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Brünner Parteitag 1899

Der Brünner Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie fand vom 24.–29. September [1899] statt. Die nationale Frage war der Mittelpunkt seiner Verhandlungen. Es wurden zwei Resolutionen vorgelegt: die eine vom Gesamtparteivorstande, die andere vom Parteivorstand der slowenischen Sozialdemokratie. In der ersten Resolution wurde der Gedanke der sogenannten territorialen Autonomie, d. h. der Selbstverwaltung für die Gebiete aller Nationalitäten Österreichs ausgesprochen. In der zweiten Resolution war der Gedanke der „kulturell-nationalen Autonomie“ ausgesprochen. Schließlich wurde eine Resolution angenommen, in der es heißt, dass Österreich sich in einen „Nationalitätenbundesstaat“ verwandeln soll, in welchem 1) jedes nationale Gebiet seine demokratische Selbstverwaltung hat und die Gebiete jeder Nation einen nationalen Verband bilden, der in allen nationalen Angelegenheiten volle Selbständigkeit besitzt, und 2) die Rechte der nationalen Minderheiten durch ein besonderes vom Reichsparlament zu beschließendes Gesetz geschützt werden. Somit wurde die Forderung der „kulturell-nationalen Autonomie“ auf dem Brünner Parteitage nicht aufgestellt. Aber das beschlossene Nationalitätenprogramm enthielt auch nicht die revolutionäre Forderung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes bis zur Loslösung und zur Bildung eines eigenen Staates. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 120]

Der Brünner Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie fand vom 24. bis 29. September 1899 im dortigen Arbeiterheim statt.

Unter dem Einfluss des erstarkenden kleinbürgerlichen Nationalismus, der auch in die Reihen der auf dem Parteitage von Hainfeld 1889 gegründeten international vereinigten österreichischen Sozialdemokratie eindrang, setzte das Streben zur Gründung besonderer nationaler Gruppen in der Partei ein. Bereits der 1897 in Wien abgehaltene Parteitag (der sogenannte „Wimmberger" Parteitag) beschloss die Bildung von sechs autonomen nationalen Sozialdemokratischen Parteien: einer deutschen, tschechischen, polnischen, italienischen, slowenischen und ukrainischen Sozialdemokratischen Partei. Das Streben, aus dem nationalen Kampfe einen Ausweg zu finden und den Nationalitätenkampf im Lande abzuschwächen, machte die Frage der Annahme eines Programms zur nationalen Frage aktuell. Anfang 1899 erschien die Broschüre Karl Renners (damals unter dem Pseudonym „Synopticus"; außerdem schrieb Renner auch unter dem Pseudonym Rudolf Springer) „Staat und Nation". Die Broschüre entwickelte die Idee einer exterritorialen national-kulturellen Autonomie und übte auf die Ausarbeitung des nationalen Programms der österreichischen Sozialdemokratie einen großen Einfluss aus. Infolge der Zuspitzung der nationalen Frage und der Verschärfung der nationalen Kämpfe in Österreich stand die nationale Frage im Mittelpunkte des Interesses des Parteitages von 1899. Es entwickelte sich eine lebhafte Debatte, und es wurden zwei Resolutionen vorgelegt: eine der Gesamtexekutive der österreichischen Sozialdemokratie und eine der Exekutive der Slowenischen Sozialdemokratischen Partei. Die Resolution der Gesamtexekutive stellte sich in der Hauptsache auf den Standpunkt der territorialen nationalen Autonomie, während die Resolution der slowenischen Exekutive die Idee einer exterritorialen national-kulturellen Autonomie vertrat. Als Ergebnis der Debatte wurde eine Resolution angenommen, der die Resolution der Gesamtexekutive zugrunde lag und die ein Kompromiss zwischen dem Streben der deutsch-österreichischen Sozialdemokraten mit Viktor Adler an der Spitze nach Erhaltung des zentralisierten Staates einerseits und den nationalistischen Tendenzen anderseits war, die sich besonders stark in den Reihen der tschechischen Sozialdemokratie zeigten. In der Resolution heißt es: „Die endgültige Regelung der Nationalitäten- und Sprachenfrage in Österreich im Sinne der Gleichberechtigung und Vernunft ist vor allem eine kulturelle Forderung, daher im Lebensinteresse des Proletariats gelegen." Die Resolution forderte: „1. Österreich ist umzubilden in einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat. 2. An Stelle der historischen Kronländer werden national abgegrenzte Selbstverwaltungskörper gebildet, deren Gesetzgebung und Verwaltung durch nationale Kammern, gewählt auf Grund des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts, besorgt wird. Sämtliche Selbstverwaltungskörper einer und derselben Nation bilden zusammen einen national einheitlichen Verband, der seine nationalen Angelegenheiten völlig autonom besorgt. 4. Das Recht der nationalen Minderheiten wird durch ein eigenes, vom Reichsparlament zu beschließendes Gesetz gewahrt. 5. Wir anerkennen keine nationalen Vorrechte, verwerfen daher die Forderung einer Staatssprache; wieweit eine Vermittlungssprache nötig ist, wird ein Reichsparlament bestimmen." Somit wurde die Forderung der national-kulturellen Autonomie vom Brünner Parteitag nicht angenommen, aber auch das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung machte sich der Brünner Parteitag nicht zu eigen; es wurde durch das Prinzip der nationalen Autonomie innerhalb der Grenzen des einheitlichen österreichischen Staates ersetzt. In der Debatte erklärte der Vertreter der ukrainischen (ruthenischen) Sozialdemokratie, Hankewitsch, im Namen seiner Partei, dass die Interessen der Vereinigung der gesamten ukrainischen Nation, sowohl jenes Teils, der in Österreich-Ungarn, als auch jenes Teils, der in Russland wohnt, „die nationale Freiheit ihrer ganzen Nation" erfordern, „damit das geeinte und befreite ruthenische Volk als ein ebenbürtiges Glied in der Reihe der Völker dastehe". Eine ähnliche Erklärung gab im Namen der polnischen Delegation Reger ab. Im Zusammenhang mit diesen Erklärungen zog Lenin den Schluss: „So hat die österreichische Sozialdemokratie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zwar nicht direkt als Programmpunkt aufgestellt, aber sich doch gleichzeitig vollkommen damit abgefunden, dass Teile der Partei die Forderung nach nationaler Selbständigkeit erheben".

In der organisatorischen Frage kamen die Beschlüsse des Brünner Parteitages den Bestrebungen nach Verselbständigung der nationalen sozialdemokratischen Parteien in weitem Maße entgegen. Die Gesamtexekutive der Partei wurde in ein föderatives Organ verwandelt, das aus den Exekutiven der deutschen, tschechischen, polnischen, ruthenischen, italienischen und slowenischen Sozialdemokratischen Partei bestand.

Später begann in den Reihen der österreichischen Sozialdemokratie die Spaltung der Gewerkschaften, der Genossenschaften und auch der sozialdemokratischen Kulturorganisationen nach Nationalitäten und der Kampf zwischen ihnen (die erste Gewerkschaftsspaltung vollzog sich 1905 bei den Schuhmachern). Im März 1910 wurde auf der Konferenz der „Tschechoslowakischen Sozialdemokratischen Partei" die Abspaltung der Partei und der Gewerkschaftsorganisation der tschechischen von der gesamten übrigen Arbeiterbewegung Österreichs endgültig vollzogen. Diese Frage wurde in demselben Jahre auf dem Kopenhagener Internationalen Sozialistenkongress behandelt.

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