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Wladimir I. Lenin 19131211 Über die „national-kulturelle" Autonomie

Wladimir I. Lenin: Über die „national-kulturelle" Autonomie

[Sa Prawdu", Nr. 46, 28. November/11. Dezember 1913. Nach Sämtliche Werke Band 17, Moskau-Leningrad 1935, S. 108-112]

Das Wesen des Planes oder des Programms der sogenannten „national-kulturellen" Autonomie (mit anderen Worten: „Gründung von Institutionen, die die Freiheit der nationalen Entwicklung garantieren") besteht in der Teilung des Schulwesens nach Nationalitäten.

Dieses Wesen der Sache muss um so nachdrücklicher betont werden, je häufiger verschiedene offene und verschleierte Nationalisten (darunter die Bundisten) es zu verdunkeln bemüht sind..

Jede Nation bildet, unabhängig davon, wo eine beliebige ihr angehörende Person lebt (unabhängig vom Territorium: daher der Name: „exterritoriale" Autonomie), einen einheitlichen, staatlich anerkannten Verband, dem die national-kulturellen Angelegenheiten unterstehen. Die wichtigste dieser Angelegenheiten ist das Schulwesen. Die Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer Nation durch die freiwillige Eintragung jedes Staatsbürgers in einen beliebigen nationalen Verband, unabhängig von seinem Aufenthaltsort, garantiert die absolute Genauigkeit und Folgerichtigkeit der Teilung des Schulwesens nach Nationalitäten.

Es fragt sich, ob eine solche Teilung vom Standpunkte der Demokratie aus überhaupt und der Interessen des proletarischen Klassenkampfes im Besonderen zulässig ist.

Es genügt, sich das Wesen des Programms der „national-kulturellen Autonomie" klar vorzustellen, um auf diese Frage ohne Schwanken zu antworten,: Sie ist entschieden unzulässig.

Solange verschiedene Nationen in einem Staate leben, sind sie miteinander durch Millionen und Milliarden von Fäden wirtschaftlichen und rechtlichen Charakters sowie der ganzen Lebensführung verbunden. Wie kann man nun das Schulwesen aus diesem Zusammenhang herausreißen? Kann man auch das Schulwesen der „Kompetenz" des Staates „entziehen", wie die in ihrer plastischen Unterstreichung des Unsinns klassische bundistische Formulierung lautet? Wenn die Ökonomie die in einem Staate lebenden Nationen miteinander verbindet, so ist der Versuch, sie in den „kulturellen" und namentlich in den Schulfragen ein für allemal voneinander zu trennen, sinnlos und reaktionär. Im Gegenteil, man muss in der Schulfrage die Vereinigung der Nationen erstreben, damit in der Schule das vorbereitet werde, was im Leben verwirklicht wird. Gegenwärtig sehen wir eine Rechtsungleichheit der Nationen und eine Ungleichheit ihres Entwicklungsniveaus; unter solchen Umständen wird die Teilung das Schulwesens nach Nationalitäten faktisch unvermeidlich eine Verschlechterung für die rückständigeren Nationen bedeuten. In den ehemaligen Sklavenhalterstaaten im Süden der Vereinigten Staaten werden die Negerkinder heute noch in besonderen Schulen untergebracht, während im Norden die Weißen und die Neger zusammen lernen. In Russland entstand unlängst das Projekt der „Nationalisierung der jüdischen Schule", d.h. der Absonderung der jüdischen Kinder von den Kindern anderer Nationalitäten in besonderen Schulen. Es erübrigt sich, hinzuzufügen, dass das Projekt aus den reaktionärsten Purischkjewitsch-Kreisen stammt.

Man kann nicht ein Demokrat sein und gleichzeitig den Grundsatz der Teilung des Schulwesens nach Nationalitäten verfechten. Wohlgemerkt: wir betrachten die Frage vorläufig vom allgemein-demokratischen, d. h. vom bürgerlich-demokratischen Standpunkt.

Unvergleichlich entschiedener muss man gegen die Teilung des Schulwesens nach Nationalitäten vom Standpunkt des proletarischen Klassenkampfes auftreten. Wem ist nicht bekannt, dass sich die Kapitalisten aller Nationen eines Staates in Aktiengesellschaften, Kartellen, Trusts, in Industriellenverbänden usw. gegen die Arbeiter jedweder Nationalität aufs Engste und untrennbar zusammenschließen? Wer weiß nicht, dass wir in jedem beliebigen kapitalistischen Unternehmen, von den großen Werken, Bergwerken und Fabriken über die Handelsfirmen bis zu den kapitalistischen landwirtschaftlichen Unternehmungen, stets und ausnahmslos eine buntere nationale Zusammensetzung der Arbeiter sehen als in dem entlegenen, friedlichen und schläfrigen Dorfe?

Ein in der Stadt lebender Arbeiter, der den entwickelten Kapitalismus am besten kennt und die Psychologie des Klassenkampfes am tiefsten, mit seinem ganzen Leben und vielleicht schon mit der Muttermilch in sich aufgenommen hat, muss unwillkürlich und unbedingt zu der Erkenntnis kommen, dass die Teilung des Schulwesens nach Nationalitäten nicht nur ein schädliches sondern ein direkt schurkisches und hochstaplerisches Unterfangen der Kapitalisten ist. Die Arbeiter können durch das Propagieren einer solchen Idee und noch mehr durch die Teilung der Volksschulen nach Nationalitäten zersplittert, voneinander getrennt und geschwächt werden, während den Kapitalisten, deren Kinder aufs Beste mit reichen Privatschulen und besonders angestellten Lehrern versorgt sind, auf keinen Fall von irgendwelcher „national-kulturellen Autonomie" irgendeine Zersplitterung oder irgendeine Schwächung droht.

In Wirklichkeit ist die „national-kulturelle Autonomie“ d. h. die absolut reine und folgerichtige Teilung des Schulwesens nach Nationalitäten, nicht von den Kapitalisten (die gebrauchen vorläufig etwas gröbere Mittel, um die Arbeiter zu zersplittern), sondern von den opportunistischen kleinbürgerlichen Intellektuellen Österreichs ausgedacht worden. In keinem der westeuropäischen demokratischen Staaten mit bunter nationaler Zusammensetzung ist von dieser genial-kleinbürgerlichen und genial-nationalistischen Idee auch nur eine Spur zu finden. Nur im Osten Europas, in dem rückständigen, feudalen, klerikalen, bürokratischen Österreich, wo jedwedes soziale und politische Leben durch das elendig-kleinliche Gezänk (noch schlimmer sogar: durch die Raufereien) wegen der Sprachenfragen verrammt ist, konnte diese Idee des verzweifelten Kleinbürgers entstehen. Wenn man schon den Hund mit der Katze nicht versöhnen kann, dann sollen wenigstens auf dem Gebiet des Schulwesens sämtliche Nationen restlos und mit absoluter Folgerichtigkeit in „nationalen Kurien" voneinander abgesondert werden! – das ist die Psychologie, die die dämliche „national-kulturelle Autonomie" geboren hat. Das Proletariat, das sich seines Internationalismus bewusst ist und ihn schätzt, wird sich auf diese Dämlichkeit des verfeinertem Nationalismus niemals einlassen.

Es ist kein Zufall, dass in Russland nur sämtliche bürgerlichen Parteien des Judentums, ferner (im Jahre 1907) die Konferenz der kleinbürgerlichen Linksnarodniki-Parteien verschiedener Nationen und schließlich die kleinbürgerlichen opportunistischen Elemente der pseudo-marxistischen Gruppen, d. h. die Bundisten und die Liquidatoren (diese hatten nicht einmal den Mut, dies offen und direkt mit aller Bestimmtheit zu tun) die national-kulturelle Autonomie angenommen haben. Es ist kein Zufall, dass von der Tribüne der Reichsduma herab nur der nationalistisch angesteckte Halb-Liquidator Tschchenkeli und der Kleinbürger Kerenski von der „national-kulturellen Autonomie" gesprochen haben.1

Es ist überhaupt komisch zu lesen wie sich die Liquidatoren und die Bundisten in dieser Frage auf Österreich berufen. Erstens, warum das von allen bunt-nationalen Ländern rückständigste Österreich als Vorbild nehmen? Warum nicht das fortschrittlichste Land? Das ist doch eine den Gepflogenheiten der schlechten russischen Liberalen, d. h. der Kadetten, verwandte Art, die die Vorbilder für die Verfassung vor allen Dingen in den rückständigen Staaten, in Preußen und Österreich, und nicht in den fortschrittlichen, nicht in Frankreich, der Schweiz und Amerika suchen!

Zweitens verschlechtern die russischen nationalistischen Kleinbürger, d. h. die Bundisten, die Liquidatoren, die Linksnarodniki usw. ihrerseits noch besonders das von ihnen gewählte österreichische Beispiel. Bei uns verwenden am meisten und vor allem gerade die Bundisten (und auch sämtliche bürgerlichen Parteien des Judentums, in deren Schlepptau sich – nicht immer bewusst – die Bundisten befinden) in ihrer Propaganda und Agitation den Plan der „national-kulturellen Autonomie". Indessen hat in der Heimat der Idee der „national-kulturellen Autonomie", in Österreich, der Urheber dieser Idee, Otto Bauer, ein besonderes Kapitel seines Buches der Beweisführung gewidmet, dass es unmöglich sei, diese Idee der „national-kulturellen Autonomie" auf die Juden anzuwenden!

Dass Otto Bauer die einzige exterritoriale (kein eigenes Wohngebiet besitzende) Nation aus dem Plan der exterritorialen Autonomie der Nationen ausgeschlossen hat, beweist besser als lange Reden, wie wenig konsequent er ist und wie wenig er an seine Idee glaubt.

Das zeigt, wie die Bundisten die altmodischen Pläne Europas aufgreifen, seine Fehler dabei verzehnfachen und „in Weiterentwicklung" dieser Fehler bis zur Absurdität gelangen.

Denn drittens haben die österreichischen Sozialdemokraten auf dem Brünner Parteitag (1899) das ihnen vorgelegte Programm der „national-kulturellen Autonomie" abgelehnt". Sie haben lediglich einen Kompromiss in Form eines Bundes aller national abgegrenzten Gebiete des Staates angenommen. In diesem Kompromiss gibt es weder die Exterritorialität noch die Teilung des Schulwesens nach Nationalitäten. Nach diesem Kompromissprojekt zersplittern die (im kapitalistischen Sinne) am weitesten vorgeschrittenen Siedlungen, die Städte, Fabriken, Bergwerke, großen Domänen usw. nicht das Schulwesen nach Nationalitäten.

Die russische Arbeiterklasse hat die reaktionäre, schädliche, kleinbürgerliche nationalistische Idee der „national-kulturellen Autonomie" bekämpft und wird sie bekämpfen.

1 In der Debatte über die Regierungserklärung, die vom Vorsitzenden des Ministerrats Kokowzow in der Sitzung dar Reichsduma vom 18. (5.) Dezember 1912 verlesen wurde, sprachen Kerenski und Tschchenkeli, die sich hauptsächlich mit der Stellung der Regierung zur nationalen Frage beschäftigten.

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