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Wladimir I. Lenin 19101100 Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Russland

Wladimir I. Lenin: Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Russland1

Ende 1910

[Nach Ausgewählte Werke, Band 3, Die Revolution von 1905-1907, Wien-Berlin 1932, S. 491-509]

Das in der Überschrift bezeichnete Thema wird in den Artikeln Trotzkis und Martows in den Nummern 50 und 51 der „Neuen Zeit“ behandelt. Martow legt die Auffassung des Menschewismus dar. Trotzki trottet hinter den Menschewiki her und hüllt sich in besonders klingende Phrasen. Für Martow läuft die „russische Erfahrung“ darauf hinaus, dass die „blanquistische und anarchistische Unkultur über die marxistische Kultur“ (lies: der Bolschewismus über den Menschewismus) „den Sieg davongetragen hat“. „Die russische Sozialdemokratie“ habe „allzu eifrig russisch geredet“ – im Gegensatz zu den „allgemein europäischen“ Methoden der Taktik. Trotzkis „Geschichtsphilosophie“ ist die gleiche. Die Ursache des Kampfes sei die „Anpassung der marxistischen Intelligenz an die Klassenbewegung des Proletariats“. In den Vordergrund rücken „sektiererischer Geist, Intellektuellenindividualismus, ideologischer Fetischismus“. „Der Kampf um den Einfluss auf das politisch unreife Proletariat“ – das sei der Kern der Sache.

I

Die Theorie, die in dem Kampfe des Bolschewismus gegen den Menschewismus einen Kampf um den Einfluss auf das unreife Proletariat erblickt, ist nicht neu. Wir treffen sie seit 1905 (wenn nicht seit 1903) in unzähligen Büchern, Broschüren und Artikeln der liberalen Presse. Martow und Trotzki tischen den deutschen Genossen marxistisch gefärbte liberale Anschauungen auf.

Gewiss, das russische Proletariat ist politisch viel weniger reif als das westeuropäische. Aber von allen Klassen der russischen Gesellschaft hat gerade das Proletariat in den Jahren 1905-1907 die größte politische Reife offenbart. Die russische liberale Bourgeoisie, die sich hierzulande ebenso gemein, feige, dumm und verräterisch benommen hat wie die deutsche im Jahre 1848, hasst ja gerade deshalb das russische Proletariat, weil es sich 1905 als politisch reif genug erwiesen hat, dieser Bourgeoisie die Führung der Bewegung zu entreißen, den Verrat der Liberalen schonungslos zu entlarven.

Es sei eine „Illusion“ zu glauben, erklärt Trotzki, der Menschewismus und der Bolschewismus hätten „in den Tiefen des Proletariats feste Wurzeln gefasst“. Dies ist ein Muster jener klingenden, aber hohlen Phrasen, in denen unser Trotzki Meister ist. Nicht in den „Tiefen des Proletariats“, sondern in dem ökonomischen Inhalt der russischen Revolution liegen die Wurzeln der Differenzen zwischen den Menschewiki und den Bolschewiki. Martow und Trotzki ignorieren diesen Inhalt und nehmen sich somit die Möglichkeit, den historischen Sinn des innerparteilichen Kampfes in Russland zu erfassen. Nicht darum handelt es sich, ob die theoretischen Formulierungen der Differenzen in diese oder jene Schichten des Proletariats „tief“ eingedrungen sind, sondern darum, dass die wirtschaftlichen Bedingungen der Revolution von 1905 das Proletariat in ein feindliches Verhältnis zur liberalen Bourgeoisie gebracht haben, und zwar nicht nur in der Frage der Lebenshaltung der Arbeiter, sondern auch in der Agrarfrage, in allen politischen Fragen der Revolution usw. Vom Kampf der Richtungen in der russischen Revolution in der Weise reden, dass man Aushängeschildchen wie „Sektierertum“, „Unkultur“ usw. verteilt, und dabei kein Wort über die grundlegenden wirtschaftlichen Interessen des Proletariats, der liberalen Bourgeoisie und der demokratischen Bauernschaft sagt, heißt auf das Niveau von Vulgärjournalisten hinab sinken.

Hier ein Beispiel.

In ganz Westeuropa“ – schreibt Martow – „betrachtet man die Bauernmassen in dem Maße für bündnisfähig“ (mit dem Proletariat), „als sie die schweren Folgen der kapitalistischen Umwälzung der Landwirtschaft zu spüren bekommen… für Russland aber malte man sich ein Bild aus, wie sich mit dem numerisch schwachen Proletariat die 100 Millionen Bauern vereinigen, die noch nicht oder fast nicht die ,erzieherische' Wirkung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu kosten bekommen haben und infolgedessen auch noch nicht von der kapitalistischen Bourgeoisie in die Schule genommen worden sind.“

Das ist kein falscher Zungenschlag Martows. Das ist der zentrale Punkt aller Auffassungen des Menschewismus. Von diesen Ideen ist die opportunistische Geschichte der russischen Revolution, die in Russland unter der Redaktion von Potressow, Martow und Maslow erscheint („Die soziale Bewegung in Russland am Anfang des 20. Jahrhunderts“), ganz und gar durchsetzt. Der Menschewik Maslow bringt diese Ideen noch plastischer zum Ausdruck, wenn er im zusammenfassenden Schlussartikel dieses „Werkes“ sagt: „Die Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft würde dem ganzen Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung widersprechen.“ Gerade hier sind die Wurzeln der Differenzen zwischen Bolschewismus und Menschewismus zu suchen.

Martow hat die Schule des Kapitalismus mit der Schule der kapitalistischen Bourgeoisie verwechselt. (Nebenbei bemerkt: eine andere Bourgeoisie als die kapitalistische gibt es in der Welt nicht.) Worin besteht die Schule des Kapitalismus? Darin, dass sie die Bauern aus der Idiotie des Dorflebens herausreißt, sie aufrüttelt und zum Kampf antreibt. Worin besteht die Schule der „kapitalistischen Bourgeoisie“? Darin dass die „deutsche Bourgeoisie von 1848 ohne allen Anstand diese Bauern, die ihre natürlichen Bundesgenossen … sind und ohne die sie machtlos ist, gegenüber dem Adel verrät.“ (K. Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 29. Juli 1848.) Darin, dass die russische liberale Bourgeoisie in den Jahren 1905-1907 systematisch und beharrlich die Bauern verriet, im Grunde sich auf die Seite der Gutsbesitzer und des Zarismus gegen die kämpfenden Bauern schlug und der Entfaltung des Kampfes der Bauern direkte Hindernisse in den Weg legte.

Unter dem Deckmantel „marxistischer“ Schlagworte über „die Erziehung“ der Bauern durch den Kapitalismus verteidigt Martow die „Erziehung“ der Bauern (die revolutionär gegen den Adel kämpften) durch die Liberalen (die die Bauern an den Adel verrieten).

Das ist eben ein Ersetzen des Marxismus durch den Liberalismus. Das ist eben ein durch marxistische Phrasen verbrämter Liberalismus. Bebels Worte in Magdeburg, dass es unter den Sozialdemokraten Nationalliberale gebe, treffen nicht allein auf Deutschland zu.“

Hervorgehoben sei ferner, dass die meisten geistigen Führer des russischen Liberalismus ihre Erziehung durch die deutsche Literatur erhalten haben und dass sie speziell den Brentanoschen und Sombartschen „Marxismus“ nach Russland verpflanzen, der die „Schule des Kapitalismus“ anerkennt, die Schule des revolutionären Klassenkampfes jedoch ablehnt. Alle konterrevolutionären Liberalen in Russland: Struve, Bulgakow, Frank, Isgojew und Komp, protzen mit ebensolchen „marxistischen“ Phrasen.

Martow vergleicht das Russland der Epoche der Bauernaufstände gegen den Feudalismus mit „Westeuropa“, das schon längst mit dem Feudalismus reinen Tisch gemacht hat. Das ist eine phänomenale Entstellung der geschichtlichen Perspektive. Gibt es irgendwo „in ganz Westeuropa“ Sozialisten, deren Programm die Forderung enthält, „die revolutionären Aktionen der Bauernschaft bis zur Enteignung des Großgrundbesitzes zu unterstützen“? Nein. „In ganz Westeuropa“ unterstützen die Sozialisten keineswegs die Kleinbauern in ihrem Kampfe um den Bodenbesitz gegen die Großgrundbesitzer. Worin besteht der Unterschied? Darin, dass sich „in ganz Westeuropa“ schon längst und endgültig das bürgerliche Regime und insbesondere die bürgerlichen Agrarbeziehungen herausgebildet haben, während in Russland es gerade jetzt in der Revolution darum geht, welche Gestalt dieses bürgerliche Regime an nehmen soll. Martow kopiert die abgegriffene Methode der Liberalen, die der Periode revolutionärer Konflikte in einer bestimmten Frage stets solche Perioden gegenüberstellen, wo es die revolutionären Konflikte nicht mehr gibt, da die Frage selbst längst gelöst ist.

Die Tragikomödie des Menschewismus besteht eben darin, dass er während der Revolution gezwungen war, Thesen zu akzeptieren, die mit dem Liberalismus unvereinbar sind. Unterstützen wir den Kampf der „Bauernschaft“ für die Enteignung des Grund und Bodens, so erkennen wir an, dass der Sieg möglich, dass er wirtschaftlich und politisch für die Arbeiterklasse und für das ganze Volk vorteilhaft ist. Aber der Sieg der vom Proletariat geführten „Bauernschaft“ im Kampfe für die Enteignung des Großgrundbesitzes ist eben die revolutionäre Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. (Man erinnere sich daran, wie Marx im Jahre 1848 über die Notwendigkeit der Diktatur in der Revolution sprach und Mehring sich mit Recht über die Leute lustig machte, die gegen Marx den Vorwurf erhoben, er wolle durch Errichtung der Diktatur die Demokratie verwirklichen.)

Grundfalsch ist die Ansicht, dass die Diktatur dieser Klassen „dem ganzen Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung widerspricht“. Gerade das Gegenteil trifft zu. Nur eine solche Diktatur würde alle Überbleibsel des Feudalismus restlos hinwegfegen und den Produktivkräften die rascheste Entwicklung sichern. Die Politik der Liberalen dagegen legt die Sache in die Hände der russischen Junker, die den „Gang der wirtschaftlichen Entwicklung“ Russlands hundertfach verlangsamen.

In den Jahren 1905-1907 traten die Gegensätze zwischen der liberalen Bourgeoisie und der Bauernschaft in aller Schärfe hervor. Im Frühjahr und im Herbst 1905 sowie im Frühjahr 1906 erfassten die Bauernaufstände ein Drittel oder gar die Hälfte der Kreise Zentralrusslands. Die Bauern zerstörten bis zu 2.000 Herrensitze (leider ist das höchstens ein Fünfzehntel dessen, was hätte zerstört werden müssen). Nur das Proletariat unterstützte hingebungsvoll diesen revolutionären Kampf, wies ihm in jeder Hinsicht die Richtung, leitete ihn und vereinigte ihn mit seinen Massenstreiks. Die liberale Bourgeoisie hat niemals, nicht ein einziges Mal den revolutionären Kampf gefördert; sie zog es vor, die Bauern zu „beschwichtigen“ und sie mit den Gutsbesitzern und dem Zaren „auszusöhnen“. Später wiederholte sich in den beiden ersten Dumas (1906 und 1907) von der Parlamentstribüne herab dasselbe. Die ganze Zeit über bremsten die Liberalen den Kampf der Bauern, verrieten sie sie, und nur die Arbeiterdeputierten lenkten und unterstützten die Bauern gegen die Liberalen. Der Kampf der Liberalen gegen die Bauern und die Sozialdemokraten füllt die ganze Geschichte der ersten und der zweiten Duma aus. Der Kampf des Bolschewismus mit dem Menschewismus ist untrennbar mit dieser Geschichte verknüpft, als der Kampf um die Frage, ob die Liberalen unterstützt werden sollen oder ob die Hegemonie der Liberalen über die Bauernschaft zu beseitigen ist. Unsere Spaltungen aus dem Einfluss von Intellektuellen, aus der Unreife des Proletariats usw. erklären zu wollen, ist daher eine kindisch naive Wiederholung liberaler Ammenmärchen.

Aus demselben Grunde ist Trotzkis Betrachtung, dass die Spaltungen in der internationalen Sozialdemokratie „durch den Anpassungsprozess einer sozialrevolutionären Klasse an die begrenzten Bedingungen des Parlamentarismus“, innerhalb der russischen Sozialdemokratie aber durch die Anpassung der Intellektuellen an das Proletariat hervorgerufen werden, grundfalsch.

So begrenzt“ – schreibt Trotzki – „vom Standpunkt des sozialistischen Endziels der reale politische Inhalt dieses Anpassungsprozesses war, so unbändig waren seine Formen, so gewaltig die ideologischen Schatten, die er warf.“

Dieses wahrhaft „unbändige“ Phrasengeklingel ist nur der „ideologische Schatten“ des Liberalismus. Sowohl Martow als auch Trotzki werfen verschiedenartige geschichtliche Perioden in einen Topf, wenn sie Russland, das seine bürgerliche Revolution vollzieht, Europa gegenüberstellen, das diese Revolutionen längst abgeschlossen hat. In Europa ist der reale politische Inhalt der sozialdemokratischen Arbeit die Vorbereitung des Proletariats zum Kampf um die Macht gegen die Bourgeoisie, die bereits über die volle Herrschaft im Staate verfügt. In Russland handelt es sich erst um die Schaffung eines modernen bürgerlichen Staates, der entweder einer Junkermonarchie (im Falle des Sieges des Zarismus über die Demokratie) oder einer bürgerlich-demokratischen Bauernrepublik (im Falle des Sieges der Demokratie über den Zarismus) gleichen wird. Der Sieg der Demokratie ist im heutigen Russland aber nur dann möglich, wenn die Bauernmassen dem revolutionären Proletariat und nicht dem verräterischen Liberalismus folgen werden. Diese Frage ist historisch noch nicht entschieden. Die bürgerlichen Revolutionen sind in Russland noch nicht abgeschlossen, und in diesen Grenzen, d. h. im Rahmen des Kampfes um die Form des bürgerlichen Regimes in Russland, ist der „reale politische Inhalt“ der Arbeit der russischen Sozialdemokraten weniger „begrenzt“ als in den Ländern, wo kein Kampf für die Enteignung des Großgrundbesitzes durch die Bauern vor sich geht, wo die bürgerlichen Revolutionen schon längst abgeschlossen sind.

Es ist leicht zu verstehen, warum die Klasseninteressen der Bourgeoisie die Liberalen zwingen, den Arbeitern einzureden, dass ihre Rolle in der Revolution „begrenzt“ sei, dass der Kampf der Richtungen durch die Intellektuellen und nicht durch tiefgehende wirtschaftliche Gegensätze hervorgerufen werde, dass die Arbeiterpartei „nicht der Hegemon im Befreiungskampf, sondern eine Klassenpartei“ sein müsse. Gerade eine solche Formulierung ist in der allerletzten Zeit von den Liquidatoren, den „Golos“-Leuten (Lewizki in „Nascha Sarja“)2 vorgebracht und von den Liberalen gebilligt worden. Das Wort „Klassenpartei“ fassen sie im Sinne der Brentano und Sombart auf: kümmert euch nur um eure Klasse und lasst ab von den „blanquistischen Träumen“ der Führung aller revolutionären Elemente des Volkes im Kampf gegen den Zarismus und den verräterischen Liberalismus.

II

Die Ausführungen Martows über die russische Revolution und die Trotzkis über die gegenwärtige Lage der russischen Sozialdemokratie bedeuten eine konkrete Bestätigung der Unrichtigkeit ihrer grundlegenden Anschauungen.

Beginnen wir mit dem Boykott. Martow bezeichnet den Boykott als „politische Enthaltsamkeit“, als Methode der „Anarchisten und Syndikalisten“, wobei er nur vom Jahre 1906 redet. Trotzki meint, dass „die boykottistische Tendenz durch die ganze Geschichte des Bolschewismus geht – Boykottierung der Gewerkschaften, der Reichsduma, der lokalen Selbstverwaltungen usw.“, dass sie „ein Produkt der sektiererischen Furcht vor dem Aufgehen in den Massen, der Radikalismus der unversöhnlichen Enthaltsamkeit“ usw. sei. Was Trotzki über den Boykott der Gewerkschaften und der lokalen Selbstverwaltungen sagt, ist direkte Unwahrheit. Ebenso unwahr ist es, dass der Boykottismus sich durch die ganze Geschichte des Bolschewismus ziehe; der Bolschewismus war als Richtung im Frühjahr und Sommer 1905 bereits da, vor dem Entstehen der Boykottfrage. Der Bolschewismus erklärte im August 1906 im offiziellen Organ der Fraktion, die historischen Verhältnisse, die die Notwendigkeit des Boykotts hervorgerufen hätten, seien vorüber.

Trotzki entstellt den Bolschewismus, denn niemals vermochte Trotzki sich einigermaßen bestimmte Ansichten über die Rolle des Proletariats in der russischen bürgerlichen Revolution zu machen.

Noch viel schlimmer ist jedoch die Entstellung der Geschichte dieser Revolution. Spricht man vom Boykott, so muss man mit dem Anfang und nicht mit dem Ende beginnen. Der erste (und einzige) Sieg in der Revolution wurde durch die Massenbewegung errungen, die sich unter der Losung des Boykotts vollzog. Dies zu vergessen ist nur für die Liberalen von Vorteil.

Durch das Gesetz vom 6./19. August 1905 wurde die Bulyginsche Duma als beratende Körperschaft geschaffen. Die Liberalen, selbst die am weitesten links stehenden, beschlossen, an ihr teilzunehmen. Die Sozialdemokratie beschloss mit überwältigender Mehrheit (gegen die Menschewiki), diese Duma zu boykottieren und die Massen zum direkten Ansturm gegen den Zarismus, zum Massenstreik und zum Aufstand aufzurufen. Somit war die Frage des Boykotts nicht nur eine interne Frage der Sozialdemokratie. Sie war eine Frage des Kampfes des Liberalismus gegen das Proletariat. Die ganze liberale Presse jener Zeit zeigt, dass die Liberalen vor der Entwicklung der Revolution Angst hatten und alle ihre Anstrengungen auf eine „Verständigung“ mit dem Zarismus richteten.

Welches waren die objektiven Bedingungen für den unmittelbaren Massenkampf? Darauf gibt die Statistik der Streiks (eingeteilt in wirtschaftliche und politische Streiks) und der Bauernbewegung die beste Antwort. Wir führen die wichtigsten Daten an, die uns als Illustration zu den ganzen weiteren Darlegungen dienen sollen

Zahl der Streikenden (in Tausenden) in jedem Vierteljahr*


1905

1906

1907


I

II

III

IV

I

II

III

IV

I

II

III

IV

Insgesamt

810

481

294

1277

269

479

296

63

146

323

77

193

Hiervon:

wirtschaftliche Streiks


411


190


143


275


73


222


125


37


52


52


66


30

politische Streiks

399

291

151

1002

196

257

171

26

94

271

11

163

Prozentsatz der von der Bauernbewegung erfassten Kreise


14,2%

36,9%

49,2%

21,1%

Diese Zahlen zeigen uns, welche gewaltige Energie das Proletariat in der Revolution zu entfalten vermag. Während des ganzen Jahrzehnts vor der Revolution betrug die Zahl der Streikenden in Russland insgesamt nur 431.000, d. h. durchschnittlich 43.000 pro Jahr, während 1905 die Gesamtzahl der Streikenden 2.863.000 betrug bei einer Gesamtzahl von 1.661.000 Fabrikarbeitern! Eine ähnliche Streikbewegung hat die Welt noch nicht gesehen. Im dritten Viertel des Jahres 1905, wo zum ersten Mal die Frage des Boykotts auftauchte, sehen wir gerade den Übergangsmoment zu einer neuen, viel stärkeren Welle der Streik- (und darauf auch der Bauern-) bewegung. Sollte man die Ausbreitung dieser revolutionären Welle fördern und sie auf den Sturz des Zarismus richten, oder sollte man dem Zarismus gestatten, die Aufmerksamkeit der Massen durch die Komödie der beratenden Duma abzulenken – das war der reale historische Inhalt der Boykottfrage. Man kann sich daher vorstellen, wie trivial und liberal-stumpfsinnig die Bemühungen sind, den Boykott in der Geschichte der russischen Revolution mit „politischer Enthaltsamkeit“, „Sektierertum“ usw. in Verbindung zu bringen! Unter der Losung des Boykotts, die gegen die Liberalen zu Annahme gelangt war, marschierte eine Bewegung, die die Zahl der Teilnehmer an politischen Streiks von 151.000 im dritten Quartal 1905 auf eine Million im vierten Quartal 1905 steigerte.

Martow proklamiert als Hauptsache des Erfolges der Streiks von 1905 „die immer stärker werdende oppositionelle Strömung in breiten bürgerlichen Kreisen“.

Der Einfluss dieser breiten Schichten der Bourgeoisie ging so weit, dass sie einerseits die Arbeiter zu politischen Streiks geradezu anreizten“, anderseits es bei den Industriellen durchsetzten, dass diese … „die Löhne für die Tage des Streiks auszahlten.“ (Gesperrt von Martow.)

Diesem süßlichen Lobgesang auf den „Einfluss“ der Bourgeoisie wollen wir die trockene Statistik entgegenstellen Im Jahre 1905 endeten die Streiks im Vergleich zu 1907 viel öfter zugunsten der Arbeiter. Hier die Zahlen für dieses Jahr: 1,438.610 Streikende erhoben wirtschaftliche Forderungen; 369.304 Arbeiter gewannen den Kampf, 671.590 beendeten ihn mit einem Kompromiss, 397.716 verloren den Streik. So sah in Wirklichkeit (und nicht in der Darstellung liberaler Märchen) der „Einfluss“ der Bourgeoisie aus. Martow entstellt vollkommen nach Art der Liberalen das wahre Verhalten des Proletariats zur Bourgeoisie. Nicht deshalb siegten die Arbeiter (sowohl in der „Ökonomie“ als auch in der Politik), weil die Bourgeoisie mitunter die Streiktage bezahlte oder sich oppositionell gebärdete, sondern die Bourgeoisie frondierte und zahlte, weil die Arbeiter siegten. Die Kraft des Massendrucks, die Macht der Millionenstreiks, der Bauernunruhen und der Meutereien in der Armee ist die Ursache, die Hauptursache“, lieber Martow; die „Sympathie“ der Bourgeoisie ist die Folge.

Der 17./30. Oktober“ – schreibt Martow –, „der Aussichten auf die Wahlen in die Reichsduma eröffnete und die Möglichkeit gab, Versammlungen einzuberufen, Arbeitervereine zu gründen und sozialdemokratische Zeitungen herauszugeben, zeigte auch die Richtung, in der gearbeitet werden sollte.“

Aber das Unglück war, dass die „Idee“ von der Möglichkeit einer „Ermattungsstrategie“ niemandem in den Sinn kam. Die ganze Bewegung wurde künstlich auf einen „ernsten und entscheidenden Zusammenstoß“ hin getrieben, d. h. zum Dezemberstreik und zur blutigen Dezemberniederlage.

Kautsky diskutierte mit R. Luxemburg darüber, ob in Deutschland im Frühjahr 1910 der Moment gekommen war, von der „Ermattungsstrategie“, zur „Niederwerfungsstrategie“ überzugehen, wobei Kautsky klar und deutlich aussprach, dass dieser Übergang bei der weiteren Entwicklung der politischen Krise unvermeidlich sei. Martow dagegen hängt sich an die Rockschöße Kautskys und propagiert die „Ermattungsstrategie“ im Nachhinein, in einem Zeitpunkt der höchsten Zuspitzung der Revolution. Nein, mein lieber Martow, Sie wiederholen einfach liberale Reden. Nicht „Perspektiven“ einer friedlichen Konstitution „eröffnete“ der 17./30. Oktober – das ist ein liberales Märchen – sondern den Bürgerkrieg. Dieser Krieg wurde nicht durch den subjektiven Willen von Parteien oder Gruppen, sondern durch den ganzen Gang der Ereignisse seit dem Januar 1905 vorbereitet. Das Oktobermanifest kennzeichnete nicht die Einstellung des Kampfes, sondern ein Gleichgewicht der Kräfte der Kämpfenden: der Zarismus konnte schon nicht mehr regieren, die Revolution konnte ihn noch nicht stürzen. Aus dieser Situation ergab sich mit objektiver Unvermeidlichkeit der Entscheidungskampf. Der Bürgerkrieg war sowohl im Oktober als auch im November eine Tatsache (die friedlichen „Perspektiven“ dagegen eine liberale Lüge); dieser Krieg kam nicht nur in Pogromen zum Ausdruck, sondern auch im Einsatz von Waffengewalt gegen rebellierende Truppenteile, gegen die Bauern in einem Drittel von ganz Russland, gegen die Randgebiete. Leute, die unter solchen Umständen den bewaffneten Aufstand und den Massenstreik im Dezember als „künstlich“ betrachten, können nur künstlich zur Sozialdemokratie gezählt werden. Die natürliche Partei ist für solche Leute die liberale Partei.

Marx sprach 1848 und 1871 davon, dass es Augenblicke in der Revolution gebe, wo die kampflose Preisgabe von Positionen an den Feind die Massen mehr demoralisiere als eine Niederlage im Kampfe.3 Der Dezember 1905 war nicht nur ein solcher Augenblick in der Geschichte der russischen Revolution. Der Dezember war die natürliche und unvermeidliche Vollendung der Massenzusammenstöße und -kämpfe, die im Zeitraum von zwölf Monaten in allen Teilen des Landes heranwuchsen. Hiervon zeugt sogar die trockene Statistik. Die Zahl der Streikenden aus rein politischen Gründen (d. h. solcher, die keinerlei wirtschaftliche Forderungen erhoben) betrug: im Januar 1905 – 123.000; im Oktober 328.000; dm Dezember 372.000! Und uns will man glauben machen, dass diese Zunahme „künstlich“ gewesen sei! Man tischt uns das Märchen auf, ein ähnliches Anwachsen des politischen Massenkampfes neben Aufständen in der Armee sei möglich, ohne dass es unvermeidlich in den bewaffneten Aufstand übergehe! Nein, dies ist nicht die Geschichte der Revolution, sondern eine liberale Verleumdung der Revolution.

III

Gerade zu dieser Zeit der allgemeinen Erregung der Arbeitermassen“ – schreibt Martow über den Oktoberstreik – … „entsteht die Tendenz, den Kampf für politische Freiheit mit dem gewerkschaftlichen Kampfe in eins zu verschmelzen. Aber entgegen der Meinung der Genossin Rosa Luxemburg äußert sich darin nicht die starke, sondern die schwache Seite der damaligen Bewegung.“

Der Versuch, auf revolutionärem Wege den Achtstundentag einzuführen, habe mit einem Misserfolg geendet und die Arbeiter „desorganisiert“.

In derselben Richtung wirkte der allgemeine Streik der Post- und Telegraphenbeamten im November 1905.“

So schreibt Martow Geschichte.

Es genügt, einen Blick auf die oben angeführte Statistik zu werfen, um zu sehen, wie falsch diese Geschichtsschreibung ist. Im Verlauf aller drei Revolutionsjahre sehen wir bei jeder Verschärfung der politischen Krise einen Aufschwung nicht nur der politischen, sondern auch der wirtschaftlichen Streikkämpfe. In dieser Verbindung lag nicht die Schwäche, sondern die Stärke der Bewegung. Die entgegengesetzte Ansicht ist die Ansicht liberaler Bourgeois, die ja die Arbeiter an der Politik teilnehmen sehen möchten, aber ohne dass die breitesten Volksmassen in die Revolution und in den Kampf gegen die Bourgeoisie einbezogen werden. Gerade nach dem 17./30. Oktober spaltete sich die liberale Semstwobewegung endgültig: die Grundherren und die Fabrikanten bildeten die offen konterrevolutionäre Partei der „Oktobristen“, die mit der ganzen Wucht der Repressalien über die Streikenden herfielen (während die „linken“ Liberalen, die Kadetten, die Arbeiter in der Presse des „Wahnsinns“ beschuldigten). Martow erblickt, im Gefolge der Oktobristen und Kadetten, die „Schwäche“ der Arbeiter darin, dass sie gerade in dieser Zeit bemüht waren, den wirtschaftlichen Kampf noch offensiver zu gestalten. Wir aber sehen die Schwäche der Arbeiter (und noch mehr der Bauern) darin, dass sie nicht entschlossen genug, nicht umfassend genug, nicht rasch genug zum offensiven wirtschaftlichen und bewaffneten politischen Kampf übergingen, der sich unvermeidlich aus dem ganzen Verlauf der Ereignisse und nicht etwa aus den subjektiven Wünschen einzelner Gruppen oder Parteien ergab. Zwischen unserer Auffassung und der Martows liegt ein Abgrund, und dieser Abgrund zwischen den Auffassungen von „Intellektuellen“ widerspiegelt, entgegen Trotzki, lediglich den Abgrund, der Ende 1905 in Wirklichkeit zwischen den Klassen bestand, und zwar zwischen dem kämpfenden revolutionären Proletariat und der Verrat übenden Bourgeoisie.

Hinzugefügt muss noch werden, dass die Niederlagen der Arbeiter im Streikkampf nicht nur für das von Martow herausgegriffene Ende des Jahres 1905, sondern in noch höherem Maße für die Jahre 1906 und 1907 kennzeichnend sind. Die Statistik zeigt, dass die Fabrikanten im Jahrzehnt 1895-1904 51,6 Prozent der Streiks (nach der Zahl der Streikenden gerechnet) gewannen; 1905 waren es 29,4 Prozent; 1908 – 35,5 Prozent; 1907 – 57,6 Prozent; 1908 – 68,8 Prozent. Bedeutet das nun, dass die wirtschaftlichen Streiks in den Jahren 1906 und 1907 „wahnsinnig“, „unzeitgemäß“ waren, dass sie die „schwache Seite der Bewegung“ darstellten? Nein. Das bedeutet, dass die Niederlage (sowohl in der Politik als auch in der „Ökonomik“) insofern unvermeidlich war, als der Ansturm des revolutionären Kampfes der Massen im Jahre 1905 nicht stark genug war; hätte aber das Proletariat es dabei nicht verstanden, sich mindestens zweimal zu einem neuen Ansturm gegen den Feind zu erheben (allein eine Viertelmillion politischer Streikender im zweiten Vierteljahr 1906 und auch 1907), so wäre die Niederlage noch schwerer gewesen; der Staatsstreich wäre nicht im Juni 1907, sondern ein Jahr oder sogar über ein Jahr früher erfolgt; die wirtschaftlichen Errungenschaften von 1905 wären den Arbeitern noch schneller genommen worden.

Diese Bedeutung des revolutionären Kampfes der Massen begreift Martow nun absolut nicht. Ebenso wie die Liberalen sagt er von dem Boykott am Anfang des Jahres 1906, dass „die Sozialdemokratie zeitweilig außerhalb der politischen Kampflinie blieb“. Rein theoretisch gesehen ist eine solche Behandlung der Frage des Boykotts im Jahre 1906 eine unglaubliche Versimpelung und Verflachung eines sehr komplizierten Problems. Welches war die reale „Kampflinie“ im zweiten Vierteljahr 1906, eine parlamentarische oder außerparlamentarische? Man betrachte die Statistik: die Zahl der Teilnehmer an „wirtschaftlichen“ Streiks wächst von 73.000 auf 222.000, die der politischen von 196.000 auf 257.000. Der Prozentsatz der von der Bauernbewegung erfassten Kreise steigt von 36,9 Prozent auf 49,2 Prozent. Bekanntlich waren auch die Aufstände in der Armee im zweiten Vierteljahr 1906 im Vergleich zum ersten bedeutend stärker und häufiger. Es ist ferner bekannt, dass die erste Duma das revolutionärste Parlament der Welt (am Anfang des 20. Jahrhunderts) und gleichzeitig das ohnmächtigste war: kein einziger von ihren Beschlüssen wurde durchgeführt.

Dies sind die objektiven Tatsachen. Die Liberalen und die Martows bewerten diese Tatsachen so, als wäre die Duma die reale „Kampflinie“, und als wären die Aufstände, die politischen Streiks, die Bauern- und Soldatenunruhen hingegen nur das inhaltsleere Treiben „revolutionärer Romantiker“ gewesen. Der tiefsinnige Trotzki aber meint, die Differenzen zwischen den Fraktionen auf diesem Boden seien ein Kampf von „Intellektuellen“ „um den Einfluss auf das politisch unreife Proletariat“ gewesen. Wir sind der Meinung, dass die objektiven Daten davon zeugen, dass im Frühjahr 1906 ein so ernster Aufschwung eines wahrhaft revolutionären Massenkampfes vorhanden war, dass die sozialdemokratische Partei verpflichtet war, gerade diesen Kampf als den Hauptkampf anzuerkennen und alles zu tun, um ihn zu unterstützen und zu erweitern. Wir sind der Ansicht, dass die eigenartige politische Situation jener Epoche – wo die Zarenregierung von Europa eine Zweimilliardenanleihe gewissermaßen gegen die Garantie der Dumaeinberufung erhalten hatte, wo die Zarenregierung in aller Eile Gesetze gegen den Boykott der Duma erließ – den Versuch des Proletariats, die Einberufung des ersten Parlaments in Russland den Händen des Zaren zu entreißen, vollauf rechtfertigte. Wir meinen, dass nicht die Sozialdemokratie, sondern die Liberalen damals „außerhalb der politischen Kampflinie blieben“. Jene konstitutionellen

, auf deren Verbreitung in den Massen die ganze Karriere der Liberalen in der Revolution aufgebaut war, wurden am anschaulichsten durch die Geschichte der ersten Duma widerlegt.

In den beiden ersten Dumas hatten die Liberalen (die Kadetten) die Mehrheit und hielten unter viel Lärm und Geschrei den Vordergrund der politischen Bühne besetzt. Aber gerade diese „Siege“ der Liberalen zeigten auch anschaulich, dass die Liberalen die ganze Zeit über „außerhalb der politischen Kampflinie“ blieben, dass sie politische Komödianten waren, die das demokratische Bewusstsein der Massen stark demoralisierten. Wenn Martow und seine Freunde im Gefolge der Liberalen auf die schweren Niederlagen der Revolution als auf eine Lehre hinweisen, „wie man’s nicht machen soll“, so antworten wir ihnen: der einzige reale Sieg, den die Revolution davontrug, war der Sieg des Proletariats, das die liberalen Ratschläge, in die Bulyginsche Duma zu gehen, von sich wies und die Bauernmassen in den Aufstand führte. Dies erstens. Zweitens errang das russische Proletariat durch seinen heldenmütigen, drei Jahre währenden Kampf (1905 bis 1907) für sich und das russische Volk etwas, zu dessen Erkämpfung andere Völker Jahrzehnte gebraucht hatten. Es erkämpfte die Befreiung der Arbeitermassen von dem Einfluss des verräterischen und verächtlich-ohnmächtigen Liberalismus. Es erkämpfte sich die Rolle des Hegemonen im Kampfe für Freiheit und Demokratie als Vorbedingung des Kampfes für den Sozialismus. Es bewirkte durch seinen Kampf, dass alle geknechteten und ausgebeuteten Klassen in Russland es verstehen, den revolutionären Massenkampf zu führen, ohne den nirgends in der Welt ein ernsthafter Fortschritt der Menschheit erzielt worden ist.

Diese Errungenschaften werden dem russischen Proletariat keine Reaktion, kein Hass, kein Schimpfen und kein Grollen der Liberalen, keinerlei Schwankungen, keine Kurzsichtigkeit und kein Kleinmut der sozialistischen Opportunisten nehmen.

IV

Die Entwicklung der Fraktionen in der russischen Sozialdemokratie nach der Revolution erklärt sich wiederum nicht aus der „Anpassung der Intelligenz an das Proletariat“, sondern aus den Veränderungen in den Klassenbeziehungen. Die Revolution von 1905-1907 verschärfte den Antagonismus zwischen Bauernschaft und liberaler Bourgeoisie in der Frage der Form der bürgerlichen Ordnung in Russland, sie machte ihn offenkundig und aktuell. Das politisch gereifte Proletariat konnte nicht anders als einen äußerst energischen Anteil an diesem Kampfe nehmen, und die Widerspiegelung seines Verhältnisses zu den verschiedenen Klassen der neuen Gesellschaft war der Kampf zwischen Bolschewismus und Menschewismus.

Die drei Jahre 1908-1910 sind gekennzeichnet durch den Sieg der Gegenrevolution, durch die Wiederherstellung des Absolutismus und die dritte Duma, die Duma der Schwarzhunderter und der Oktobristen. Der Kampf zwischen den bürgerlichen Klassen um die Form der neuen Ordnung ist in den Hintergrund getreten. Für das Proletariat ist die elementare Aufgabe auf die Tagesordnung gestellt, die eigene, proletarische Partei zu behaupten, eine Partei, die sowohl der Reaktion als auch dem konterrevolutionären Liberalismus feindlich gegenübersteht. Diese Aufgabe ist nicht leicht, denn gerade auf dem Proletariat lastet die ganze Schwere der wirtschaftlichen und politischen Verfolgungen, der ganze Hass der Liberalen wegen der ihnen durch die Sozialdemokratie entrissenen Führung der Massen in der Revolution.

Die Krise der sozialdemokratischen Partei ist sehr schwer. Die Organisationen sind zerschlagen. Eine Menge alter Führer (vor allem aus der Zahl der Intellektuellen) ist verhaftet worden. Ein neuer Typus des sozialdemokratischen Arbeiters, der die Parteigeschäfte in seine Hand nimmt, ist bereits entstanden, aber er hat außergewöhnliche Schwierigkeiten zu überwinden. Unter diesen Verhältnissen verliert die sozialdemokratische Partei viele „Mitläufer“. Es ist nur zu natürlich, dass sich in der bürgerlichen Revolution kleinbürgerliche Mitläufer den Sozialisten angeschlossen hatten. Sie fallen nunmehr vom Marxismus und von der Sozialdemokratie ab. Dieser Prozess ist in beiden Fraktionen zutage getreten: bei den Bolschewiki in Form der „otsowistischen“ Strömung, die im Frühjahr 1908 auftauchte, sofort auf der Moskauer Konferenz eine Niederlage erlitt und nach langem Kampf, vom offiziellen Zentrum der Fraktion verurteilt, im Ausland eine besondere Fraktion – die der „Wperjod“-Leute – bildete. Die Eigenart der Zerfallsperiode kam darin zum Ausdruck, dass sich in dieser Fraktion sowohl jene „Machisten“, die in ihre Plattform den Kampf gegen den Marxismus (unter dem Deckmantel der Verfechtung einer „proletarischen Philosophie“) aufgenommen hatten, als auch die „Ultimatisten“, diese verschämten Otsowisten, und verschiedene Abarten von „Sozialdemokraten der Freiheitstage“ zusammenfanden, die, von dem „Glanz“ der Losungen hingerissen, sich diese eingepaukt, die Grundlagen des Marxismus jedoch nicht begriffen hatten.

Bei den Menschewiki fand dieser Prozess der Abwanderung der kleinbürgerlichen „Mitläufer“ seinen Ausdruck in der liquidatorischen Strömung, die gegenwärtig eine vollkommen feste Gestalt angenommen hat in der Zeitschrift des Herrn Potressow „Nascha Sarja“, in den Zeitschriften „Wosroschdjenije“ und „Schisn“, in der Position der „Sechzehn“ und der „Drei“ (Michail, Roman, Jurij), wobei die im Ausland erscheinende Zeitung „Golos Sozialdemokrata“ faktisch den Platz eines Dieners der russischen Liquidatoren und eines diplomatischen Schirmers derselben vor den Parteigenossen einnahm.

Da er den historisch-ökonomischen Sinn dieses Zerfalls in der Epoche der Konterrevolution, dieses Abfalls nicht-sozialdemokratischer Elemente von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei nicht begriffen hat, erzählt Trotzki den deutschen Lesern von einem „Zerfall“ beider Fraktionen, von einem „Zerfall der Partei“, von einer „Zersetzung der Partei“.

Das ist nicht wahr. Und diese Unwahrheit bringt erstens die völlige theoretische Verständnislosigkeit Trotzkis zum Ausdruck.

Weshalb das Plenum sowohl das Liquidatorentum als auch den Otsowismus als „Ausdruck des bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat“ erkannte, hat Trotzki absolut nicht begriffen. In der Tat, man überlege sich: kommen in der Absonderung der von der Partei missbilligten Strömungen, die den bürgerlichen Einfluss auf das Proletariat offenbaren, der Zerfall der Partei, die Zersetzung der Partei oder ihre Festigung und Reinigung zum Ausdruck?

Zweitens bringt diese Unwahrheit in der Praxis die auf Reklame ausgehende „Politik“ der Trotzki-Fraktion zum Ausdruck. Dass Trotzkis Unternehmen4 einen Versuch darstellt, eine Fraktion zu schaffen, sieht jetzt, nachdem Trotzki den Vertreter des Zentralkomitees aus der „Prawda“ entfernt hat, jedermann ein. Trotzki, der für seine Fraktion die Reklametrommel rührt, geniert sich nicht, den Deutschen zu erzählen, dass die „Partei“ zerfalle, dass beide Fraktionen zerfallen, während er, Trotzki. allein alles rette. In Wirklichkeit sehen wir jetzt alle – und die jüngste Resolution der Trotzkisten (im Namen des Wiener Klubs vom 26. November 1910) beweist dies besonders anschaulich –, dass Trotzki lediglich bei den Liquidatoren und den „Wperjod“-Leuten Vertrauen genießt.

Bis zu welcher Ungeniertheit sich Trotzki versteigt, wenn er die Partei herabsetzt und sich selbst in den Augen der Deutschen herausstreicht, zeigt z. B. der folgende Fall: Trotzki schreibt, dass die „Arbeitermassen“ in Russland die Sozialdemokratische Partei als „außerhalb ihres Kreises (gesperrt von Trotzki) stehend“ betrachten, und spricht von „Sozialdemokraten ohne Sozialdemokratie“.

Wie sollen denn da Herr Potressow und dessen Freunde Trotzki für solche Reden nicht ans Herz drücken?

Diese Reden werden aber nicht nur durch die ganze Geschichte der Revolution, sondern allein schon durch die Wahlen zur dritten Duma in der Arbeiterkurie widerlegt.

Für die Arbeit in den legalen Organisationen“ – schreibt Trotzki – erwiesen sich die Fraktionen der Menschewiki und der Bolschewiki – ihrer bisherigen ideellen und organisatorischen Struktur nach – als vollkommen unfähig“, es arbeiteten „einzelne Gruppen von Sozialdemokraten, aber das alles spielte sich außerhalb des Rahmens der Fraktionen, außerhalb ihrer organisatorischen Einwirkung ab.“ „Selbst die wichtigste legale Organisation, in der die Menschewiki das Übergewicht haben, arbeitet ganz außerhalb der Kontrolle der menschewistischen Fraktion.“

So schreibt Trotzki. Die Tatsachen sehen aber anders aus. Seitdem die sozialdemokratische Fraktion in der dritten Duma besteht, hat sich die bolschewistische Fraktion jederzeit durch ihre vom Zentralkomitee der Partei bevollmächtigten Vertrauensmänner im Sinne der Förderung, Unterstützung, Beratung und Kontrolle der Arbeit der Sozialdemokraten in der Duma betätigt. Das gleiche tut die Redaktion des Zentralorgans der Partei, die aus Vertretern der Fraktionen besteht (die sich, als Fraktionen, im Januar 1910 aufgelöst haben).

Wenn Trotzki den deutschen Genossen ausführlich von der Dummheit des „Otsowismus“ erzählt und diese Strömung als „Kristallisation“ des dem gesamten Bolschewismus eigenen Boykottismus darstellt, um dann in zwei Worten zu erwähnen, der Bolschewismus habe sich vom Otsowismus „nicht bewältigen lassen“, sondern sei „gegen ihn entschieden oder richtiger ungestüm aufgetreten“, so stellt sich der deutsche Leser natürlich nicht vor, welch raffinierter Treubruch in einer solchen Darstellung steckt. Die jesuitische „Reservation“ Trotzkis besteht in der Fortlassung einer kleinen, ganz kleinen „Kleinigkeit“. Er hat „vergessen“, zu berichten, dass die bolschewistische Fraktion bereits im Frühjahr 1909 in einer offiziellen Tagung ihrer Vertreter die Otsowisten entfernt, sie ausgeschlossen hat. Aber gerade diese „Kleinigkeit“ passt Trotzki nicht, der vom „Zerfall“ der bolschewistischen Fraktion (und dann auch der Partei) reden möchte und nicht vom Abfall der nicht-sozialdemokratischen Elemente!

Martow halten wir jetzt für einen Führer des Liquidatorentums, der um so gefährlicher ist, je „geschickter“ er die Liquidatoren mit quasi-marxistischen Redensarten verteidigt. Aber Martow legt offen die Ansichten dar, die ganzen Strömungen in der Arbeiterbewegung von 1903-1910 ihren Stempel aufgedrückt haben. Trotzki hingegen repräsentiert lediglich seine persönlichen Schwankungen und sonst nichts. 1903 war er Menschewik, 1904 rückte er vom Menschewismus ab und kehrte 1905 zu den Menschewiki zurück, nur mit ultrarevolutionären Phrasen prunkend; 1906 wandte er sich abermals vom Menschewismus ab; Ende 1906 verfocht er Wahlabmachungen mit den Kadetten (d. h. er war faktisch wieder mit den Menschewiki), und im Frühjahr 1907 sprach er auf dem Londoner Parteitag davon, dass der Unterschied zwischen ihm und Rosa Luxemburg „eher ein Unterschied individueller Schattierungen als politischer Richtungen“ sei. Trotzki verübt heute ein Plagiat an dem geistigen Rüstzeug der einen, morgen an dem der anderen Fraktion und gibt sich daher als über den beiden Fraktionen stehend aus. Trotzki ist in der Theorie in nichts mit den Liquidatoren und den Otsowisten einverstanden, in der Praxis dagegen ist er in allem mit den „Golos“- und „Wperjod“-Leuten einverstanden.

Wenn daher Trotzki den deutschen Genossen vorredet, er vertrete die „allgemeine Parteitendenz“, so muss ich erklären, dass Trotzki lediglich seine Fraktion vertritt und ausschließlich bei den Otsowisten und den Liquidatoren ein gewisses Vertrauen genießt. Hier die Tatsachen, die die Richtigkeit meiner Erklärung bestätigen. Im Januar trat das Zentralkomitee unserer Partei in enge Fühlung mit Trotzkis Zeitung „Prawda“, dadurch, dass es seinen Vertreter in die Redaktion entsandte. Im September 1910 meldet das Zentralorgan der Partei, dass der Vertreter des Zentralkomitees wegen der parteifeindlichen Politik Trotzkis mit diesem gebrochen habe. In Kopenhagen erhob Plechanow als Vertreter der parteitreuen Menschewiki und Delegierter der Redaktion des Zentralorgans gemeinsam mit dem Schreiber dieser Zeilen als dem Vertreter der Bolschewiki und einem polnischen Genossen entschieden Protest dagegen, wie Trotzki in der deutschen Presse unsere Parteiangelegenheiten darstellt.

Die Leser mögen nun selbst urteilen, ob Trotzki eine „allgemeine Parteitendenz“ oder eine „allgemein parteiwidrige“ Tendenz in der Sozialdemokratie Russlands vertritt.

1 Der Artikel „Der historische Sinn des innerparteilichen Kampfes in Russland“ wurde 1910 geschrieben und in dem im Auslande erscheinenden „Diskussionsblatt“ des ZK, Nr. 3 vom April 1911, veröffentlicht. Er war eine Antwort auf einen Artikel Martows „Preußische Diskussion und russische Antwort“ und auf einen Artikel Trotzkis „Die Entwicklungstendenzen der russischen Sozialdemokratie“, die in der Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie „Neue Zeit“ abgedruckt waren. In einem Briefe an den polnischen Sozialdemokraten J. Marchlewski, der damals ständiger Mitarbeiter dieser Zeitschrift war, nannte Lenin die Artikel Martows und Trotzkis „eine Gemeinheit und eine Widerwärtigkeit“ und schrieb: „Es ist doch geradezu ein Skandal, wie Martow und Trotzki ungestraft lügen und unter der Maske von gelehrten Artikelchen Schmähschriften schreiben!!“ Die Redakteure der „Neuen Zeit“, Karl Kautsky und Emanuel Wurm, die die Artikel Martows und Trotzkis aufnahmen, lehnten die Aufnahme einer Antwort Lenins ab. An dessen Stelle schrieb Marchlewski einen Artikel, der von Lenin durchgesehen wurde. Lenin rechnete immer noch damit, dass die Redaktion auch seinen Artikel, wenigstens den gegen Trotzki, aufnehmen werde. Damit erklärt sich die Verspätung seiner Antwort auf Martow und Trotzki im russischen Parteiorgan. Hier veröffentlichte Lenin seinen Artikel erst dann, als endgültig feststand, dass die „Neue Zeit“ auch seine Antwort auf den Artikel Trotzkis nicht veröffentlicht. Der vorliegende Artikel Lenins kann dem Leser als Abschluss zu seinen Aufsätzen aus den Jahren 1905-1907 und auch als Einführung zu den Aufsätzen aus der Periode der Reaktion dienen. Aus diesem Grunde wurde er an dieser Stelle abgedruckt, obwohl er Ende 1910 geschrieben worden ist.

2 Lenin zitiert hier den Artikel von W. LewizkiLiquidation oder Wiedergeburt“ in Nr. 7 der „Nascha Sarja“ vom Jahre 1910. In diesem Artikel beweist Lewizki, dass die Sozialdemokratie alle ihre Kräfte auf die legale Arbeit konzentrieren und die illegale Organisation abschaffen müsse, wobei er behauptet, dass die illegale Organisation für die Partei nicht nur überflüssig, sondern für den Tageskampf des Proletariats auch von Schaden sei; ihr Bestehen erklärt er nur durch die Versuche der Bolschewiki, dem Proletariat die Hegemonie in der Revolution aufzudrängen. Einen Liquidator und Anhänger des „Golos“ nennt Lenin Lewizki deshalb, weil dieser einer Gruppe von Menschewiki und Liquidatoren angehörte, die sich um die menschewistische Zeitschrift „Golos Sozialdemokrata“ gebildet hatte.

* Umrahmt [hier: unterstrichen] sind die besonders wichtigen Perioden: 1905 I – der Januar; 1905 IV – der Höhepunkt der Revolution im Oktober und Dezember; 1906 II – die erste Duma; 1907 II – die zweite Duma. Die Angaben sind der offiziellen Streikstatistik entnommen, die ich in einer in Vorbereitung befindlichen Studie über die Geschichte der russischen Revolution ausführlich bearbeite.

3 Lenin hat hier hauptsächlich den Brief von Marx an Kugelmann vom 17. April 1871 über die Pariser Kommune im Auge. Darin schrieb Marx: „die bürgerlichen Kanaillen von Versailles … stellten … die Pariser in die Alternative, den Kampf aufzunehmen oder ohne Kampf zu erliegen. Die Demoralisation der Arbeiterklasse in dem letzteren Falle wäre ein viel größeres Unglück gewesen, als der Untergang einer beliebigen Anzahl von ,Führern'“ (Marx: „Briefe an Kugelmann“, Ausgabe der „Elementarbücher des Kommunismus“, Berlin, S, 87),

4 Mit dem „Unternehmen Trotzkis" ist hier die Herausgabe seines Fraktionsblattes „Prawda“ gemeint, das vom Oktober 1908 bis zum Mai 1912 anfangs in Lemberg (Galizien) und dann in Wien erschien.

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