VII. Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus

VII. Der Imperialismus als besonderes Stadium des Kapitalismus

Wir müssen nun versuchen, gewisse Lehren zu ziehen, und das über den Imperialismus bisher Gesagte zusammenzufassen. Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst dann, als auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe einige seiner Grundzüge sich in ihr Gegenteil umzuwandeln begannen und durchweg Formen einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren gesellschaftlich-wirtschaftlichen Ordnung sich herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende in diesem Prozess die Ablösung der freien kapitalistischen Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole. Die freie Konkurrenz ist das Wesensmerkmal der kapitalistischen und der Warenproduktion überhaupt; das Monopol ist der direkte Gegensatz zur freien Konkurrenz, aber diese selbst begann sich vor unseren Augen zum Monopol zu wandeln, indem sie die Großproduktion schuf, den Kleinbetrieb verdrängte, die großen Betriebe durch noch größere ersetzte, mit einem Wort, die Konzentration der Produktion und des Kapitals so weit brachte, dass daraus das Monopol entstand und noch weiter entsteht, nämlich: Kartelle, Syndikate, Trusts und das sich mit ihnen verschmelzende Kapital einiger über Milliarden verfügender Banken. Und zugleich sehen wir, dass die Monopole die freie Konkurrenz, aus der sie erwachsen, nicht beseitigen, sondern über und neben ihr fortbestehen und somit eine Reihe besonders krasser und schroffer1 Widersprüche, Reibungen und Konflikte erzeugen. Das Monopol ist der Übergang vom Kapitalismus zu einer höheren Ordnung.

Wäre eine möglichst kurze Definition des Imperialismus erforderlich, so müsste man sagen, dass der Imperialismus das monopolistische Stadium des Kapitalismus ist. Diese Definition würde die Hauptsache enthalten, denn auf der einen Seite ist das Finanzkapital das in wenigen monopolistischen Großbanken konzentrierte und mit dem Kapital monopolistischer Unternehmerverbände verschmolzene Bankkapital, und auf der anderen Seite ist die Aufteilung der Welt der Übergang von einer Kolonialpolitik, die sich ungehindert auf Kosten der noch von keiner kapitalistischen Macht besetzten Gebiete ausdehnen konnte, zur Kolonialpolitik der monopolistischen Beherrschung der Erde, die bereits restlos auf geteilt ist.

Doch sind allzu kurze Definitionen zwar bequem, denn sie fassen das Wichtigste zusammen, aber dennoch unzulänglich, sobald aus ihnen wesentliche Züge der zu definierenden Erscheinung speziell abgeleitet werden sollen. Deshalb müssen wir – ohne zu vergessen, dass alle Definitionen überhaupt nur bedingte und relative Bedeutung haben, da nie eine Definition die allseitigen Zusammenhänge einer vollentwickelten Erscheinung umfassen kann – eine Definition des Imperialismus finden, die folgende fünf seiner wichtigsten Merkmale enthält: 1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, dass sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben eine entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses „Finanzkapitals“; 3. der Kapitalexport, im Unterschied zum Warenexport, gewinnt besondere Bedeutung; 4. es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet. Der Imperialismus ist der Kapitalismus auf einer Entwicklungsstufe, auf der die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet, der Kapitalexport eine hervorragende Bedeutung gewonnen, die Verteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territoriums der Erde zwischen den größten kapitalistischen Ländern abgeschlossen ist.

Wir werden später sehen, wie der Imperialismus anders definiert werden kann und muss, wenn man nicht nur die grundlegenden rein ökonomischen Begriffe (auf die sich die angeführte Definition beschränkt) im Auge behält, sondern auch den historischen Platz berücksichtigt, den dieses Stadium des Kapitalismus gegenüber dem Kapitalismus überhaupt einnimmt, oder das Verhältnis zwischen dem Imperialismus und den zwei Grundrichtungen innerhalb der Arbeiterbewegung. Es sei gleich bemerkt, dass der Imperialismus, in diesem Sinne aufgefasst, zweifellos ein besonderes Entwicklungsstadium des Kapitalismus darstellt. Um dem Leser eine möglichst begründete Vorstellung vom Imperialismus zu geben, waren wir absichtlich bestrebt, möglichst viel Äußerungen bürgerlicher Ökonomen zu zitieren, die sich gezwungen sehen, besonders unbestreitbar feststehende Tatsachen aus der neuesten Ökonomik des Kapitalismus anzuerkennen. Zu demselben Zweck haben wir ausführliche statistische Daten angeführt, die zeigen, bis zu welchem Grade das Bankkapital angewachsen ist usw. und worin eben das Umschlagen von Quantität in Qualität, der Übergang des hochentwickelten Kapitalismus in den Imperialismus seinen Ausdruck gefunden hat. Es versteht sich von selbst, dass alle Grenzen in Natur und Gesellschaft bedingt und beweglich sind, so dass es sinnlos wäre, z. B. sich über die Frage herum zu streiten, seit welchem Jahr oder Jahrzehnt der Imperialismus als „endgültig“ konsolidiert gelten kann.

Und dennoch muss man über die Definition des Imperialismus streiten und vor allem muss man dies mit dem führenden marxistischen Theoretiker aus der Epoche der sogenannten II. Internationale, d. h. des Vierteljahrhunderts von 1889-1914, mit Karl Kautsky.

Gegen die grundlegenden Ideen unserer Definition des Imperialismus wandte sich Kautsky ganz entschieden im Jahre 1915 und sogar schon im November 1914 mit der Erklärung, dass unter Imperialismus nicht eine „Phase“ oder Stufe der Wirtschaft, sondern eine Politik, nämlich eine bestimmte, vom Finanzkapital „bevorzugte“ Politik zu verstehen sei, dass der Imperialismus nicht mit dem modernen Kapitalismus „identifiziert“ werden könne, dass wenn man unter Imperialismus „alle Erscheinungen des modernen Kapitalismus“ – Kartelle, Schutzzollsystem, Herrschaft der Finanzoligarchie, Kolonialpolitik – versteht, dann die Frage, ob der Imperialismus eine notwendige Folgeerscheinung des Kapitalismus sei, auf die „platteste Tautologie“ hinauslaufe, denn unter dieser Voraussetzung sei der Imperialismus „natürlich eine Lebensnotwendigkeit für den Kapitalismus“ usw. Kautskys Gedankengang lässt sich am besten darstellen, wenn wir seine Definition des Imperialismus zitieren, eine Definition, die sich direkt gegen das Wesen der von uns entwickelten Ideen wendet (denn die Einwände aus dem Lager der deutschen Marxisten, die jahrelang ähnliche Ideen propagierten, sind Kautsky längst als Einwände einer bestimmten Strömung innerhalb des Marxismus bekannt).

Kautskys Definition lautet :

Der Imperialismus ist ein Produkt des hochentwickelten industriellen Kapitalismus. Er besteht in dem Drange jeder industriellen kapitalistischen Nation, sich ein immer größeres agrarisches (von Kautsky gesperrt) Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt wird.“A

Diese Definition taugt zu rein gar nichts2, denn sie ist einseitig, d. h. sie greift willkürlich einzig und allein die nationale Frage heraus (die an sich wie auch in ihrem Verhältnis zum Imperialismus zwar von höchster Wichtigkeit ist), verknüpft diese willkürlich und unrichtig nur mit dem Industriekapital in den Ländern, die andere Nationen annektieren, und schiebt ebenso willkürlich und unrichtig die Annexion3 von Agrargebieten4 in den Vordergrund.

Imperialismus ist Drang nach Annexionen – darauf läuft der politische Teil der Kautskyschen Definition hinaus. Er ist richtig, aber höchst unvollständig, denn politisch ist der Imperialismus überhaupt Drang nach Gewalt und Reaktion. Uns beschäftigt jedoch hier die ökonomische Seite der Frage, die Kautsky selbst5 in seine Definition hineinbrachte. Die Unrichtigkeiten in Kautskys Definition springen in die Augen. Für den Imperialismus ist ja gerade nicht das Industrie-, sondern das Finanzkapital charakteristisch. Es ist kein Zufall, dass in Frankreich gerade die besonders rasche Entwicklung des Finanz- und die gleichzeitige Schwächung des Industriekapitals seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine äußerste Verschärfung der annexionistischen (Kolonial-) Politik hervorgerufen hat. Für den Imperialismus ist gerade das Bestreben charakteristisch, nicht nur Agrarländer zu annektieren, sondern auch höchst entwickelte Industriegebiete (Deutschlands Gelüste auf Belgien, Frankreichs auf Lothringen), denn erstens zwingt die vollzogene Verteilung der Erde, bei einer Neuverteilung nach jedem beliebigen Land zu greifen, und zweitens ist für den Imperialismus kennzeichnend, dass einige Großmächte um die Hegemonie wetteifern, d. h. bestrebt sind, Länder zu erbeuten nicht so sehr direkt für sich, als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie (für Deutschland ist Belgien von besonderer Wichtigkeit als Stützpunkt gegen England; für England wiederum Bagdad als Stützpunkt gegen Deutschland usw.).6

Kautsky beruft sich besonders – und mehrmals – auf die Engländer, die angeblich die rein politische Bedeutung des Begriffs Imperialismus in seinem, Kautskys, Sinne festgelegt hätten. Nehmen wir den Engländer Hobson; wir lesen in seinem 1902 erschienenen Werk „Imperialismus“ folgendes:

Der neue Imperialismus unterscheidet sich vom alten erstens dadurch, dass er an Stelle der Bestrebungen eines einzigen wachsenden Imperiums die Theorie und Praxis wetteifernder Imperien setzte, von denen jedes von den gleichen Wünschen nach politischer Expansion und Handelsvorteilen geleitet wird; und zweitens durch das Überwiegen der Finanzinteressen oder der Interessen der Kapitalanlage über die Handelsinteressen.“B

Wir sehen also, dass Kautsky absolut im Unrecht ist, wenn er sich auf die Engländer im Allgemeinen beruft (er könnte sich höchstens auf die vulgären englischen Imperialisten oder direkten Apologeten des Imperialismus berufen). Wir sehen auch, dass Kautsky, der darauf Anspruch erhebt, nach wie vor den Marxismus zu verteidigen, in der Tat einen Schritt rückwärts macht im Vergleich zum Sozialliberalen Hobson, der die zwei „historisch-konkreten“ (Kautsky verhöhnt geradezu mit seiner Definition die historische Konkretheit!)7 Merkmale des modernen Imperialismus richtiger feststellt: 1. die Konkurrenz einiger Imperialismen und 2. die dominierende Rolle des Finanzmanns gegenüber dem Handelsmann. Wenn aber hauptsächlich davon die Rede ist, ein Industriestaat annektiere ein Agrarland, so wird damit die überragende Rolle des Händlers hervorgehoben.

Kautskys Definition ist nicht nur unrichtig und unmarxistisch, sie dient als Begründung für ein ganzes System von Auffassungen, die sowohl mit der marxistischen Theorie als auch mit der marxistischen Praxis glatt brechen (darüber später). Ganz und gar unernst ist der von Kautsky entfachte Wortstreit, ob die neueste Stufe des Kapitalismus als Imperialismus oder als die Stufe des Finanzkapitals anzusprechen sei. Man nenne es, wie man will – darauf kommt es nicht an. Wesentlich ist, dass Kautsky die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomik trennt, indem er von den Annexionen als der vom Finanzkapital „bevorzugten“ Politik spricht und ihr eine andere, angeblich durchaus mögliche bürgerliche Politik auf derselben Basis des Finanzkapitals entgegenstellt. Es sieht so aus, als wären die Monopole in der Wirtschaft vereinbar mit einem nicht-monopolistischen, nicht-gewalttätigen, nicht-annexionistischen8 Verhalten in der Politik. Als wäre die territoriale Aufteilung der Welt, die gerade im Zeitalter des Finanzkapitals beendet wurde und die Grundlage für die Eigenart der jetzigen Formen des Wettkampfes zwischen den kapitalistischen Großstaaten bildet, mit einer nicht-imperialistischen9 Politik vereinbar. Das Resultat ist eine Vertuschung, eine Abstumpfung der fundamentalsten Widersprüche innerhalb des jüngsten Stadiums des Kapitalismus statt einer Enthüllung ihrer Tiefe, das Resultat ist bürgerlicher Reformismus statt Marxismus.

Kautsky polemisiert gegen Cunow, den deutschen Apologeten des Imperialismus und der Annexionen, dessen Gedankengang ebenso plump wie zynisch ist: der Imperialismus ist der moderne Kapitalismus; die Entwicklung des Kapitalismus ist unvermeidlich und fortschrittlich, folglich ist auch der Imperialismus fortschrittlich, und wir haben den Imperialismus anzubeten und zu lobpreisen. Dieser Gedankengang erinnert an das Zerrbild, das die Narodniki von den russischen Marxisten 1894/95 entwarfen: wenn die Marxisten den Kapitalismus in Russland für unvermeidlich und fortschrittlich halten, so müssten sie halt Kneipen auftun und den Kapitalismus züchten. Kautsky erwidert10 Cunow: nein, der Imperialismus ist nicht der moderne Kapitalismus, sondern bloß eine Form der Politik des modernen Kapitalismus, und wir können und müssen diese Politik bekämpfen, können und müssen gegen den Imperialismus, gegen die Annexionen kämpfen usw.

Auf den ersten Blick erscheint dieser Einwand recht passabel, aber in Wirklichkeit bedeutet er eine feinere, verhülltere (und darum gefährlichere) Propaganda einer Versöhnung mit dem Imperialismus, denn ein „Kampf“ gegen die Politik der Trusts und der Banken, der die wirtschaftlichen Grundlagen der Trusts und Banken unberührt lässt, läuft auf bürgerlichen Reformismus und Pazifismus hinaus, auf harmlose und fromme Wünsche. Sich über die bestehenden Widersprüche hinwegsetzen, die wichtigsten von ihnen vergessen, anstatt sie in ihrer ganzen Tiefe aufzudecken – das ist Kautskys Theorie, die mit dem Marxismus nichts gemein hat. Und so eine „Theorie“ dient natürlich nur der Verfechtung der Idee der Einheit mit den Cunow!

Vom rein ökonomischen Standpunkt, meint Kautsky, sei es nicht ausgeschlossen, dass der Kapitalismus noch eine neue Phase durchmachen werde: die Übertragung der Politik der Kartelle auf die Außenpolitik, die Phase des Ultra-ImperialismusC, d. h., es sei die Möglichkeit „zu erwägen, ob die jetzige imperialistische Politik durch eine neue ultraimperialistische verdrängt werde, die an Stelle des Kampfes der nationalen Finanzkapitale untereinander die gemeinsame Ausbeutung der Welt durch das international verbündete Finanzkapital setzte“.D

Auf diese „Theorie des Ultra-Imperialismus“ müssen wir noch zurückkommen11, um genau zu zeigen, bis zu welchem Grade sie entschieden und unwiderruflich mit dem Marxismus bricht. Entsprechend der ganzen Anlage dieser Studie müssen12 wir uns hier zunächst die genauen ökonomischen Daten über diese Frage ansehen. Ist ein „Ultra-Imperialismus“ vom „rein ökonomischen Standpunkt“ möglich, oder ist das Ultraunsinn?13

Versteht man unter dem rein ökonomischen Standpunkt eine „reine“ Abstraktion, so läuft alles, was sich da sagen lässt, auf die These hinaus: die Entwicklung bewegt sich in der Richtung der Monopole, also eines Weltmonopols, eines Welttrusts. Das ist unzweifelhaft richtig, aber ebenso nichtssagend wie der Hinweis, dass „die Entwicklung“ sich in der Richtung zur Herstellung der Nahrungsmittel im Laboratorium „bewegt“. In diesem Sinne ist die „Theorie“ des Ultra-Imperialismus ebensolcher Unsinn, wie es eine „Theorie der Ultra-Landwirtschaft“ wäre14.

Spricht man aber von den „rein ökonomischen“ Bedingungen der Epoche des Finanzkapitals als von einer historisch-konkreten Epoche, die in den Anfang des 20. Jahrhunderts fällt, so erhalten wir die beste Antwort auf die toten Abstraktionen des „Ultra-Imperialismus“ (die nur dem einen, höchst reaktionären Zwecke dienen, die Aufmerksamkeit von der Tiefe der vorhandenen Widersprüche abzulenken)15, wenn wir ihnen die konkrete ökonomische Wirklichkeit der modernen Weltwirtschaft gegenüberstellen. Kautskys leeres16 Geschwätz über Ultra-Imperialismus nährt u. a. den grundfalschen Gedanken, der Wasser auf die Mühle der Apologeten des Imperialismus ist, dass die Herrschaft des Finanzkapitals die Ungleichmäßigkeiten und die Widersprüche innerhalb der Weltwirtschaft abschwäche, während sie in Wirklichkeit diese verstärkt.

Richard Calwer machte in seiner Schrift „Einführung in die Weltwirtschaft“E den Versuch, die wichtigsten rein ökonomischen Daten zusammenzutragen, die eine konkrete Vorstellung von den Wechselbeziehungen innerhalb der Weltwirtschaft um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts ermöglichen. Er teilt die ganze Welt in fünf „wirtschaftliche Hauptgebiete“: 1. das mitteleuropäische (ganz Europa, außer Russland und England); 2. das britische; 3. das russische; 4. das ostasiatische und 5. das amerikanische; dabei werden die Kolonien zu denjenigen Staaten gezählt, denen sie gehören, und die wenigen keinem Gebiet zugeteilten Länder sind außer acht gelassen, z. B. Persien, Afghanistan, Arabien in Asien, Marokko und Abessinien in Afrika usw.

Wir geben nachstehend, in gekürzter Form, die von Calwer angeführten ökonomischen Daten über diese Gebiete:

Die wirtschaftlichen Hauptgebiete der Welt

Fläche (in Millio­nen qkm)F

Einwoh­nerzahl (in Millio­nen)F

Verkehrsmittel

Handel

Industrie

Schie­nen­länge (in 1000 km)

Handels­schiffe (in Millio­nen Ton­nen)

Ein- u. Ausfuhr (in Milliar­den Mark)

Jahres­förde­rung von Stein­kohlen (in Millio­nen Tonnen)

Roh­eisen-Gewin­nung (in Millio­nen Tonnen)

Anzahl der Spin­deln in der Baum­woll­industrie (in Mil­lio­nen)

1. Mitteleuropäisches

27,6 (23,6)17

388 (146)18

204

8

41

251

15

26

2. Britisches

28,9 (28,6)

398 (355)

140

11

25

249

9

51

3. Russisches

22

131

63

1

3

16

3

7

4. Ostasiatisches

12,0

389

8

1

2

8

0,02

2

5. Amerikanisches

30,0

148

379

6

14

245

14

19

Wir sehen da drei Gebiete mit hochentwickeltem Kapitalismus (starke Entwicklung sowohl des Verkehrswesens wie des Handels und der Industrie): das mitteleuropäische, britische und amerikanische; darunter drei weltbeherrschende Staaten: Deutschland, England und die Vereinigten Staaten. Die imperialistische Konkurrenz und der Kampf unter ihnen wird dadurch außerordentlich verschärft, dass Deutschland nur über ein ganz kleines Gebiet und wenig Kolonien verfügt; die Bildung „Mitteleuropas“ liegt noch in der Zukunft, und seine Geburt geht in einem verzweifelten Kampfe vor sich. Einstweilen ist das Kennzeichen von ganz Europa politische Zersplitterung. In dem britischen und dem amerikanischen Gebiete dagegen ist die politische Konzentration sehr groß, aber es besteht hier ein ungeheures Missverhältnis zwischen den unermesslichen Kolonien des britischen und den geringfügigen des amerikanischen Gebietes. In den Kolonien ist der Kapitalismus erst im Entstehen begriffen. Der Kampf um Südamerika gewinnt immer mehr an Schärfe.

Zwei Gebiete mit schwacher kapitalistischer Entwicklung sind das russische und das ostasiatische. Im ersteren haben wir es mit einer äußerst geringen Bevölkerungsdichte zu tun, im zweiten mit einer außerordentlich starken; im ersteren ist die politische Konzentration groß, im zweiten fehlt sie ganz. China beginnt man erst zu teilen, und der Kampf darum zwischen Japan, den Vereinigten Staaten usw. wird immer erbitterter.

Man stelle dieser Wirklichkeit – mit der ungeheuren Mannigfaltigkeit ökonomischer und politischer Bedingungen, mit der äußersten Ungleichmäßigkeit im Tempo des Wachstums der verschiedenen Länder usw., mit dem wahnwitzigen Kampf zwischen den imperialistischen Staaten – Kautskys dummes Märchen19 von einem „friedlichen“ Ultra-Imperialismus gegenüber! Ist das nicht der reaktionäre Versuch eines erschrockenen Kleinbürgers, sich der grausamen Wirklichkeit zu entziehen?20 Die internationalen Kartelle, die Kautsky als Keime des Ultra-Imperialismus anspricht (wie man auch die Erzeugung von Tabletten im Laboratorium als einen Keim der Ultra-Landwirtschaft ansprechen „kann“)21 – bieten sie uns denn nicht ein Beispiel der Teilung und Neuteilung der Welt, des Übergangs von friedlicher Aufteilung zu unfriedlicher und umgekehrt? Das Finanzkapital Amerikas und anderer Länder, das bisher unter Deutschlands Mitbeteiligung, sagen wir im internationalen Schienenkartell oder in dem internationalen Trust der Handelsschifffahrt, die ganze Welt friedlich aufteilte – teilt es denn jetzt auf Grund neuer Kräfteverhältnisse, die auf ganz unfriedlichem22 Wege verändert werden, die Welt nicht23 neu auf?

Das Finanzkapital und die Trusts schwächen die Unterschiede im Tempo des Wachstums der verschiedenen Teile der Weltwirtschaft nicht ab, sondern verstärken sie. Sobald aber die Kräfteverhältnisse sich geändert haben, wie sollen dann unter dem Kapitalismus die Gegensätze anders ausgetragen werden als durch Gewalt? Ganz genaue Daten über die Verschiedenheit im Wachstumtempo des Kapitalismus und des Finanzkapitals in der gesamten Weltwirtschaft finden wir in der Eisenbahnstatistik.G In den letzten Jahrzehnten der imperialistischen Entwicklung veränderte sich die Schienenlänge folgendermaßen:

Schienenlänge (in 1000 km)


1890

1913

Zunahme um

Europa

224

346

122

Vereinigte Staaten

268

411

143

Alle Kolonien

82


125

210


347

128


222

Selbständige und halb selbständige Staaten Asiens und Amerikas

43

137

94

Summa:

617

1104

487

Am raschesten ging also die Entwicklung des Eisenbahnnetzes in den Kolonien und den selbständigen (und halb selbständigen) Staaten Asiens und Amerikas vor sich. Bekanntlich regiert hier das Finanzkapital der 4-6 größten kapitalistischen Staaten unumschränkt. Zweimal hunderttausend Kilometer neuer Eisenbahnen in den Kolonien und in den anderen Ländern Asiens und Amerikas – das bedeutet mehr als 40 Milliarden Mark neuer Kapitalanlage zu besonders günstigen Bedingungen, mit besonderen Rentabilitätsgarantien, mit profitablen Aufträgen für die Stahlwerke usw. usf.

Am schnellsten wächst der Kapitalismus in den Kolonien und den überseeischen Ländern. Unter diesen Ländern selbst entstehen neue imperialistische Mächte (Japan). Der Kampf der Weltimperialismen wird schärfer. Es wächst der Tribut, den das Finanzkapital sich von den besonders profitablen kolonialen und überseeischen Unternehmungen zahlen lässt. Bei der Teilung dieser „Beute“ fällt der größte Bissen Ländern zu, die der Entwicklung ihrer Produktivkräfte nach nicht immer an der Spitze stehen. In den größten Staaten betrug die Schienenlänge zusammen mit der ihrer Kolonien:


1890

1913

Zunahme um


(in 1000 km)

Vereinigte Staaten

268

413

145

Britisches Reich

107

208

101

Russland

32

78

46

Deutschland

43

68

25

Frankreich

41

63

22

Bei den fünf Mächten zusammen:

491

830

339

Zirka 80 Prozent der gesamten Schienenlänge sind also in den Händen der fünf größten Staaten konzentriert. Aber die Konzentration des Eigentums an diesen Bahnen, die Konzentration des Finanzkapitals ist noch unvergleichlich größer, denn den englischen und französischen Millionären z. B. gehört ein großer Teil der Aktien und Obligationen der amerikanischen, russischen und anderer Eisenbahnen.

England hat dank seinen Kolonien „sein“ Eisenbahnnetz um hunderttausend Kilometer, also viermal mehr als Deutschland, vergrößert. Dennoch ging bekanntlich während dieser Zeit die Entwicklung der Produktivkräfte, insbesondere die der Kohlen- und Eisenindustrie, in Deutschland unvergleichlich schneller vor sich als in England, geschweige denn in Frankreich oder Russland. 1892 produzierte Deutschland 4,924 Millionen Tonnen Roheisen, England dagegen – 6,8; aber schon 1912 – 17,6 gegen 9,0, also ein gewaltiger Vorsprung gegenüber England!H Es fragt sich, welches andere Mittel konnte es auf dem Boden des Kapitalismus geben, außer dem Krieg, um das Missverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits, der Verteilung der Kolonien und der „Einflusssphären“ des Finanzkapitals andererseits zu beseitigen?

1 Ausg. 1917: „schwerwiegender“. Die Red.

A „Die Neue Zeit“, 32. Jahrg. (1913/14). II, S. 909; vergleiche auch 34. Jahrg. (1915/16), II, S.107 und folgende (84) [Gemeint sind folgende Artikel Kautskys: „Der Imperialismus“, „Die Neue Zeit“, 32. Jahrg., II, Nr. 21 vom 11. September 1914, S. 905-922, und „Zwei Schriften zum Umlernen" („Die Neue Zeit“, 33. Jahrg., II, Nr. 2, 3, 4, 5, April 1915).]

2 Ausg. 1917: „ist vollkommen unrichtig“. Die Red.

3 Ausg. 1917: „Annexionen“. Die Red.

4 Ausg. 1917: „Agrargebieten“. Die Red.

5 Ausg. 1917: fehlt „selbst“. Die Red.

6 Die Wichtigkeit Bagdads für England war damals in dem Abwehrkampf des englischen Imperialismus gegen die Eroberungspläne Deutschlands gegenüber Kleinasien, dem persischen Golf, Arabien, Indien und Ägypten begründet, besonders aber gegen den deutschen Plan des Baus der Bagdadbahn. [Anmerkung 14 der „Ausgewählten Werken“, Band 5]

B Hobson, „Imperialism“, S. 324 (85).

7 Ausg. 1917: der eingeklammerte Satz fehlt. Die Red.

8 Ausg. 1917: „nichtmonopolistischen, nichtgewalttätigen, nichtannexionistischen“. Die Red.

9 Ausg. 1917: „nichtimperialistischen“. Die Red.

10 Ausg. 1917: „.erwidert““. Die Red.

C Die Neue Zeit, 32. Jahrg. (1913/14), II., S. 909; vergleiche auch 34. Jahrg. (1915/16), II., S. 107 f. (84).

D Die Neue Zeit, 33. Jahrg., I. (vom 30. April 1915), S. 144 (86).

11 Ausg. 1917: „Bei dieser ,Theorie des Ultra-Imperialismus' müssen wir verweilen“. Die Red.

12 Ausg. 1917: statt „müssen wir uns hier“ steht „wollen wir uns“. Die Red.

13 Ausg. 1917: fehlen die Worte „oder ist das Ultraunsinn“. Die Red.

14 Ausg. 1917: der Schluss des Absatzes von „wie der Hinweis … “ ab fehlt. Die Red.

15 Ausg. 1917: der eingeklammerte Satz fehlt. Die Red.

16 Ausg. 1917: fehlt „leeres“. Die Red.

E Calwer, Richard, „Einführung in die Weltwirtschaft“, Berlin 1906, S. 3 bis 12, 16-20, 21, 26, 35, 63, 68, 72 (87).

F In Klammern Flächeninhalt und Bevölkerungszahl der Kolonien.

F In Klammern Flächeninhalt und Bevölkerungszahl der Kolonien.

17 Ausg. 1917: „(28,4)“. Die Red.

18 Ausg. 1917: „22,6“. Die Red.

19 Ausg. 1917: statt „dummes Märchen“ – „Ideen“. Die Red.

20 Ausg. 1917: der Satz fehlt. Die Red.

21 Ausg. 1917: der eingeklammerte Satz fehlt. Die Red.

22 Ausg. 1917: „unfriedlichem“. Die Red.

23 Ausg. 1917: „nicht“. Die Red.

G „Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich“, 1915, Anhang, S. 46 u. 47; „Archiv für Eisenbahnwesen 1892“; für 1890 mussten geringfügige Details hinsichtlich der Verteilung der Eisenbahnen auf die Kolonien der verschiedenen Länder annähernd berechnet werden (88).

24 Ausg. 1917: „4,2“. Die Red.

H Vergleiche auch Edgar Crammond, „The Economic Relation of the British and German Empires“ in „Journal of the Royal Statistical Society“, 1914, July, S. 777 (89).

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