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Wladimir I. Lenin 19180314 Rede über die Ratifikation des Friedensvertrages

Wladimir I. Lenin: Rede über die Ratifikation des Friedensvertrages

14. März

[„Prawda" („Sozialdemokrat") Nr. 47 und 48, 16. und 17. März 1918. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 428-448]

Genossen, wir haben heute eine Frage zu entscheiden, die einen Wendepunkt in der Entwicklung der russischen und nicht nur der russischen, sondern auch der internationalen Revolution bedeutet. Um die Frage dieses überaus schweren Friedens richtig zu entscheiden, den die Vertreter der Sowjetmacht in Brest-Litowsk geschlossen haben und den die Sowjetmacht zu bestätigen oder zu ratifizieren empfiehlt, um diese Frage richtig zu entscheiden, müssen wir vor allem den historischen Sinn dieses Wendepunktes begreifen, an dem wir angelangt sind, müssen wir verstehen, worin die Hauptbesonderheit der Entwicklung der Revolution bisher bestand und worin die Hauptursache der schweren Niederlage und der Epoche der schweren Prüfungen besteht, die wir durchgemacht haben.

Mir scheint, dass der Hauptgrund der Meinungsverschiedenheiten unter den Sowjetparteien in dieser Frage gerade darin besteht, dass einige sich allzu sehr von dem Gefühl der berechtigten und gerechten Empörung über die Niederlage, die der Imperialismus der Sowjetmacht beigebracht hat, hinreißen lassen, sich mitunter allzu sehr der Verzweiflung hingeben und anstatt die historischen Bedingungen der Entwicklung der Revolution zu berücksichtigen: wie sie sich vor diesem Frieden gestalteten und wie sie jetzt nach dem Frieden aussehen, – anstatt dessen versuchen sie auf die Frage nach der Taktik der Revolution eine Antwort zu erteilen, die sich auf das unmittelbare Gefühl gründet. Aber die gesamte Erfahrung der Geschichte aller Revolutionen lehrt uns: wenn wir es mit irgendeiner Massenbewegung oder einem Klassenkampf zu tun haben, insbesondere mit einem solchen Kampf, wie dem jetzigen, der sich nicht nur auf dem ganzen Gebiete eines einzigen, wenn auch riesigen Landes abspielt, sondern alle internationalen Verhältnisse erfasst, so müssen wir unserer Taktik vor allen Dingen eine Einschätzung der objektiven Lage zugrunde legen, müssen analysieren, wie der Gang der Revolution bisher verlaufen ist und warum er sich so drohend, so jäh, so ungünstig für uns gestaltet hat.

Wenn wir von diesem Standpunkt die Entwicklung unserer Revolution betrachten, so sehen wir klar, dass sie bisher eine Periode relativer und zum großen Teil scheinbarer Selbständigkeit und zeitweiliger Unabhängigkeit von den internationalen Verhältnissen durchgemacht hat. Der Weg, den unsere Revolution seit Ende Februar 1917 bis zum 11. Februar dieses Jahres1, wo die deutsche Offensive begann, zurückgelegt hat, war im Großen und Ganzen ein Weg leichter und schneller Erfolge. Wenn wir die Entwicklung dieser Revolution im internationalen Maßstabe betrachten, vom Standpunkt der Entwicklung der russischen Revolution allein, so sehen wir, dass wir in diesem Jahre drei Perioden durchgemacht haben. In der ersten Periode hat die Arbeiterklasse Russlands zusammen mit allen fortgeschrittenen, aufgeklärten, beweglichen Elementen der Bauernschaft, unterstützt nicht nur von der Kleinbourgeoisie, sondern auch von der Großbourgeoisie, im Laufe weniger Tage die Monarchie hinweggefegt. Dieser berauschende Erfolg erklärt sich dadurch, dass das russische Volk einerseits aus der Erfahrung des Jahres 1905 eine gigantische Reserve an revolutionärer Kampfkraft geschöpft hat, andererseits dadurch, dass Russland, als besonders rückständiges Land, besonders schwer durch den Krieg zu leiden hatte und besonders früh in einen Zustand geriet, wo es ganz unmöglich war, diesen Krieg unter dem alten Regime weiterzuführen.

Auf den kurzen, stürmischen Erfolg, als die neue Organisation, die Organisation der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte entstand, folgten für unsere Revolution lange Monate einer Übergangsperiode, wo die Regierung der Bourgeoisie, die sofort durch die Sowjets untergraben wurde, von den kleinbürgerlichen Kompromisslerparteien, den Menschewiki und Sozialrevolutionären unterstützt und gestärkt wurde. Das war eine Regierung, die den imperialistischen Krieg, die imperialistischen Geheimvertrage unterstützte und die Arbeiterklasse mit Versprechungen fütterte, eine Regierung, die absolut nichts tat und die die Zerrüttung förderte. In dieser, für uns, für die russische Revolution so langen Periode sammelten die Sowjets ihre Kräfte. Das war eine lange Periode für die russische Revolution und eine kurze vom Standpunkt der internationalen Revolution, denn, in den meisten großen Ländern nahm die Überwindung der kleinbürgerlichen Illusionen, der Kompromisspolitik der verschiedenen Parteien, Fraktionen, Schattierungen nicht Monate, sondern lange, lange Jahrzehnte in Anspruch. Diese Periode, vom 3. Mai (20. April) bis zur Wiederaufnahme des imperialistischen Krieges im Juni durch Kerenski, der einen imperialistischen Geheimvertrag in der Tasche herumschleppte, spielte eine entscheidende Rolle. In dieser Periode erlebten wir die Juliniederlage, die Kornilowiade, und nur auf Grund der Erfahrungen des. Massenkampfes, erst als die breitesten Massen der Arbeiter und Bauern nicht infolge von Predigten, sondern auf Grund ihrer eigenen Erfahrung die ganze Fruchtlosigkeit der kleinbürgerlichen Kompromisspolitik erkannten – erst damals, nach einer langen politischen Entwicklung, nach einer langen Vorbereitung: und dem Wechsel in der Stimmung und den Ansichten der Parteigruppierungen entstand der Boden für den Oktoberumsturz, und es begann die dritte Periode der russischen Revolution in ihrer ersten Phase, wo sie von der internationalen Revolution isoliert oder zeitweilig getrennt ist.

Diese dritte Periode, die Oktoberperiode, die Periode der Organisation ist die schwerste Periode und gleichzeitig eine Periode der größten und schnellsten Triumphe. Seit dem Oktober marschierte unsere Revolution, die die Macht in die Hände des revolutionären Proletariats legte, dessen Diktatur errichtete, ihm die Unterstützung der gewaltigen Mehrheit des Proletariats und der armen Bauernschaft sicherte, seit dem Oktober marschierte unsere Revolution im Siegeszug, im Triumphzug vorwärts. An allen Ecken und Enden Russlands begann der Bürgerkrieg in der Form des Widerstandes der Ausbeuter, der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, die durch einen Teil der imperialistischen Bourgeoisie unterstützt wurden.

Es begann der Bürgerkrieg, und in diesem Bürgerkrieg erwiesen sich die Kräfte der Feinde der Sowjetmacht, die Kräfte der Feinde der werktätigen und ausgebeuteten Massen als ganz geringfügig. Der Bürgerkrieg war ein einziger Triumph der Sowjetmacht, weil ihre Feinde, die Ausbeuter, die Gutsbesitzer und die Bourgeoisie keine einzige, weder eine politische noch eine wirtschaftliche Stütze hatten. Und ihr Überfall scheiterte. Der Kampf gegen diese Feinde bestand nicht so sehr in militärischen Operationen, als vielmehr in der Agitation. Immer neue Schichten, immer neue Massen, bis zu den werktätigen Kosaken, fielen von den Ausbeutern ab, die sie der Sowjetmacht zu entfremden versucht hatten.

Diese Periode des Siegeszugs, des Triumphzugs der Diktatur des Proletariats und der Sowjetmacht, wo sie die ungeheuren Massen der Werktätigen und Ausgebeuteten in Russland unbedingt, entschieden und für immer auf ihre Seite brachte, bedeutete den letzten und höchsten Punkt in der Entwicklung der russischen Revolution, die in dieser ganzen Zeit gleichsam unabhängig vom internationalen Imperialismus vor sich ging. Das war die Ursache, warum das Land, das am meisten zurückgeblieben und durch die Erfahrung von 1905 am meisten auf die Revolution vorbereitet war, so rasch, so leicht, so planmäßig eine Klasse nach der anderen an die Macht brachte, die einzelnen politischen Kombinationen überwand und schließlich zu einer politischen Kombination gelangte, die das letzte Wort nicht nur der russischen Revolution, sondern auch der westeuropäischen Arbeiterrevolutionen war, denn die Sowjetmacht hat sich in Russland gefestigt und die unerschütterlichen Sympathien der Werktätigen und Ausgebeuteten erobert, weil sie den alten Unterdrückungsapparat der Staatsmacht vernichtete, weil sie in den Grundzügen einen neuen und höheren Staatstypus schuf, dessen Keimform die Pariser Kommune war, die den alten Apparat beseitigte und an seine Stelle die unmittelbare bewaffnete Macht der Massen setzte, die Demokratie der bürgerlichen Parlamente durch die Demokratie der werktätigen Massen ersetzte, unter Ausschluss der Ausbeuter, und planmäßig den Widerstand dieser Ausbeuter unterdrückte.

Das hat die russische Revolution in dieser Periode getan, deshalb ist unter der kleinen Avantgarde der russischen Revolution der Eindruck entstanden, dass dieser Triumphzug, dieser schnelle Marsch der russischen Revolution auf einen weiteren Sieg rechnen kann. Und darin bestand der Fehler, denn die Periode, in der sich die russische Revolution entwickelte, die Macht in Russland von einer Klasse zur anderen überging und die Kompromisspolitik der Klassen in Russland allein überwunden wurde, war historisch nur deshalb möglich, weil die mächtigsten Räuber des Weltimperialismus in ihrer offensiven Bewegung gegen die Sowjetmacht vorübergehend gestört worden waren. Eine Revolution, die im Laufe von einigen Tagen die Monarchie stürzte, im Laufe von einigen Monaten alle Versuche der Kompromisspolitik mit der Bourgeoisie erschöpfte und im Laufe von einigen Wochen im Bürgerkrieg jeden Widerstand der Bourgeoisie besiegte, eine solche Revolution, die Revolution einer sozialistischen Republik, konnte sich unter den imperialistischen Staaten, umgeben von Welträubern, von den Bestien des internationalen Imperialismus, nur behaupten, weil die Bourgeoisie, die untereinander einen Kampf auf Tod und Leben führte, in ihrer Offensive gegen Russland paralysiert war.

Es begann die Periode, die wir so lebendig und so schwer empfinden, die Periode der schwersten Niederlagen, der schwersten Prüfungen für die russische Revolution, die Periode, wo wir anstatt eines raschen, direkten und offenen Angriffs gegen die Feinde der Revolution die schwersten Niederlagen ertragen und vor einer Macht zurückweichen müssen, die unendlich größer ist als unsere – vor der Macht des internationalen Imperialismus und des Finanzkapitals, vor einer militärischen Macht, die die gesamte Bourgeoisie mit ihrer modernen Technik, mit ihrer ganzen Organisation gegen uns zur Plünderung, Unterdrückung und Erdrosselung der kleinen Völker aufgeboten hat. Wir mussten an das Ausbalancieren der Kräfte denken, wurden vor eine unendlich schwierige Aufgabe gestellt, trafen uns im unmittelbaren Kampf nicht mit einem solchen Feind wie Romanow und Kerenski, die man nicht ernst nehmen kann. Wir stießen auf die Kräfte der internationalen Bourgeoisie, auf ihre ganze militärisch-imperialistische Macht, standen von Angesicht zu Angesicht den Welträubern gegenüber. Und es ist begreiflich, dass wir, infolge der Verspätung der Unterstützung durch das internationale sozialistische Proletariat, den Kampf mit diesen Kräften auf uns nehmen und eine schwere Niederlage davontragen mussten.

Und diese Zeit ist eine Zeit schwerer Niederlagen, der Rückzüge, eine Zeit, wo wir wenigstens einen kleinen Teil der Positionen dadurch retten müssen, dass wir uns vor dem Imperialismus zurückziehen und abwarten, bis sich die internationalen Verhältnisse im Allgemeinen ändern, bis die Kräfte des europäischen Proletariats herbeieilen werden, die vorhanden sind, die heranreifen, die nicht so leicht, wie wir, mit ihren Feinden fertig werden konnten; denn es wäre die größte Illusion und der größte Fehler, zu vergessen, dass es leicht war, die russische Revolution anzufangen, und dass es schwer ist, die weiteren Schritte zu tun. Das musste unvermeidlich so kommen, weil wir unter dem verkommensten, rückständigsten politischen Regime den Anfang machen mussten. Die europäische Revolution muss unter einer Bourgeoisie, muss mit einem Feinde den Kampf führen, der unendlich ernster ist, und unter unendlich schwereren Bedingungen. Der europäischen Revolution wird es unendlich schwerer sein, den Anfang zu machen. Wir sehen, dass es ihr unendlich schwerer ist, die erste Bresche in das System zu schlagen, von dem sie unterdrückt wird. Es wird ihr viel leichter fallen, die zweite und dritte Stufe durchzumachen. Und das ist auch bei dem Kräfteverhältnis zwischen den revolutionären und reaktionären Klassen, das wir jetzt auf der internationalen Arena haben, nicht anders möglich. Das ist jener wichtige Wendepunkt, der stets von Leuten außer acht gelassen wird, die die jetzige Lage, die außerordentlich schwere Lage der Revolution nicht vom historischen Standpunkt, sondern vom Standpunkt des Gefühls und der Empörung betrachten. Und dle Erfahrung der Geschichte sagt uns, dass stets, in allen Revolutionen – abgesehen von der Periode, wo die Revolution einen jähen Umschwung und Übergang von schnellen Siegen zu schweren Niederlagen durchmacht – eine Periode der pseudorevolutioinären Phrase eintrat, die stets der Entwicklung der Revolution den größten Schaden zufügte. Und erst dann, Genossen, wenn wir es uns zur Aufgabe machen, den Umschwung zu begreifen, der uns von schnellen, leichten und völligen Siegen zu schweren Niederlagen geführt hat, erst dann werden wir imstande sein, unsere Taktik richtig; einzuschätzen. Diese Frage ist eine außerordentlich schwierige Frage. Sie ist das Ergebnis des Umschwungs in der Entwicklung der Revolution im gegenwärtigen Augenblick: von den leichten Siegen im Inneren zu den außerordentlich schweren Niederlagen an der äußeren Front; sie ist ein Wendepunkt in der gesamten internationalen Revolution: von der Epoche der propagandistisch-agitatorischen Tätigkeit der russischen Revolution, bei abwartender Haltung des Imperialismus, zu den offensiven Aktionen des Imperialismus gegen die Sowjetmacht. Dadurch wird sie für die gesamte internationale, westeuropäische Arbeiterbewegung zu einer besonders schwierigen, akuten Frage. Wenn wir diesen, historischen Augenblick nicht vergessen, dann werden wir untersuchen müssen, wie der Hauptkomplex der Interessen Russlands, in der Frage des jetzigen, überaus schweren, sogenannten Schandfriedens sich gestaltet hat.

Ich habe in der Polemik gegen diejenigen, die die Notwendigkeit der Annahme dieses Friedens bestritten, wiederholt den Hinweis zu hören bekommen, dass der Standpunkt der Unterzeichnung des Friedens angeblich nur die Interessen der ermüdeten, bäuerlichen Massen, der deklassierten Soldaten usw. usw. zum Ausdruck bringe. Und ich habe mich immer bei solchen Berufungen und solchen Hinweisen gewundert, wie die Genossen den Klassenmaßstab der nationalen Entwicklung vergessen können. Das sind Leute, die einfach Erklärungen an den Haaren herbeiziehen. Als ob die Partei des Proletariats, die die Macht ergriff, nicht schon im Voraus damit gerechnet hatte, dass nur das Bündnis des Proletariats und der armen Bauernschaft, d. h. der Mehrheit der Bauernschaft Russlands, dass nur ein solches. Bündnis imstande war, die Macht in Russland der revolutionären. Regierung der Sowjets zu übergeben – der Mehrheit, der wirklichen Mehrheit des Volkes –, dass ohne dieses Bündnis jeder Versuch, die Macht zu ergreifen, besonders bei schwierigen Wendungen der Geschichte, unsinnig ist. Als ob man sich jetzt über diese von uns allen anerkannte Wahrheit hinwegsetzen und mit dem verächtlichen Hinweis auf die Ermüdung der Bauern und der deklassierten Soldaten begnügen kann. Was die Ermüdung der Bauernschaft und der deklassierten Soldaten betrifft, so müssen wir sagen, dass das Land für den Widerstand sein wird, dass die arme Bauernschaft nur so weit imstande ist, sich zum Widerstand zu erheben, als sie fähig ist, ihre Kräfte für den Kampf zu mobilisieren.

Als wir im Oktober die Macht ergriffen, war es klar, dass der Gang der Ereignisse mit Unvermeidlichkeit dazu führt, dass die Schwenkung der Sowjets zum Bolschewismus einen Umschwung im ganzen Lande bedeutet, dass eine Regierung des Bolschewismus unvermeidlich wird. Als wir das erkannten und die Macht im Oktober übernahmen, da sagten wir uns und dem ganzen Volke ganz klar und deutlich: beim Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der armen Bauernschaft weiß das Proletariat, dass es von der Bauernschaft unterstützt wenden wird. Und wo? Das wißt ihr selbst: in seinem aktiven Kampfe für den Frieden, bei seiner Bereitschaft, den Kampf gegen das große Finanzkapital weiter fortzusetzen. Darin irren wir uns nicht. Und niemand, der halbwegs auf dem Boden der Klassenkräfte und Klassenverhältnisse bleibt, ist imstande, sich über die unanfechtbare Wahrheit hinwegzusetzen, dass wir von einem kleinbäuerlichen Lande, das so viel für die europäische und die internationale Revolution getan hat, nicht verlangen können, dass es einen Kampf unter so schweren und schwersten Bedingungen führe, wo die westeuropäischen Genossen, das westeuropäische Proletariat zweifelsohne uns zu Hilfe eilen werden – das ist durch Tatsachen, durch Streiks usw. bewiesen –, wo aber diese Hilfe, die wir zweifelsohne erhalten werden, verspätet hat. Deshalb sage ich, dass eine solche Berufung auf die Müdigkeit der Bauernmassen usw. einfach die Folge des Fehlens von Argumenten ist, die Folge der völligen Hilflosigkeit derjenigen, die zu solchen Argumenten greifen, die Folge ihrer völligen Unfähigkeit, alle Klassenverhältnisse in ihrer Gesamtheit, in ihrem Gesamtmaßstab, die Revolution des Proletariats und der Bauernschaft in ihrer Masse zu erfassen. Nur wenn wir bei jeder scharfen Wendung der Geschichte das Verhältnis der Klassen in ihrer Gesamtheit, aller Klassen, einschätzen, und nicht einzelne Beispiele und einzelne Fälle herausgreifen, nur dann haben wir das Gefühl, dass wir fest auf der Analyse der wirklichen Tatsachen fußen. Ich verstehe durchaus, warum die russische Bourgeoisie ums jetzt zum revolutionären Kampf drängt, wo er für uns ganz unmöglich ist. Das erfordern die Klasseninteressen der Bourgeoisie.

Wenn sie nur vom „Schandfrieden" schreien und kein Wort darüber verlieren, wer die Armee bis zu diesem Zustand gebracht hat, so verstehe ich durchaus, warum die Bourgeoisie mit den Leuten von der „Djelo Naroda", den Menschewiki, den Zereteli, Tschernow und ihren Nachbetern das tut. Ich verstehe durchaus, warum diese Bourgeoisie nach einem revolutionären Krieg schreit. Das erfordern ihre Klasseninteressen, ihre Bestrebungen, die Sowjetmacht zu einem falschen Schritt zu veranlassen. Das ist verständlich bei Leuten, die einerseits die Spalten der Zeitungen mit ihrem konterrevolutionären Geschreibsel füllen … (Zwischenrufe: sind ja alle verboten worden.) Leider noch nicht alle, aber wir werden sie alle verbieten. Ich möchte das Proletariat sehen, das den Konterrevolutionären, den Anhängern der Bourgeoisie und denen, die eine Politik der Verständigung mit ihr treiben, erlauben wird, das Monopol der Reichtümer zur Verdummung des Volkes mit ihrem bürgerlichen Opium weiter auszunutzen. Ein solches Proletariat hat es nicht gegeben.

Ich begreife durchaus, dass in den Spalten dieser Organe gegen den Schandfrieden nur so geschrien und gewettert wird, ich verstehe durchaus, dass für diesen revolutionären Krieg Leute eintreten, die gleichzeitig – von den Kadetten bis zu den rechten Sozialrevolutionären – die Deutschen bei ihrem Einmarsch begrüßen und begeistert ausrufen: „Die Deutschen sind da", und ihre Offiziere mit Achselklappen in den Orten herumlaufen lassen, die von den deutschen Imperialisten bei ihrem Überfall besetzt worden sind. Ja, von diesen Bourgeois, diesen Kompromisslern, wundert es mich keineswegs, wenn sie den revolutionären Krieg predigen. Sie wollen, dass die Sowjetmacht in die Falle gehe. Sie haben sich entlarvt, diese Bourgeois und diese Kompromissler. Wir haben sie gesehen und werden sie noch leibhaftig vor uns sehen. Wir wissen, dass die Herren Winnitschenko die ukrainischen Kerenskis, Tschernows und Zeretelis sind. Diese Herren, diese ukrainischen Kerenskis, Tschernows, Zeretelis, haben dem Volke den Frieden, den sie mit den deutschen Imperialisten geschlossen haben, verheimlicht und versuchen jetzt mit Hilfe der deutschen Bajonette, die Sowjetmacht in der Ukraine zu stürzen. Das haben diese Bourgeois, diese Kompromissler und ihre Gesinnungsgenossen getan. Das haben diese ukrainischen Bourgeois und Kompromissler getan, deren Beispiel wir handgreiflich vor uns haben, die ihre Geheimverträge vor dem Volke verheimlichen und mit den deutschen Bajonetten gegen die Sowjetmacht marschieren. Das will die russische Bourgeoisie, dahin treiben – bewusst oder unbewusst – die Nachbeter der Bourgeoisie die Sowjetmacht. Sie wissen, dass die Sowjetmacht jetzt absolut nicht imstande ist, einen Krieg gegen ein mächtiges imperialistisches Land zu führen. Deshalb werden wir nur in diesem internationalen Zusammenhang, nur in diesem allgemeinen Klassenzusammenhang die ganze Größe des Fehlers derjenigen verstehen, die, wie die Partei der linken Sozialrevolutionäre, sich durch eine Theorie hinreißen ließen, die in der Geschichte aller Revolutionen, in schweren Augenblicken, auftaucht Und halb aus Verzweiflung, halb aus Phrasen; besteht, wo man, anstatt der Wirklichkeit nüchtern ins Auge zu schauen und die Aufgaben der Revolution gegenüber den inneren und äußeren Feinden vom Standpunkt der Klassenkräfte einzuschätzen, dazu aufgefordert wird, die ernsteste und schwierigste Frage unter dem Druck des Gefühls, nur vom Standpunkt des Gefühls, zu entscheiden. Wenn man glaubt, dass man durch das Schimpfen auf diesen Frieden, durch den Nachweis, dass er ein Schandfrieden, ein schmählicher, schwerer Frieden ist – kein Zweifel, wenn man glaubt, dass man durch den Nachweis der ganzen Schwere dieser Niederlage, die wir nie verheimlicht haben, denn wir haben den Friedensvertrag vollständig veröffentlicht …2 Ich habe selbst wiederholt in der Presse, in meinen Erklärungen, in Reden diesen Frieden als einen Tilsiter Frieden bezeichnet, den der Eroberer Napoleon dem russischen und dem deutschen Volke nach einer Reihe schwerer Niederlagen aufgezwungen hatte. Ja, dieser Friede ist eine schwere Niederlage und demütigend für die Sowjetmacht, aber wenn ihr davon ausgeht, euch darauf beschränkt und an das Gefühl appelliert, den Unwillen schürt und so die größte historische Frage entscheiden wollt, so geratet ihr in jene lächerliche und klägliche Lage, in der sich einmal die gesamte Partei der Sozialrevolutionäre befunden hat, als sie im Jahre 1907 in einer in gewisser Hinsicht ähnlichen Situation in gleicher Weise an das Gefühl des Revolutionärs appellierte, als Stolypin nach der schweren Niederlage der Revolution in den Jahren 1906 und 1907 uns die Gesetze über die Dritte Duma – diese schändlichsten und schwersten Arbeitsbedingungen in einer der schändlichsten Repräsentativkörperschaften, diktierte, als unsere Partei nach geringen Schwankungen im Innern (Schwankungen in dieser Frage gab es damals mehr als jetzt) die Frage in dem Sinne entschied, dass wir kein Recht haben, uns dem Gefühl hinzugeben, dass wir, wie groß auch unsere Empörung und unser Unwille gegen die schändliche Dritte Duma sein mag, zugeben müssen, dass hier kein Zufall, sondern eine historische Notwendigkeit der Entwicklung des Klassenkampfes vorliegt, dessen Kräfte nicht ausreichten, der aber sogar unter diesen schändlichen Bedingungen, die uns diktiert wurden, seine Kräfte sammeln wird. Wir haben recht behalten. Diejenigen, die sich von der revolutionären Phrase, von dem Gefühl der Gerechtigkeit hinreißen ließen, das ein dreifach berechtigtes Gefühl war, erhielten eine Lehre, die kein einziger denkender Revolutionär vergessen wird.

Revolutionen gehen nicht so glatt vor sich, dass sie uns einen raschen und leichten Aufschwung sichern könnten. Es hat keine einzige große Revolution gegeben, sogar im nationalen Rahmen, die nicht eine schwere Periode der Niederlagen durchgemacht hätte, und man darf sich zu der ernsten Frage der Massenbewegung, der in der Entwicklung befindlichen Revolutionen nicht so verhalten, dass man einen Frieden als schändlichen, erniedrigenden Frieden bezeichnet und erklärt, dass ein Revolutionär mit ihm nicht einverstanden sein könne. Es genügt nicht, Agitationsphrasen anzuführen, uns mit Schmähungen wegen dieses Friedens zu überhäufen. Das ist das unumstößliche ABC der Revolution, das lehrt die unbestreitbare Erfahrung aller Revolutionen. Man denke an unsere Erfahrung von 1905. Wenn wir irgendwie reich sind, wenn aus irgendeinem Grunde der russischen Arbeiterklasse und der armen Bauernschaft die schwierige und ehrenvolle Rolle zugefallen ist, die internationale sozialistische Revolution zu beginnen, so gerade deshalb, weil es dem russischen Volke dank einer besonderen Gestaltung der historischen Verhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang, zwei große Revolutionen durchzuführen. Gerade deshalb müssen wir aus der Erfahrung dieser Revolutionen lernen, müssen verstehen, dass wir nur bei Berücksichtigung der Änderung des Verhältnisses der Klassenzusammenhänge des einem Staates mit dem anderen wirklich feststellen können, dass wir nicht imstande sind, jetzt einen Kampf aufzunehmen. Das müssen wir berücksichtigen. Wir müssen uns sagen: was für eine Atempause das auch sein mag, wie unsicher, wie kurz, wie schwer und erniedrigend dieser Friede auch sein mag, er ist besser als ein Krieg; denn er wird dem Volksmassen die Möglichkeit geben, sich etwas zu erholen, denn er wird die Möglichkeit geben, das wieder gutzumachen, was die Bourgeoisie getan hat, die jetzt überall schreit, wo sie nur kann, besonders unter dem Schutz der Deutschen in den besetzten Gebieten.

Die Bourgeoisie schreit, dass die Bolschewiki die Armee zersetzt hätten, dass keine Armee vorhanden sei und dass die Bolschewiki schuld daran seien. Aber werfen wir einen Blick in die Vergangenheit, Genossen, betrachten wir vor allem die Entwicklung unserer Revolution. Wisst ihr denn nicht, dass die Desertion und die Zersetzung in unserer Armee lange vor der Revolution begonnen hat, noch im Jahre 1916, dass jeder, der die Armee gesehen hatte, das zugeben musste? Und was hat unsere Bourgeoisie getan, um das zu verhindern? Ist es nicht klar, dass die einzige Chance zur Rettung vor den Imperialisten damals in ihren Händen war, dass diese Chance im März-April vorhanden war, als die Räteorganisationen mit einer einfachen Handbewegung gegen die Bourgeoisie die Macht ergreifen konnten. Und wenn die Räte damals die Macht ergriffen hätten, wenn die bürgerliche und die kleinbürgerliche Intelligenz mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki, anstatt Kerenski zu helfen, das Volk zu betrügen, die Geheimverträge zu verstecken und die Armee zur Offensive zu treiben, damals der Armee zu Hilfe gekommen wäre, sie mit Waffen und Lebensmitteln versorgt und die Bourgeoisie gezwungen hätte, dem Vaterland zu helfen, unter Mitwirkung der gesamten Intelligenz, nicht dem Vaterland der Krämer, nicht dem Vaterland der Verträge, die helfen, das Volk auszurotten; wenn die Räte die Bourgeoisie gezwungen hätten„ dem Vaterland der Werktätigen, der Arbeiter, zu helfen, wenn sie der hungrigen Armee, die ohne Kleidung und Schuhe war, geholfen hätten, – dann hätten wir vielleicht eine Periode von zehn Monaten bekommen, die genügt hätte, damit die Armee sich erhole, damit man sie einmütig unterstütze, damit sie, keinen Schritt von der Front zurückweichend, einen allgemeinen, demokratischen Frieden anbiete und die Geheimverträge zerreiße, aber sich an der Front halte und keinen Schritt zurückweiche.. Das waren die Chancen für den Frieden, die die Arbeiter und Bauern ermöglicht und gebilligt hätten. Das wäre eine Taktik der Verteidigung des Vaterlandes gewesen, nicht des Vaterlandes der Romanow, Kerenski, Tschernow, des Vaterlandes der Geheimverträge, der käuflichen Bourgeoisie, sondern des Vaterlandes der werktätigen Massen. Hier sehen wir, wer darauf hingearbeitet hat, dass der Übergang vom Krieg zur Revolution und von der russischen Revolution zum internationalen Sozialismus unter so schweren Prüfungen vor sich geht. Deshalb klingt ein Vorschlag wie der revolutionäre Krieg wie eine leere Phrase, weil wir wissen, dass wir keine Armee haben, dass es unmöglich war, die Armee zusammenzuhalten, und Leute, die die Dinge kannten, mussten zugeben, dass unser Befehl über die Demobilisierung nicht von uns ausgeheckt wurde, sondern das Ergebnis einer augenscheinlichen Notwendigkeit, der einfachen Unmöglichkeit war, die Armee zusammenzuhalten. Es war unmöglich, die Armee zusammenzuhalten. Und recht hatte ein Offizier, kein Bolschewik, der noch vor dem Oktoberumsturz erklärte, dass die Armee nicht kämpfen könne und nicht kämpfen werde.3 Das war das Resultat des monatelangen Verhandelns mit der Bourgeoisie und aller Reden von der Notwendigkeit der Fortsetzung des Krieges. Von welchen edlen Gefühlen dabei auch die vielen oder wenigen Revolutionäre geleitet wurden, diese Reden haben sich als leere revolutionäre Phrasen erwiesen, die uns dem internationalen Imperialismus ausliefern, damit er noch einmal so viel und noch mehr zusammenraube als nach unserem taktischen und diplomatischen Fehler, nach der Weigerung, den Brest-Litowsker Frieden zu unterzeichnen. Als wir den Gegnern der Unterzeichnung des Friedens sagten: wenn die Atempause halbwegs von Dauer wäre, so würdet ihr begreifen, dass die Interessen der Gesundung der Armee, die Interessen der werktätigen Massen höher stehen, als alles, und dass deswegen der Frieden geschlossen werden muss, – da behaupteten sie, dass eine Atempause nicht möglich sei.

Unsere Revolution unterschied sich aber von allen früheren Revolutionen gerade dadurch, dass sie unter den Massen den Drang zur Aufbauarbeit und zur schöpferischen Tätigkeit weckte, wo die werktätigen Massen in den entlegensten Dörfern, die durch Zaren, Gutsbesitzer, Bourgeoisie gedemütigt, getreten, unterdrückt wurden, sich erheben. Und diese Periode der Revolution geht erst jetzt zu Ende, wo die Revolution im Dorfe sich vollzieht, die das Leben auf neuen Grundlagen aufbaut. Und um dieser Atempause willen, wie kurz, wie klein sie auch sein mag, sind wir verpflichtet, wenn wir die Interessen der werktätigen Massen, höher stellen als die Interessen der bürgerlichen Kriegshetzer, die mit dem Säbel rasseln und uns zum Kampf rufen, sind wir verpflichtet, diesen Vertrag zu unterzeichnen. Das lehrt uns die Revolution. Die Revolution lehrt uns: wenn wir diplomatische Fehler begehen, wenn wir glauben, dass die deutschen Arbeiter uns morgen zu Hilfe kommen werden, wenn wir hoffen, dass Liebknecht jetzt gleich siegen werde (wir aber wissen, dass Liebknecht so oder anders siegen wird, das ist in der Entwicklung der Arbeiterbewegung unvermeidlich), so bedeutet das, dass man sich vom Gefühl hinreißen lässt und die revolutionären Losungen der sozialistischen Bewegung, die sich unter Schwierigkeiten entwickelt, zur Phrase macht. Und kein einziger Vertreter der Werktätigen, kein einziger ehrlicher Arbeiter wird es ablehnen, die größten Opfer zur Unterstützung der sozialistischen Bewegung in Deutschland zu bringen, denn in dieser ganzen Zeit, an der Front, hat er unterscheiden gelernt zwischen den deutschen Imperialisten und den von der deutschen Disziplin gepeinigten Soldaten, die zum größten Teil mit uns sympathisieren. Deshalb sage ich, dass die Praxis der russischen Revolution unseren Fehler korrigiert hat, ihn durch diese Atempause korrigiert hat. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie von sehr kurzer Dauer sein aber wir haben wenigstens eine ganz kurze Atempause bekommen, damit die Armee, die erschöpft und ausgehungert ist, erkenne, dass sie die Möglichkeit bekommen habe, sich zu erholen. Nur uns ist es klar, dass die Periode der imperialistischen Kriege nicht zu Ende ist und dass neue Schrecken des Ausbruchs neuer Kriege drohen; aber Perioden solcher Kriege hat es in vielen geschichtlichen Epochen gegeben, und ihre schärfste Form haben sie vor ihrer Beendigung angenommen. Es ist notwendig, dass man das nicht nur auf den Meetings in Petrograd und Moskau begreife; es ist notwendig, dass viele Dutzende Millionen auf dem Lande das begreifen, damit nach seiner Rückkehr von der Front der am meisten aufgeklärte Teil des Dorfes, der alle Schrecken des Krieges durchgemacht hat, helfe, das klarzumachen, damit die gewaltige Masse der Bauern und Arbeiter sich von der Notwendigkeit der revolutionären Front überzeuge und sage, dass wir richtig gehandelt haben.

Man sagt, wir hätten die Ukraine und Finnland verraten. Welch eine Schmach! Aber die Dinge gestalteten sich so, dass wir von Finnland abgeschnitten wurden, mit dem wir früher, vor der Revolution, einen stillschweigenden und jetzt einen formellen Vertrag geschlossen haben. Man sagt, dass wir die Ukraine preisgeben, die die Tschernow, Kerenski und Zereteli zugrunde richten wollen. Man sagt uns: ihr Verräter, ihr habt die Ukraine verraten! Da muss ich sagen, Genossen, ich habe zu viel gesehen in der Geschichte der Revolutionen, um mich durch feindliche Blicke, durch Geschrei von Leuten irre machen zu lassen, die sich vom Gefühl treiben lassen und sich kein Urteil bilden können. Ich will euch ein einfaches Beispiel anführen. Stellt euch vor, dass zwei Freunde nachts reisen und plötzlich von zehn Leuten angefallen werden, Wenn diese Schufte einen vom beiden abschneiden, was bleibt dann dem anderen übrig? Er kann nicht zu Hilfe eilen. Wenn er die Flucht ergreift, ist er dann ein Verräter? Stellt euch vor, dass es sich nicht um Personen oder Angelegenheiten handelt, bei denen das unmittelbare Gefühl eine Rolle spielt, sondern dass fünf Armeen zu je Hunderttausend Mann eine Armee von 200.000 Mann einkreisen. Eine andere Armee aber soll der eingekreisten Armee zu Hilfe eilen. Wenn diese Armee jedoch weiß, dass sie bestimmt in eine Falle gerät, so muss sie sich zurückziehen. Sie muss sich zurückziehen, wenn auch zur Durchführung dieses Rückzuges die Unterzeichnung eines schändlichen, gemeinen Friedens notwendig sein sollte. Man kann noch so sehr darüber schimpfen, aber unterschreiben muss man doch. Man darf sich nicht von dem Gefühl des Duellanten leiten lassen, der den Säbel zieht und ausruft: ich muss sterben, weil man mich zwingt, einen erniedrigenden Frieden zu unterzeichnen. Wir alle wissen doch – welche Beschlüsse man auch fassen mag –, dass wir keine Armee haben und dass keinerlei Gesten uns von der Notwendigkeit befreien werden, uns zurückzuziehen und Zeit zu gewinnen, damit die Armee sich erholen könne. Damit wird sich jeder einverstanden erklären, der der Wirklichkeit ins Auge sieht und sich nicht selbst mit revolutionären Phrasen betrügt.

Wenn wir das wissen, so ist es unsere revolutionäre Pflicht, auch einen schweren, furchtbar schweren Gewaltfrieden zu unterzeichnen, denn wir werden dadurch eine bessere Lage sowohl für uns als auch für unsere Bundesgenossen erzielen. Haben wir etwas verloren, weil wir am 3. März den Friedensvertrag unterzeichnet haben? Jeder, der vom Standpunkt der Massenerscheinungen, und nicht vom Standpunkt des „Ritters", des Duellanten, die Dinge betrachtet, wird verstehen: wenn man ohne Armee, bzw. mit einem kranken Überrest einer Armee einen Krieg aufnimmt und diesen Krieg als revolutionären Krieg bezeichnet, so ist das ein Selbstbetrug, ein schwerer Betrug am Volke. Es ist unsere Pflicht, dem Volke die Wahrheit zu sagen: ja, der Frieden ist sehr schwer, die Ukraine und Finnland sind verloren, aber wir müssen diesen Frieden annehmen, und das ganze zielbewusste werktätige Russland wird ihn annehmen, weil es die ungeschminkte Wahrheit kennt, weil es weiß, was der Krieg bedeutet, weil es weiß, dass es ein Selbstbetrug ist, wenn man alles auf eine Karte setzt, in der Hoffnung, dass die deutsche Revolution sofort ausbrechen werde. Durch die Unterzeichnung des Friedens haben wir das bekommen, was unsere finnländischen Freunde von uns erhalten haben – eine Atempause, Unterstützung und keinen Untergang.

Ich kenne Beispiele in der Geschichte der Völker, wo viel schlimmere Gewaltfrieden unterzeichnet wurden, wo durch einen solchen Frieden lebensfähige Völker der Gnade des Siegers ausgeliefert wurden. Vergleichen wir diesen unseren Frieden mit dem Frieden von Tilsit. Der Frieden von Tilsit wurde von dem siegreichen Eroberer Preußen und Deutschland aufgezwungen. Dieser Friede war so schwer, dass nicht nur alle Hauptstädte aller deutschen Staaten besetzt und die Preußen bis Tilsit zurückgeworfen wurden, was dasselbe bedeutete, als wenn man uns bis Omsk oder Tomsk zurückgeworfen hätte. Nicht genug damit. Das Schlimmste war, dass Napoleon die besiegten Völker zwang, Hilfstruppen für seine Kriege zu stellen. Und als nichtsdestoweniger die Situation sich so gestaltete, dass die deutschen Völker den Ansturm des Eroberers ertragen mussten, als die Epoche der revolutionären Kriege Frankreichs von der Epoche der imperialistischen Eroberungskriege abgelöst wurde, da offenbarte sich das, was die von der Phrase hingerissenen Leute nicht begreifen wollen, die die Unterzeichnung des Friedens als den Untergang hinstellen. Vom Standpunkt des adligen Duellanten ist diese Psychologie begreiflich, aber nicht vom Standpunkt des Arbeiters und Bauern. Dieser hat die schwere Schule des Krieges durchgemacht und rechnen gelernt. Es hat noch schwerere Prüfungen gegeben, und rückständigere Völker haben sie überwunden. Es ist vorgekommen, dass ein noch schwererer Friede geschlossen wurde, z. B. der Friede, den die Deutschen in einer Zeit schlossen, wo sie keine Armee hatten oder ihre Armee krank war, so wie unsere Armee. Sie schlossen einen überaus, schweren Frieden mit Napoleon. Und dieser Friede war nicht der Untergang Deutschlands, im Gegenteil, er wurde zu einem Wendepunkt der nationalen Verteidigung, er führte zu einem Aufschwung. Auch wir stehen am Vorabend eines solchen Wendepunktes, auch wir erleben ähnliche Verhältnisse. Man muss der Wahrheit ins Antlitz schauen und Phrase und Deklamation von sich weisen. Man muss sagen: wenn es notwendig, ist, so muss der Frieden geschlossen werden. Der Befreiungskrieg, der Klassenkrieg, der Volkskrieg wird den napoleonischen. Krieg ablösen. Das System der napoleonischen Kriege wird sich, ändern, der Friede wird den Krieg, der Krieg den Frieden ablösen. Jeder neue schwere Frieden hat stets eine breitere Vorbereitung zum Krieg zur Folge gehabt. Der schwerste der Friedensverträge – der Friedensvertrag von Tilsit – ist in die Geschichte als Wendepunkt eingegangen, wo im deutschen Volke ein Umschwung einsetzte, wo es sich bis Tilsit, bis Russland zurückzog, in Wirklichkeit aber Zeit gewann, abwartete, bis die internationale Lage, die eine Zeitlang Napoleon, einem ebensolchen Räuber wie jetzt die Hohenzollern und Hindenburg, die Möglichkeit gab, zu triumphieren, bis diese Lage sich änderte, bis das Bewusstsein des durch die Jahrzehnte der napoleonischen Kriege und der Niederlagen erschöpften deutschen Volkes gesundete und es wiederum zu neuem Leben erstand. Das lehrt uns die Geschichte, deshalb ist jede Verzweiflung und Phrase ein Verbrechen, deshalb wird jeder sagen: ja, die alten imperialistischen Kriege gehen zu Ende. Der geschichtliche Umschwung hat begonnen.

Seit dem Oktober war unsere Revolution ein einziger Triumphzug, jetzt aber hat eine lange und schwere Zeit begonnen. Wir wissen nicht, wie lange sie dauern wird, aber wir wissen, dass das eine lange und schwere Periode der Niederlagen und Rückzüge ist, weil ein solches Kräfteverhältnis besteht, weil wir durch dem Rückzug dem Volke die Möglichkeit geben, sich zu erholen. Wir werden dafür sorgen, dass jeder Arbeiter und Bauer die Wahrheit begreife, dass neue Kriege der imperialistischen Räuber gegen die unterdrückten Völker beginnen werden, wo der Arbeiter und Bauer verstehen wird, dass wir das Vaterland verteidigen müssen, denn wir sind seit dem Oktober Vaterlandsverteidiger geworden. Seit dem 7. November (25. Oktober) haben wir offen erklärt, dass wir für die Verteidigung des Vaterlandes sind: denn dieses Vaterland, aus dem wir die Kerenski und Tschernow hinaus gejagt haben, ist unser; denn wir haben die Geheimverträge vernichtet, haben die Bourgeoisie unterdrückt, zunächst noch schlecht, aber wir werden es lernen, das besser zu machen.

Genossen! Es besteht ein noch wichtigerer Unterschied zwischen dem Zustand des russischen Volkes, dem die deutschen Eroberer die schwersten Niederlagen beigebracht haben, und dem deutschen Volke. Es besteht da ein gewaltiger Unterschied, über den ich sprechen muss, obwohl ich in dem vorhergehenden Teil meiner Rede kurz darauf eingegangen bin. Genossen, als das deutsche Volk vor über hundert Jahren in eine Periode schwerster Eroberungskriege hineingeriet, in eine Periode, wo es sich zurückziehen und einen Schandfrieden nach dem anderen unterzeichnen musste, bevor es erwachte – da war es nur ein schwaches und rückständiges Volk. Es stand nicht nur der militärischen Macht, nicht nur dem Eroberer Napoleon gegenüber, es stand einem Lande gegenüber, das in revolutionärer und politischer Beziehung höher stand als Deutschland, das in allen Beziehungen höher stand, das .sich weit über alle anderen Länder erhoben hatte, das das letzte Wort gesagt hatte. Es stand unendlich höher als das Volk, das in der Unterwürfigkeit bei den Imperialisten und Gutsbesitzern aufgewachsen war. Dieses Volk, das, wie ich nochmals wiederhole, nur ein schwaches und rückständiges Volk war, verstand es, aus den bitteren Lehren zu lernen und sich zu erheben. Wir sind in einer besseren Lage: wir sind nicht nur ein schwaches und nicht nur ein rückständiges Volk, wir sind ein Volk, das es verstanden hat – nicht infolge besonderer Verdienste oder historischer Vorbestimmung, sondern infolge einer besonderen Gestaltung der historischen Verhältnisse – die ehrenvolle Aufgabe zu übernehmen, das Banner der internationalen sozialistischen Revolution zu entfalten.

Ich weiß sehr gut, Genossen, und ich habe wiederholt offen ausgesprochen, dass dieses Banner sich in schwachen Händen befindet und dass die Arbeiter des rückständigsten Landes es nicht behaupten werden, wenn ihm nicht die Arbeiter aller fortgeschrittenen Länder zu Hilfe eilen werden. Die sozialistischen Neuerungen, die wir vorgenommen haben, sind in vieler Hinsicht unvollkommen, schwach und unzulänglich. Sie werden den westeuropäischen fortgeschrittenen Arbeitern ein Hinweis sein, die sich sagen werden: „Die Russen haben die Sache nicht so angefangen, wie es notwendig gewesen wäre", aber wichtig ist, dass unser Volk im Vergleich mit dem deutschen Volk nicht nur ein schwaches und rückständiges Volk ist, sondern ein Volk, das das Banner der Revolution erhoben hat. Wenn die Bourgeoisie jedes beliebigen Landes alle Spalten ihrer Zeitungen mit Verleumdungen gegen die Bolschewiki füllt, wenn in dieser Hinsicht die Pressestimmen der Imperialisten Frankreichs, Englands, Deutschlands usw. sich zu einem Chor vereinigen und die Bolschewiki schmähen, so gibt es doch kein einziges Land, in dem man eine Versammlung der Arbeiter einberufen könnte, in der die Namen und die Losungen unserer sozialistischen Macht, Stürme des Unwillens hervorrufen würden. (Zwischenruf:, Lüge !) Nein, das ist keine Lüge, sondern die Wahrheit, und jeder, der in den letzten Monaten in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz und in Amerika war, wird euch sagen, dass das keine Lüge, sondern die Wahrheit ist, dass die Namen und Losungen der Vertreter der Sowjetmacht Russlands mit größter Begeisterung von den Arbeitern begrüßt werden, dass trotz aller Lügen der Bourgeoisie Deutschlands, Frankreichs usw. die Arbeitermassen begriffen haben, dass hier in Russland, wie schwach, wir auch sein mögen, ihre Sache getan wird. Ja, unser Volk muss eine überaus schwere Last ertragen, die es sich aufgeladen hat, aber ein Volk, das imstande war, die Sowjetmacht zu schaffen, kann nicht untergehen. Und ich wiederhole: kein einziger zielklarer Sozialist, kein einziger Arbeiter, der über die Geschichte der Revolution nachgedacht hat, kann bestreiten, dass trotz aller Mängel – die ich nur zu gut kenne und ausgezeichnet verstehe – die Sowjetmacht der höchste Staatstypus, die direkte Fortsetzung der Pariser Kommune ist. Sie hat sich eine Stufe über die übrigen europäischen Revolutionen erhoben, und deshalb befinden wir uns nicht in so schweren Verhältnissen, wie das deutsche Volk vor 100 Jahren. Die Änderung des Kräfteverhältnisses zwischen den Räubern, die Ausnutzung des Konfliktes und die Befriedigung der Forderungen des Räubers Napoleon, des Räubers Alexander I, der Räuber der englischen Monarchie – das war die einzige Chance, die damals den durch die Leibeigenschaft Unterdrückten übrig blieb. Und nichtsdestoweniger ist das deutsche Volk an den Folgen dieses Friedens von Tilsit nicht zugrunde gegangen. Wir aber, wiederhole ich, befinden uns in besseren Verhältnissen, weil wir einen mächtigen Verbündeten in allen westeuropäischen Staaten haben – das internationale sozialistische Proletariat, das mit uns ist, was auch unsere Feinde sagen mögen. Ja, diesem Verbündeten fällt es nicht leicht, seine Stimme zu erheben, so wie uns das bis Ende Februar 1917 nicht leicht war. Dieser Verbündete lebt in der Illegalität, unter Verhältnissen eines Militärzuchthauses, in das sich alle imperialistischen Länder verwandelt haben, aber er kennt uns und versteht unsere Sache. Es ist ihm schwer, uns zu Hilfe zu eilen, deshalb brauchen die Sowjettruppen viel Zeit, viel Geduld und müssen viele schwere Prüfungen auf sich nehmen, um diesen Moment abzuwarten. Wir werden die geringsten Chancen wahrnehmen, um Zeit zu gewinnen, denn die Zeit arbeitet für uns. Unsere Sache erstarkt, die Kräfte der Imperialisten werden schwächer, und wie schwer auch die Prüfungen und Niederlagen infolge des „Tilsiter" Friedens sein mögen, wir schlagen die Taktik des Rückzuges ein, und. ich wiederhole nochmals: es besteht kein Zweifel, dass sowohl das klassenbewusste Proletariat als auch die aufgeklärten Bauern für uns sind. Und wir werden nicht nur heldenhaft anzugreifen, sondern uns auch heldenhaft zurückzuziehen verstehen, werden abwarten, bis das internationale sozialistische Proletariat uns zu Hilfe eilt und werden die zweite sozialistische Revolution bereits im Weltmaßstabe beginnen.

1 In einigen Zeitungen wird als Datum der 11. Februar angegeben. Es ist anzunehmen, dass Lenin gerade den 11. Februar als den Beginn einer neuen Periode in der Entwicklung der Revolution ansah. Im Lenin-Institut sind zwei Dokumente vorhanden, die die Rede auf dem IV. Außerordentlichen Allrussischen Rätekongress betreffen. Das erste dieser Dokumente ist offenbar ein Entwurf des Plans einer Rede auf dem IV. Rätekongress oder in der Fraktion des Rätekongresses. Der Punkt 1 ist wie folgt formuliert: „1. Umschwung: 25. X. 1917 – 17. II. 1917". In dem zweiten Dokument, das die Überschrift trägt „Plan der Rede auf dem Rätekongress" wird der zweite und dritte Punkt folgendermaßen formuliert: „2. Selbständigkeit" der russischen Revolution 23. II. –11. II. (18). 3. „Triumphzug": 25. X. (17) – 11 II. (18). Diese Bemerkungen deuten darauf hin, dass Lenin nicht den 17. Februar, wo die Deutschen die Offensive aufnahmen, sondern den 11. Februar, wo nach dem Abbruch der Verhandlungen die Deutschen die Offensive vorzubereiten begannen, als Beginn einer neuen Periode in der Entwicklung der russischen Revolution ansah.

2 Unbeendeter Satz. Die Red.

3 Lenin meint die Äußerung des Offiziers Dubassow in der Sitzung des Petrograder Sowjets vom 5. Oktober (22. September) 1917 bei der Diskussion des Berichts über die Demokratische Konferenz. Dubassow, der soeben von der Front zurückgekommen war, erklärte in seiner Rede, dass die Soldaten jetzt weder Freiheit noch Land fordern. Sie wollen nur eins: mit dem Krieg Schluss machen. Was man auch hier reden möge, die Soldaten werden nicht weiter Krieg führen.

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