Andererseits weist das langsamere Sinken der Zahl der aus politischen Gründen Streikenden im Allgemeinen und der geringe Rückgang dieser Zahl von 1906 bis 1907 im Besonderen offenbar auf eine uns bereits bekannte Erscheinung hin: die fortgeschrittenen Schichten suchen mit der größten Energie, den Rückzug aufzuhalten und ihn in einen Vormarsch umzuwandeln.

Diese Schlussfolgerung wird völlig bestätigt durch die Angaben über das Verhältnis zwischen wirtschaftlichem und politischem Streik in den verschiedenen Produktionsgruppen. Um den Artikel nicht mit Zahlen zu überlasten, beschränken wir uns auf eine Gegenüberstellung der Metallarbeiter mit den Textilarbeitern nach den Quartalen des Jahres 1905, wobei wir diesmal die Zusammenstellung der offiziellen StatistikF benutzen, die für dieses Jahr, wie schon oben erwähnt, die gemischten Streiks zu den politischen zählt.


1905

I.

Quartal

II.

Quartal

III.

Quartal

IV.

Quartal

Zahl der Streikenden (in 1000)


Gruppe A (Metallarbeiter)

wirtschaftliche

politische

120

159

42

76

37

63

31

283

Insgesamt

279

118

100

314


Gruppe B (Textilarbeiter)

wirtschaftliche

politische

196

111

109

154

72

53

182

418

Insgesamt

307

263

125

600

Der Unterschied zwischen der fortgeschrittenen Schicht und der breiten Masse tritt klar in Erscheinung. Bei der fortgeschrittenen Schicht sind die aus rein wirtschaftlichen Gründen Streikenden von Anfang an in der Minderheit, ebenso wie im Verlauf des ganzen Jahres. Das erste Quartal wird allerdings auch in dieser Gruppe durch eine sehr hohe Ziffer (120.000) der aus rein wirtschaftlichen Gründen Streikenden charakterisiert: es ist klar, dass es auch unter den Metallarbeitern nicht wenig solcher Schichten gibt, die erst „in Schwung gebracht“ werden mussten, und die die Bewegung mit der Aufstellung rein wirtschaftlicher Forderungen anfingen. Bei den Textilarbeitern sehen wir zu Beginn der Bewegung (erstes Quartal) ein gewaltiges Überwiegen der aus rein wirtschaftlichen Gründen Streikenden, die im zweiten Quartal sich in der Minderheit erweisen, um im dritten Quartal wieder die Mehrheit zu erlangen. Im letzten Quartal, als die Bewegung ihren Gipfelpunkt erreicht, beträgt bei den Metallarbeitern die Zahl der aus rein wirtschaftlichen Gründen Streikenden 10 Prozent der Gesamtzahl der Streikenden und 12 Prozent der Gesamtzahl der Metallarbeiter; bei den Textilarbeitern beträgt in derselben Zeitspanne die Zahl der aus rein wirtschaftlichen Gründen Streikenden 30 Prozent der Gesamtzahl der Streikenden und 25 Prozent der Gesamtzahl der Textilarbeiter.

Es ist nunmehr vollkommen handgreiflich, in welcher Weise eben der wirtschaftliche und der politische Streik voneinander abhängen: ohne ihre enge Verbindung ist eine wirklich breite, tatsächliche Massenbewegung unmöglich; die konkrete Form dieser Verbindung aber ist die, dass einerseits zu Beginn der Bewegung und bei der Einbeziehung neuer Schichten in die Bewegung der rein wirtschaftliche Streik die überragende Rolle spielt, während der politische Streik andererseits die Rückständigen weckt und aufrüttelt, die Bewegung verallgemeinert und erweitert, sie auf eine höhere Stufe hebt.

Es wäre außerordentlich interessant, eingehend zu untersuchen, wie denn eigentlich im Verlauf dieser drei Jahre die Hineinziehung von Neulingen in die Bewegung vor sich ging. Daten darüber sind in dem grundlegenden Material enthalten, denn die Angaben über jeden Streik gingen auf besonderen Karten ein. Aber die Bearbeitung dieser Angaben durch die offizielle Statistik lässt viel zu wünschen übrig, und eine Unmenge höchst wertvollen Materials, das die Karten enthielten, ist verlorengegangen, da es nicht verarbeitet wurde. Eine ungefähre Vorstellung gibt uns die folgende Tabelle über die Zahl der Streiks in ihrem prozentualen Verhältnis zur Zahl der Betriebe verschiedenen Umfangs:

Betriebe mit einer Belegschaft:

Zahl der Streikfälle in Prozenten der Zahl der Betriebe

10 Jahre (1895–1904) zusammen

1905

1906

1907

1908

bis 20 Arbeiter

21– 50 „

51– 100 „

101– 500 „

501–1000 „

über 1000 „

2,7

7,5

9,4

21,5

49,9

89,7

47,0

89,4

108,9

160,2

163,8

231,9

18,5

38,8

56,1

79,2

95,1

108,8

6,0

19,0

37,7

67,5

61,5

83,7

1,0

4,1

8,0

16,9

13,0

23,0

Jene führende Schicht, die wir bisher in den Daten für die verschiedenen Gebiete und die verschiedenen Produktionsgruppen beobachtet haben, tritt jetzt in den Angaben über die verschiedenen Betriebsgruppen in Erscheinung. Für alle diese Jahre gilt die allgemeine Regel: je größer die Betriebe, desto höher der Prozentsatz der bestreikten Betriebe. Dabei ist für 1905 erstens charakteristisch, dass wiederholte Streiks um so häufiger sind, je größer der Betrieb ist, und zweitens, dass beim Vergleich des Jahrzehnts von 1895 bis 1904 mit dem Jahre 1905 das Wachsen des Prozentsatzes um so ungestümer wird, je kleiner der Betrieb ist. Das weist deutlich auf die besondere Schnelligkeit hin, mit der Neulinge mitgerissen, mit der Schichten hineingezogen wurden, die noch niemals an Streiks teilgenommen hatten. In die Bewegung zur Zeit des größten Aufschwunges rasch hineingerissen, erweisen sich diese Neulinge als am wenigsten standhaft: der Rückgang des Prozentsatzes der bestreikten Betriebe in der Zeit von 1906 bis 1907 ist am stärksten bei den Kleinbetrieben und am schwächsten bei den Großbetrieben. Die Vorhut arbeitet am längsten, am beharrlichsten daran, den Rückzug aufzuhalten.

Doch kehren wir zu den Daten über das Verhältnis zwischen wirtschaftlichem und politischem Streik zurück. Die weiter oben angeführten Daten für die Quartale aller drei Jahre zeigen vor allem, dass mit jedem großen Aufschwung nicht nur die Zahl der aus politischen, sondern auch der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden zunimmt. Eine gewisse Ausnahme bildet nur der Aufschwung im Frühjahr 1907, wo die Höchstzahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden nicht auf das zweite, sondern auf das dritte Quartal fällt.

Zu Beginn der Bewegung (erstes Quartal 1905) sehen wir ein gewaltiges Überwiegen der Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden über die Zahl der aus politischen Gründen Streikenden (604.000 und 206.000). Der Höhepunkt der Bewegung (viertes Quartal 1905) ergibt eine neue Welle von wirtschaftlichen Streiks, schwächer als die Welle im Januar, der politische Streik ist bei weitem vorherrschend. Der dritte Aufschwung, im Frühjahr 1906, zeigt wiederum eine sehr große Erhöhung der Zahl sowohl der aus wirtschaftlichen als auch der aus politischen Gründen Streikenden. Allein schon diese Angaben genügen zur Widerlegung der Meinung, die Verbindung des wirtschaftlichen mit dem politischen Streik sei „die schwache Seite der Bewegung“ gewesen. Eine solche Meinung wurde wiederholt von den Liberalen ausgesprochen; in Bezug auf den November 1905 wiederholte sie der Liquidator Tscherewanin; unlängst wurde sie auch von Martow in Bezug auf dieselbe Epoche wiederholt. Besonders oft beruft man sich zur Bekräftigung dieser Auffassung auf den Misserfolg des Kampfes für den Achtstundentag.

Die Tatsache dieses Misserfolges ist unbestreitbar, unbestreitbar ist auch, dass jeder Misserfolg eine Schwäche der Bewegung bedeutet, aber der liberale Standpunkt kommt darin zum Ausdruck, dass als die „schwache Seite der Bewegung“ gerade die Verbindung des wirtschaftlichen Kampfes mit dem politischen bezeichnet wird; vom marxistischen Standpunkt aus liegt die Schwäche darin, dass diese Verbindung nicht stark genug, dass die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden nicht groß genug war. Die Statistik bestätigt anschaulich die Richtigkeit der marxistischen Anschauung, indem sie das „allgemeine Gesetz“ der drei Jahre offenbart: das Erstarken der Bewegung bei einem Erstarken des wirtschaftlichen Kampfes. Und dieses „allgemeine Gesetz“ steht in logischem Zusammenhang mit den Grundzügen jeder kapitalistischen Gesellschaft: in der kapitalistischen Gesellschaft werden stets Schichten existieren, die so rückständig sind, dass sie nur durch eine ganz besondere Zuspitzung der Bewegung geweckt werden können; anders aber als durch wirtschaftliche Forderungen können die rückständigen Schichten nicht in den Kampf hineingezogen werden.

Wenn wir den Aufschwung im letzten Quartal 1905 mit dem vorhergehenden und dem nachfolgenden Aufschwung, d. h. mit dem ersten Quartal 1905 und dem zweiten Quartal 1906 vergleichen, so sehen wir klar, dass der Aufschwung von Oktober-Dezember nach der Breite der ökonomischen Basis, d. h. nach dem prozentualen Verhältnis der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden zur Gesamtzahl der Streikenden, schwächer ist nicht nur als der vorhergehende, sondern auch als der nachfolgende Aufschwung. Es ist nicht zu bezweifeln, dass die Forderung des Achtstundentages viele solche bürgerliche Elemente abstieß, die mit anderen Bestrebungen der Arbeiter sympathisieren konnten. Aber ebenso wenig ist zu bezweifeln, dass diese Forderung viele solche nicht bürgerliche Elemente für sich gewann, die in die Bewegung noch nicht hineingezogen waren, die im letzten Quartal 1905 430.000 aus wirtschaftlichen Gründen Streikende stellten, im ersten Quartal 1906 diese Zahl auf 73.000 herabdrückten und im zweiten Quartal 1906 sie wieder auf 222.000 steigerten. Die Schwäche bestand also nicht in der mangelnden Sympathie der Bourgeoisie, sondern in der ungenügenden Unterstützung bzw. in der nicht genügend rechtzeitigen Unterstützung durch die nicht bürgerlichen Elemente.

Es ist eine Eigenschaft der Liberalen, zu befürchten, dass eine Bewegung der in Frage stehenden Art stets gewisse Elemente der Bourgeoisie abstößt. Es ist eine Eigenschaft der Marxisten, hervorzuheben, dass eine Bewegung der in Frage stehenden Art stets viele nicht bürgerliche Elemente anzieht, Suum cuique – jedem das Seine.

Für die Frage nach den entscheidenden Momenten des Kampfes zwischen den Arbeitern und den Unternehmern sind die Angaben der offiziellen Statistik über den Streikausgang außerordentlich lehrreich. Die allgemeinen Ergebnisse dieser Statistik sind folgende:

Streikausgang

Prozentsatz der Streikenden in Streiks mit dem genannten Ausgang

10 Jahre (1895–1904)

1905

1906

1907

1908

Zugunsten der Arbeiter

Gegenseitige Zugeständnisse

(Kompromiss)

Zugunsten der Unternehmer

(gegen die Arbeiter)

27,1


19,5


51,6

23,7


46,9


29,4

35,4


31,1


33,5

16,2


26,1


57,6

14,1


17,6


65,8

Die allgemeine Schlussfolgerung hieraus ist vor allem die, dass die maximale Kraft der Bewegung zugleich auch den maximalen Erfolg der Arbeiter bezeichnet. Am günstigsten war für sie das Jahr 1905, als der Druck des Streikkampfes am größten war. Dieses Jahr fällt auch durch die ungewöhnliche Häufigkeit der Kompromisse auf: die Parteien hatten sich noch nicht den neuen, ungewöhnlichen Bedingungen angepasst, die Unternehmer verloren unter dem Einfluss der häufigen Streiks die Fassung, und öfter denn je kam es zu Kompromissen. Im Jahre 1906 wird der Kampf hartnäckiger: die Fälle von Kompromissen sind unvergleichlich seltener; aber die Arbeiter tragen im Großen und Ganzen immer noch den Sieg davon: der Prozentsatz der Streikenden, die den Streik gewonnen haben, ist größer als der Prozentsatz derjenigen, die ihn verloren haben. Seit 1907 nehmen die Niederlagen der Arbeiter ununterbrochen zu, bei Verringerung der Zahl der Kompromisse.

Nimmt, man die absoluten Zahlen, so sieht man, dass in den ganzen zehn Jahren von 1895 bis 1904 insgesamt 117.000 Arbeiter die Streiks gewannen, während allein im Jahre 1905 es mehr als dreimal soviel waren: 369.000 Mann; im Jahre 1906 waren es etwa anderthalb Mal soviel: 163.000 Mann.

Doch ein Jahr ist eine allzu lange Zeitspanne zum Studium der wellenförmigen Bewegung des Streikkampfes in den drei Jahren von 1905 bis 1907. Ohne die monatlichen Angaben, die zu viel Raum beanspruchen würden, anzuführen, zitieren wir die Angaben nach Quartalen für die Jahre 1905 und 1906. Das Jahr 1907 kann man weglassen, da wir auf Grund der Streikergebnisse in diesem Jahr keine Unterbrechungen, Depressionen und Aufstiege wahrnehmen, sondern einen steten Rückzug der Arbeiter und einen steten Vormarsch der Kapitalisten, was in den schon angeführten Jahresangaben klar zum Ausdruck kommt.

Streikausgang

1905

1905

Quartal

Quartal

I

II

III

IV

I

II

III

IV

Zugunsten der Arbeiter

Kompromiss

Zugunsten der Unternehmer

158

267

179

71

109

59

45

61

59

95

235

100

34

28

11

86

58

78

37

46

42

6

8

23

Insgesamt**

604

239

165

430

73

222

125

37

Aus diesen Angaben ergeben sich sehr interessante Schlussfolgerungen, die eine detaillierte Betrachtung erfordern. Wir haben gesehen, dass im Allgemeinen der Kampf um so erfolgreicher für die Arbeiter ist, je stärker ihr Ansturm ist. Wird das durch die angeführten Daten bestätigt? Das erste Quartal 1905 ist für die Arbeiter weniger günstig als das zweite, obwohl die Bewegung in dieser Periode schwächer geworden ist. Diese Schlussfolgerung erweist sich jedoch als irrig, denn die Angaben für die drei Monate fassen mit dem Aufschwung im Januar (321.000 aus wirtschaftlichen Gründen Streikende) auch den Rückgang im Februar (228.000) und im März (56.000) zusammen. Sondern wir den Monat des Aufstieges, den Januar, aus, so sehen wir, dass in diesem Monat die Arbeiter den Sieg davontrugen: 87.000 Streikende gewannen den Streik, 81.000 verloren ihn, 152.000 beendeten ihn mit einem Kompromiss. Die beiden Monate des Rückganges in dieser Periode (Februar und März) ergeben eine Niederlage der Arbeiter.

Die zweite Periode (zweites Quartal 1905) ist eine Periode des Aufstieges, der seinen Höhepunkt im Monat Mai erreicht. Der Aufschwung des Kampfes bedeutet den Sieg der Arbeiter: 71.000 Streikende gewannen den Streik, 59.000 verloren ihn, 109.000 beendeten ihn mit einem Kompromiss.

Die dritte Periode (drittes Quartal 1905) ist eine Periode des Niederganges: die Zahl der Streikenden ist bei weitem geringer als im zweiten Quartal. Das Abflauen des Ansturms bedeutet den Sieg der Unternehmer: 59.000 Arbeiter verloren den Streik, nur 45.000 gewannen ihn. Der Prozentsatz der Arbeiter, die den Streik verloren, beträgt 35,6 Prozent, d. h. er ist höher als 1906. Das bedeutet, dass jene „allgemeine Atmosphäre der Sympathie“ für die Arbeiter im Jahre 1905, von der die Liberalen so viel als von der Hauptursache der Siege der Arbeiterschaft reden – (unlängst sprach auch Martow von der Sympathie der Bourgeoisie als der „Hauptursache“) –, die Niederlage der Arbeiter keineswegs verhinderte, sobald ihr Ansturm schwächer wurde. Ihr seid stark, wenn ihr Sympathien in der Gesellschaft habt, sagen den Arbeitern die Liberalen. Ihr habt Sympathien in der Gesellschaft, wenn ihr stark seid, sagen den Arbeitern die Marxisten.

Das letzte Quartal 1905 scheint eine Ausnahme zu bilden: bei dem größten Aufschwung erleiden die Arbeiter eine Niederlage. Aber diese Ausnahme ist nur scheinbar, denn mit dem Monat des Aufschwungs – dem Oktober, als die Arbeiter auch auf wirtschaftlichem Gebiet den Sieg davontrugen (+57.000,– 22.000: Zahl der Arbeiter, die die Streiks gewannen bzw. verloren), sind auch die Monate November (+25.000, – 47.000) und Dezember (+12.000, – 31000) zusammengefasst, als der wirtschaftliche Kampf abbröckelte und die Arbeiter besiegt wurden. Dabei ergibt der Monat November, der Monat des Wendepunkts, ein Monat der größten Schwankungen, der größten Ausgeglichenheit der einander gegen über stehenden Kräfte, der größten Ungewissheit über die allgemeinen Ergebnisse und über die allgemeine Richtung der Geschichte Russlands im Allgemeinen und der Geschichte der Beziehungen zwischen Unternehmern und Arbeitern im Besonderen, – dieser Monat ergibt unter allen Monaten des Jahres 1905 den größten Prozentsatz von Kompromissen: unter den 179.000 aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden beendeten in diesem Monat 106.000, d. h. 59,2 Prozent, den Kampf mit einem Kompromiss.G

Das erste Quartal 1906 bildet wieder eine scheinbare Ausnahme: größter Rückgang des wirtschaftlichen Kampfes und größter Gewinn der Arbeiter (+34.000, –11000). Hier sind ebenfalls mit einem Monat der Niederlagen der Arbeiterschaft, dem Januar ( + 4000, – 6000), auch die Monate der Siege der Arbeiterschaft, Februar (+14.000, – 2000) und März (+16.000, – 2500), zusammengefasst. Die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden sinkt im Verlaufe der ganzen Periode (Januar – 26 600, Februar – 23 300, März – 23 200), aber der Aufschwung der allgemeinen Bewegung ist schon deutlich zu verspüren (die Gesamtzahl der Streikenden beträgt im Januar 190.000, im Februar – 27.000, im März – 52.000).

Das zweite Quartal 1906 ergibt einen bedeutenden Aufstieg der Bewegung und einen Gewinn der Arbeiter (+86.000, – 78.000); dieser Gewinn ist besonders stark im Mai und im Juni – im Juni erreicht die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden die Höchstzahl für das Jahr 1906 – 90.000, während der Monat April eine Ausnahme ergibt: eine Niederlage der Arbeiter, trotz des Anwachsens der Bewegung im Vergleich mit dem Monat März.

Beginnend mit dem dritten Quartal 1906 sehen wir ein im Allgemeinen ununterbrochenes Abflauen des wirtschaftlichen Kampfes bis zum Ende des Jahres und dementsprechend Niederlagen der Arbeiter (eine unwesentliche Ausnahme weist der August 1906 auf, wo die Arbeiter im Wirtschaftskampf zum letzten Mal siegreich waren: +11 300, – 10300).

Um aus den Höhepunkten der Wirtschaftskämpfe in den Jahren 1905 und 1906 kurz das Fazit zu ziehen, kann folgendes Verfahren angewandt werden. Im Jahre 1905 tritt deutlich ein dreimaliges wesentliches Ansteigen des Streikkampfes im Allgemeinen und des wirtschaftlichen Kampfes im Besonderen hervor: im Januar, im Mai und im Oktober. In diesen drei Monaten zusammen betrug die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden 667.000 von einer Gesamtzahl von 1.439.000 Streikenden im Laufe des Jahres, d. h. kein Viertel, sondern so ziemlich die Hälfte. Und alle diese drei Monate waren Monate der Siege der Arbeiter auf wirtschaftlichem Gebiet, d. h. Monate mit einem Überwiegen der Zahl der Arbeiter, die die Streiks gewannen, über die Zahl jener, die die Streiks verloren.

Im Jahre 1906 sind die erste und die zweite Jahreshälfte im Großen und Ganzen deutlich voneinander zu unterscheiden: in der ersten – Einstellung des Rückzuges und starker Aufstieg, in der zweiten – starker Rückgang, Auf die erste Jahreshälfte entfallen 295.000 aus wirtschaftlichen Gründen Streikende, auf die zweite 162.000. Die erste Jahreshälfte brachte den Arbeitern einen Sieg im Wirtschaftskampfe, die zweite eine Niederlage.

Diese allgemeinen Ergebnisse bestätigen durchaus die Schlussfolgerung, dass nicht die „Atmosphäre der Sympathie“, nicht die Sympathien der Bourgeoisie, sondern die Stärke des Vorstoßes auch im wirtschaftlichen Kampf die entscheidende Rolle spielte.

1 Die Angaben über die Zahl der Streikenden im Jahre 1909 entnahm W. I. Lenin einer anderen Quelle, die nicht ermittelt werden konnte. Die von der Regierung herausgegebene „Statistik der Streiks“, deren Material Lenin dem vorliegenden Artikel zugrunde legte, schließt mit der Bearbeitung der Angaben über die Streiks im Jahre 1908 ab. In seiner Darlegung führt W. I. Lenin weiterhin nirgendwo Angaben über das Jahr 1909 an.

* Diese Zahlen lassen sich nicht ganz mit den Angaben für die vorhergehenden Jahre vergleichen, denn für das Jahr 1907 sind zum ersten Mal die Arbeiter der Erdölindustrie mitgezählt. Das Plus beträgt gewiss nicht mehr als 20.000-30.000.

A Im Jahre 1908 steht an der Spitze der Gouvernements mit einer bedeutenden Zahl von Streikenden das Gouvernement Baku mit 47.000 Streikenden. Die letzten Mohikaner des politischen Massenstreiks!

B 1908 sind in die Zahl der Streiks 228 und 1907 – 230 Streiks in der Erdölindustrie einbegriffen, die 1906 zum ersten Mal der Inspektion unterstellt wurde.

C Es ist in Betracht zu ziehen, dass ein Teil dieser Verluste in der Zeit, wo die Bewegung am mächtigsten war, von den Arbeitern auf die Unternehmer abgewälzt wurde. Seit 1905 musste die Statistik einen besonderen Streikgrund feststellen (nach der amtlichen Nomenklatur: Ursachengruppe 3b): die Forderung nach Bezahlung der Streiktage. Die Zahl der Fälle, wo diese Forderung gestellt wurde, betrug 1905 – 632, 1906 – 256, 1907 – 48 und 1908 – 9 (vor 1905 wurde diese Forderung überhaupt nicht erhoben). Die Resultate des Kampfes der Arbeiter für diese Forderung sind nur für die Jahre 1906 und 1907 bekannt, und es gibt nur 2–3 Fälle, wo die genannte Ursache die Hauptursache war: 1906 haben von den 10.966 Arbeitern, die hauptsächlich aus diesem Grunde streikten, 2171 den Streik gewonnen, 2626 ihn verloren und 6169 sind einen Kompromiss eingegangen. Von den 93 Arbeitern, die 1907 hauptsächlich aus diesem Grunde streikten, gewann kein einziger den Streik, 52 verloren ihn, 41 gingen ein Kompromiss ein. Aus all dem, was uns über die Streiks von 1905 bekannt ist, muss angenommen werden, dass 1905 die Streiks, die aus dieser Ursache entstanden, erfolgreicher waren als 1906.

2 Infolge der von Lenin vorgenommenen Änderungen differieren die in der folgenden Tabelle figurierenden, nach Quartalen geordneten Ziffern der aus wirtschaftlichen und politischen Gründen Streikenden für das Jahr 1905 mit den Quartalsangaben für das gleiche Jahr (bei gleicher Gesamtsumme für das Jahr), die in dem früher geschriebenen Artikel „Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Russland“ angeführt werden.

D Nach den Angaben über die Jahresquartale könnte es scheinen, als ob cs nur einen Aufschwung gegeben hätte. In Wirklichkeit gab es deren zwei: im Januar 444.000 Streikende und im Mai 220.000. In der Zwischenzeit entfällt das Minimum auf den Monat März – 73.000.

E Festgestellt sei, dass die zehnjährige Geschichte der russischen Streiks von 1895 bis 1904 jeweils im zweiten Quartal ein Ansteigen der wirtschaftlichen Streiks erkennen lässt. In dem ganzen Jahrzehnt betrug die Zahl der Streikenden im Jahresdurchschnitt 43.000; nach Quartalen: I – 10.000; II – 15.000; III – 12.000 und IV – 6000. Aus dem Vergleich dieser Zahlen allein ist ganz offensichtlich, dass das Ansteigen im Frühjahr 1906 und im Frühjahr 1907 nicht aus diesen „allgemeinen“ Ursachen zu erklären ist, die in Russland im Sommer ein Ansteigen der Streikbewegung zu bedingen pflegen. Es genügt, sich die Zahlen der aus politischen Gründen Streikenden anzusehen.

F Nach dieser Zusammenstellung betrug 1905 die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden 1.021.000, der aus politischen Gründen Streikenden 1.842.000, d. h. der Anteil der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden an der Gesamtsumme war geringer als 1906. Wir haben schon erläutert, dass das falsch ist.

** In der offiziellen Statistik fehlen monatliche Aufstellungen zu dieser Frage; sie mussten auf Grund der Angaben nach Produktionszweigen errechnet werden.

G Die Gesamtzahl der aus wirtschaftlichen Gründen Streikenden betrug im Oktober 190.000, im November 179.000, im Dezember 61.000.

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