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Wladimir I. Lenin 19181223 Über „Demokratie" und Diktatur

Wladimir I. Lenin: Über „Demokratie" und Diktatur1

[Geschrieben am 23. Dezember 1918. Veröffentlicht am 3. Januar 1919 in der „Prawda" Nr. 2. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 573-578]

Die wenigen Nummern der Berliner „Roten Fahne" und das Wiener „Weckruf", des Organs der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, die nach Moskau gelangt sind, zeigen uns, dass die Verräter des Sozialismus, die den Krieg der imperialistischen Räuber unterstützt haben, alle diese Scheidemann und Ebert, Austerlitz und Renner bei den wahren Vertretern der revolutionären Proletarier Deutschlands und Österreichs auf die gebührende Abfuhr stoßen. Wir begrüßen aufs Wärmste diese beiden Organe, die von der Lebenskraft und dem Wachstum der III. Internationale zeugen.

Allem Anschein nach ist heute sowohl in Deutschland als auch in Österreich die Hauptfrage der Revolution die Frage: Konstituierende Versammlung oder Sowjetmacht? Die Vertreter der bankrotten II. Internationale, sie alle, von Scheidemann bis Kautsky, treten für die Konstituante ein und nennen ihren Standpunkt Verteidigung der „Demokratie" (Kautsky hat sich sogar bis zur „reinen Demokratie" verstiegen) im, Gegensatz zur Diktatur. Die Anschauungen Kautskys habe ich in meinem in Moskau und Petrograd soeben erschienenen Buch „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky" eingehend analysiert. Ich will versuchen, in Kürze das Wesen der Streitfrage darzulegen, die jetzt für sämtliche fortgeschrittenen kapitalistischen Länder praktisch auf die Tagesordnung gesetzt ist.

Die Scheidemann und Kautsky sprechen von „reiner Demokratie" oder von „Demokratie" schlechthin, um die Massen zu betrügen und ihnen den bürgerlichen Charakter der modernen Demokratie zu verhehlen. Mag die Bourgeoisie den ganzen Apparat der Staatsmacht auch weiterhin in der Hand behalten, mag eine Handvoll Ausbeuter fortfahren, die bisherige, bürgerliche Staatsmaschine für sich auszunutzen! Unter solchen Bedingungen durchgeführte Wahlen liebt die Bourgeoisie begreiflicherweise „freie", „gleiche", „demokratische", „allgemeine" „Volks"wahlen zu nennen, denn diese Worte dienen dazu, die Wahrheit zu verhehlen, zu verheimlichen, dass das Eigentum an den Produktionsmitteln und die politische Macht den Ausbeutern verbleiben, dass deshalb von einer wirklichen Freiheit, von einer wirklichen Gleichheit für die Ausgebeuteten, d. h. für die ungeheure Mehrheit der Bevölkerung, gar keine Rede sein kann. Für die Bourgeoisie ist es vorteilhaft und notwendig, dem Volk den bürgerlichen Charakter der modernen Demokratie zu verheimlichen, diese als Demokratie schlechthin oder als „reine Demokratie" hinzustellen, und die Scheidemann, ebenso wie die Kautsky, die das Wiederholen, geben dadurch in der Tat den Standpunkt des Proletariats auf und gehen auf die Seite der Bourgeoisie über.

Marx und Engels haben, als sie zum letzten Mal gemeinsam das Vorwort zum „Kommunistischen Manifest" unterschrieben (das war im Jahre 1872), es für notwendig gehalten, die Aufmerksamkeit der Arbeiter besonders darauf zu lenken, dass das Proletariat nicht einfach die fertige (d. h. die bürgerliche) Staatsmaschinerie in Besitz nehmen und für seine Zwecke in Gang setzen kann, sondern dass es sie zerbrechen, zerschlagen muss. Der Renegat Kautsky hat eine ganze Broschüre über die „Diktatur des Proletariats" geschrieben, wo er den Arbeitern diese wichtigste marxistische Wahrheit verhehlt und den Marxismus von Grund auf entstellt, und das Lob, das die Herren Scheidemann und Konsorten dieser Broschüre gespendet haben, ist selbstverständlich vollauf verdient als ein Lob von Agenten der Bourgeoisie für jemanden, der zur Bourgeoisie übergeht.

Von reiner Demokratie, von Demokratie schlechthin, von Gleichheit, Freiheit, Allgemeinheit sprechen, wenn die Arbeiter und alle Werktätigen nicht nur durch die kapitalistische Lohnsklaverei, sondern auch durch einen vierjährigen Raubkrieg ausgehungert, entblößt, ruiniert und bis aufs Blut gepeinigt sind, während die Kapitalisten und Spekulanten nach wie vor über ihr zusammengeraubtes „Eigentum" und über den „fertigen" Apparat der Staatsmacht verfügen das heißt die Werktätigen und Ausgebeuteten verhöhnen.

Das heißt den Grundwahrheiten des Marxismus ins Gesicht schlagen, der die Arbeiter gelehrt hat: ihr müsst die bürgerliche Demokratie – als gewaltigen historischen Fortschritt im Vergleich zum Feudalismus – ausnutzen, aber vergesst keinen Augenblick den bürgerlichen Charakter dieser „Demokratie", ihre historische Bedingtheit und Beschränktheit, teilt nicht den „Aberglauben" an den „Staat", vergesst nicht, dass der Staat auch in der demokratischsten Republik, und nicht nur in einer Monarchie, nichts anderes ist als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere.

Die Bourgeoisie ist gezwungen zu heucheln und die (bürgerliche) demokratische Republik, die in Wirklichkeit eine Diktatur der Bourgeoisie, eine Diktatur der Ausbeuter über die werktätigen Massen darstellt, als „allgemeine Volksmacht" oder als Demokratie schlechthin oder als reine Demokratie zu bezeichnen. Die Scheidemann und Kautsky, die Austerlitz und Renner unterstützen (nunmehr, leider, mit Hilfe Friedrich Adlers) diese Lüge und diese Heuchelei. Die Marxisten, die Kommunisten dagegen entlarven sie und sagen den Arbeitern und den werktätigen Massen offen und geradeheraus die Wahrheit: die demokratische Republik, die Konstituierende Versammlung, die allgemeinen Wahlen usw. sind in Wirklichkeit die Diktatur der Bourgeoisie, und für die Befreiung der Arbeit vom Joch des Kapitals gibt es keinen anderen Weg als die Ablösung dieser Diktatur durch die Diktatur des Proletariats. Nur die Diktatur des Proletariats ist imstande, die Menschheit vom Joch des Kapitals, von der Lüge, der Falschheit und Heuchelei der bürgerlichen Demokratie, dieser Demokratie für die Reichen, zu befreien, nur sie ist imstande, die Demokratie für die Armen aufzurichten, d. h. die Vorzüge der Demokratie tatsächlich den Arbeitern und den armen Bauern zugänglich zu machen, während diese Vorzüge der Demokratie jetzt (selbst in der demokratischsten – bürgerlichen – Republik) der ungeheuren Mehrheit der Werktätigen tatsächlich unzugänglich sind.

Nehmen wir z. B. die Versammlungs- und Pressefreiheit. Die Scheidemann und Kautsky, die Austerlitz und Renner versichern den Arbeitern, dass die gegenwärtigen Wahlen zur Nationalversammlung in Deutschland und Österreich „demokratisch" vor sich gehen. Das ist eine Lüge, denn in Wirklichkeit haben die Kapitalisten, die Ausbeuter, die Gutsbesitzer und Spekulanten neun Zehntel der besten, für Versammlungen geeigneten Gebäude, neun Zehntel der Papiervorräte, der Druckereien usw. in der Hand. Der Arbeiter in der Stadt, der Knecht und der Tagelöhner auf dem Lande sind sowohl durch dieses „geheiligte Eigentumsrecht" (das die Herren Kautsky und Renner, zu denen sich leider auch Friedrich Adler gesellt hat, schützen) als auch durch den bürgerlichen Apparat der Staatsmacht, d. h. durch die bürgerlichen Beamten, die bürgerlichen Richter usw., in Wirklichkeit von der Demokratie ausgeschaltet. Die jetzige „Versammlungs- und Pressefreiheit" in der deutschen „demokratischen" (bürgerlich-demokratischen) Republik ist Lüge und Heuchelei, denn in Wirklichkeit ist sie die Freiheit für die Reichen, die Presse zu kaufen und zu bestechen, die Freiheit für die Reichen, das Volk durch den Fusel der bürgerlichen Zeitungslüge betrunken zu machen, die Freiheit für die Reichen, die Herrensitze, die besten Gebäude usw. als ihr „Eigentum" zu behalten.

Die Diktatur des Proletariats nimmt den Kapitalisten zugunsten der Werktätigen die Herrensitze, die besten Gebäude, die Druckereien und Papierlager weg.

Das wird die Ersetzung der „allgemeinen", „reinen" „Demokratie" durch die „Diktatur einer Klasse" sein, lamentieren die Scheidemann und Kautsky, die Austerlitz und Renner (gemeinsam mit ihren ausländischen Gesinnungsgenossen, den Gompers, Henderson, Renaudel, Vandervelde und Konsorten).

Das ist nicht wahr, antworten wir. Das wird die Ersetzung der tatsächlichen Diktatur der Bourgeoisie (die durch die Formen der demokratischen bürgerlichen Republik heuchlerisch getarnt wird) durch die Diktatur des Proletariats sein. Das wird die Ersetzung der Demokratie für die Reichen durch die Demokratie für die Armen sein. Das wird die Ersetzung der Versammlungs- und Pressefreiheit für eine Minderheit, für die Ausbeuter, durch die Versammlungs- und Pressefreiheit für die Mehrheit der Bevölkerung, für die Werktätigen sein. Das wird eine gigantische welthistorische Erweiterung der Demokratie, ihre Umwandlung aus Lüge in Wahrheit sein, das wird die Befreiung der Menschheit von den Fesseln des Kapitals sein, das jede, auch die „demokratischste" und republikanischste bürgerliche Demokratie entstellt und beschneidet. Das wird die Ersetzung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen Staat sein, und diese Ersetzung ist der einzige Weg zum Absterben des Staates überhaupt.

Weshalb lässt sich denn dieses Ziel nicht ohne Diktatur einer Klasse erreichen? weshalb kann man nicht direkt zur „reinen" Demokratie übergehen? – fragen die heuchlerischen Freunde der Bourgeoisie oder die von ihr zum Narren gehaltenen naiven Kleinbürger und Philister.

Wir antworten: weil in jeder kapitalistischen Gesellschaft entweder die Bourgeoisie oder das Proletariat die entscheidende Bedeutung haben kann, während die Kleinbesitzer unvermeidlich schwankende, ohnmächtige, dumme Phantasten der „reinen", d. h. der außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehenden Demokratie bleiben. Weil man aus einer Gesellschaft, in der eine Klasse die andere unterdrückt, nicht anders als durch die Diktatur der unterdrückten Klasse herauskommen kann. Weil nur das Proletariat imstande ist, die Bourgeoisie zu besiegen, sie zu stürzen, denn das Proletariat ist die einzige Klasse, die durch den Kapitalismus zusammengeschlossen und „geschult", die in der Lage ist, die schwankende Masse der in kleinbürgerlichen Verhältnissen lebenden Werktätigen mitzureißen oder wenigstens zu „neutralisieren". Weil nur süßliche Kleinbürger und Philister von einem Abschütteln des Joches des Kapitals ohne lange und schwierige Niederhaltung des Widerstandes der Ausbeuter träumen und sich und die Arbeiter mit diesen Träumen betrügen können. In Deutschland und Österreich hat sich dieser Widerstand vorläufig noch nicht offen entfaltet, denn einstweilen hat dort die Expropriation der Expropriateure noch nicht begonnen. Dieser Widerstand wird, sobald eine solche Expropriation beginnt, verzweifelt, rasend sein. Indem die Scheidemann und Kautsky, die Austerlitz und Renner diese Tatsache sich und den Arbeitern verhehlen, begehen sie Verrat an den Interessen des Proletariats, gehen sie im entscheidendsten Augenblick von der Position des Klassenkampfes und der Abschüttelung des Joches der Bourgeoisie zur Position der Verständigung zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zur Position des „sozialen Friedens" oder der Aussöhnung der Ausbeuter und der Ausgebeuteten über.

Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte", sagte Marx. Revolutionen lehren schnell. Die Arbeiter in den Städten und die Landarbeiter in den Dörfern Deutschlands und Österreichs werden den Verrat der Scheidemann und Kautsky, der Austerlitz und Renner an der Sache des Sozialismus rasch begreifen. Das Proletariat wird diese „Sozialverräter", diese Sozialisten in Worten und Verräter des Sozialismus in Taten ebenso gründlich abschütteln, wie es in Russland die gleichen Kleinbürger und Philister, die Menschewiki und „Sozialrevolutionäre", abgeschüttelt hat. Das Proletariat wird einsehen, und zwar um so rascher, je vollständiger die Herrschaft der genannten „Führer" sein wird, – dass nur die Ersetzung des bürgerlichen Staates, und sei es auch die demokratischste bürgerliche Republik, durch einen Staat vom Typus der Pariser Kommune (von dem Marx so viel gesprochen hat, Marx, der von den Scheidemann und Kautsky entstellt und verraten worden ist) oder durch einen Staat vom Typus der Sowjets imstande ist, die Bahn zum Sozialismus frei zu machen. Die Diktatur des Proletariats wird die Menschheit von dem Joch des Kapitals und von den Kriegen erlösen.

1Der Artikel „Über ,Demokratie' und Diktatur“, der in der „Prawda“ Nr. 2 vom 3. Januar 1919 erschienen ist, wurde von Lenin Ende 1918, in der Periode der revolutionären Situation in Deutschland und Österreich, geschrieben. Nach der Novemberrevolution von 1918 war der revolutionäre Enthusiasmus der Arbeitermassen im Steigen begriffen. Sie befanden sich jedoch in ihrer Mehrheit unter dem Einfluß der Sozialdemokratie, die die Sache des Sozialismus längst verraten halte. Die Führung der Mehrheit der Arbeitermassen blieb in den Händen der Sozialdemokraten, sowohl in den Händen der Scheidemänner, die sich die direkte Aufgabe stellten, die Entfaltung des Kampfes für die Diktatur des Proletariats zu verhindern und die proletarische Revolution niederzuschlagen, als auch in den Händen der zentristischen Kautskyaner (der „Unabhängigen“), die die Scheidemänner auf jede Weise unterstützten und durch ihre Predigt der „reinen“, d. h. der bürgerlichen Demokratie die Arbeitermassen vom Kampf für die proletarische Diktatur ablenkten. Die damals kaum erst entstandene, längst noch nicht bolschewisierte, manche „linke“ Fehler begehende, noch sehr schwache und zur Führung der gesamten Arbeiterbewegung noch nicht fähige Kommunistische Partei, an deren Spitze Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg standen, stellte den Kampf für die Diktatur des Proletariats in der Form der Räte als Kampfaufgabe vor die Arbeitermassen in Stadt und Land.

In dem erwähnten Artikel weist Lenin nach, dass die Sozialdemokraten beider Schattierungen (die Scheidemänner und die Kautskyaner) bei der Verteidigung der Diktatur der Bourgeoisie und im Kampf gegen die Diktatur des Proletariats einig waren. [Anmerkung der „Ausgewählten Werke, Band 7, Zürich 1934]

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