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Wladimir I. Lenin 19200723 Rede über die Rolle der Kommunistischen Partei

Wladimir I. Lenin: Rede über die Rolle der Kommunistischen Partei1

am 23. Juli 1920

[Veröffentlicht 1921 im „Stenographischen Bericht des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationale“ (russisch) Verlag der Komintern. Nach Sämtliche Werke, Band 25, Wien-Berlin 1930, S. 428-432]

Genossen! Ich möchte mir einige Bemerkungen über die Reden der Genossen Tanner und MacLaine erlauben, Genosse Tanner erklärt, dass er für die Diktatur des Proletariats sei, dass er sich aber die Diktatur des Proletariats nicht ganz so vorstelle wie wir. Wir verstünden unter der Diktatur des Proletariats eigentlich die Diktatur seiner organisierten und klassenbewussten Minderheit.

Und in der Tat, im Zeitalter des Kapitalismus, wo die Arbeitermassen unaufhörlich ausgebeutet werden und nicht imstande sind, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, ist für die politischen Parteien gerade am meisten charakteristisch, dass sie nur eine Minderheit ihrer Klasse erfassen können. Die politische Partei kann nur die Minderheit der Klasse erfassen, ebenso wie die wirklich klassenbewussten Arbeiter in jeder kapitalistischen Gesellschaft nur die Minderheit aller Arbeiter bilden. Deshalb müssen wir anerkennen, dass nur diese bewusste Minderheit die Führung der breiten Arbeitermassen übernehmen kann. Wenn Genosse Tanner sagt, dass er ein Feind der Partei sei, dass er aber gleichzeitig dafür sei, dass eine Minderheit der am besten organisierten und revolutionärsten Proletarier dem ganzen Proletariat den Weg weise, so sage ich, dass zwischen uns in Wirklichkeit keine Meinungsverschiedenheiten bestehen. Was stellt die organisierte Minderheit dar? Wenn diese Minderheit wirklich klassenbewusst ist, wenn sie die Massen zu führen versteht, wenn sie fähig ist, auf jede aktuelle Frage eine Antwort zu geben, – dann ist sie im Grunde genommen eine Partei, Und wenn solche Genossen wie Tanner, mit denen wir ganz besonders rechnen, weil sie Vertreter einer Massenbewegung sind – was man von den Vertretern der Britischen Sozialistischen Partei schwerlich sagen kann –, wenn diese Genossen dafür sind, dass eine Minderheit besteht, die organisiert für die Diktatur kämpft und die Arbeitermassen in dieser Richtung erzieht, so ist eine solche Minderheit im Grunde genommen nichts anderes als eine Partei. Genosse Tanner sagt, dass diese Minderheit die gesamte Arbeitermasse führen und organisieren müsse. Wenn Genosse Tanner und die anderen Genossen aus der Shop-Steward-Bewegung und den „Industriearbeitern der Welt“ (IWW) das anerkennen – wir sehen aber jeden Tag in unseren Unterhaltungen mit ihnen, dass sie das wirklich anerkennen –, wenn sie dafür sind, dass eine bewusste kommunistische Minderheit der Arbeiterklasse das Proletariat führe, so müssen sie auch zugeben, dass eben das der Sinn aller unserer Resolutionen ist. Der einzige Unterschied, der zwischen uns besteht, beruht auf einer Art von Misstrauen, das die englischen Genossen gegen die politische Partei hegen. Sie stellen sich politische Parteien nicht anders als nach dem Ebenbild der Parteien von Gompers und Henderson vor, als Parteien der parlamentarischen Geschäftemacher, der Verräter an der Arbeiterklasse, Und wenn sie unter Parlamentarismus eben den heutigen englischen und amerikanischen Parlamentarismus verstehen, so müssen wir sagen, dass auch wir Gegner eines solchen Parlamentarismus und solcher politischen Parteien sind. Wir brauchen neue Parteien, brauchen andere Parteien, Wir brauchen Parteien, die wirklich in ständiger Fühlung mit den Massen sind und es verstehen, diese Massen zu führen.

Jetzt komme ich zu der dritten Frage, die ich hier im Zusammenhang mit der Rede MacLaines streifen wollte. Genosse MacLaine ist für eine Verschmelzung der Kommunistischen Partei Englands mit der Labour Party. Ich habe mich bereits in meinen Leitsätzen über die Aufnahme in die Kommunistische Internationale darüber geäußert. Diese Frage hatte ich offen gelassen. Aber nach meinen Unterredungen mit mehreren Genossen über diese Frage bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass das Verbleiben in der Labour Party die einzig richtige Taktik ist. Und nun kommt Genosse MacLaine und sagt: Seid nicht allzu dogmatisch! Dieser Ausdruck scheint mir ganz unangebracht zu sein. Genosse Ramsay sagt: Lasst uns englische Kommunisten diese Frage selber entscheiden. Was wäre das aber für eine Internationale, wenn jede kleine Sektion sagen wollte: Einige von uns sind dafür, einige – dagegen? Lasst uns selber entscheiden. Wozu brauchten wir dann die Internationale, den Kongress und diese ganze Diskussion? Genosse MacLaine hat nur von der Rolle der politischen Partei gesprochen. Aber das gleiche gilt ja auch für die Gewerkschaften und den Parlamentarismus, Es ist durchaus richtig, dass ein großer Teil der besten Revolutionäre gegen den Anschluss an die Labour Party ist, weil er den Parlamentarismus als Kampfmittel ablehnt. Vielleicht wäre es deshalb am besten, diese Frage einer Kommission zu übergeben, wo sie unter allen Umständen diskutiert und unbedingt noch auf diesem Kongress der III. Internationale entschieden werden müsste. Wir können uns nicht damit einverstanden erklären, dass das nur Sache der englischen Kommunisten sei. Wir müssen sagen, welche Taktik wir überhaupt für die richtige halten.

Jetzt will ich auf einige Argumente des Genossen MacLaine im Zusammenhang mit der Frage der englischen Labour Party eingehen. Wir müssen offen sagen: die Kommunistische Partei darf sich der Labour Party nur unter der Bedingung anschließen, dass sie die uneingeschränkte Freiheit der Kritik behält und die Möglichkeit hat, ihre eigene Politik zu treiben. Das ist eine sehr wichtige Voraussetzung, Wenn Genosse Serrati bei dieser Gelegenheit von Zusammenarbeit der Klassen spricht, so erkläre ich: das ist keine Zusammenarbeit der Klassen. Wenn die italienischen Genossen Opportunisten vom Schlage der Turati und Konsorten, d. h. bürgerliche Elemente, in der Partei dulden, so ist das wirklich eine Zusammenarbeit der Klassen. Aber in diesem Falle, bei der Labour Party, handelt es sich lediglich um die Zusammenarbeit der fortgeschrittenen Minderheit der englischen Arbeiter mit ihrer überwältigenden Mehrheit. Die Mitglieder der Labour Party sind alle Mitglieder der Trade Unions, Das ist eine sehr originelle Struktur, die wir in keinem anderen Lande haben. Diese Organisation umfasst etwa sechs bis sieben Millionen Arbeiter aus allen Gewerkschaften, Niemand fragt sie nach ihren politischen Überzeugungen, Beweisen Sie, Genosse Serrati, dass uns dort jemand hindern wird, das Recht der Kritik auszunutzen. Nur dann, wenn Ihnen das gelingt, können Sie beweisen, dass Genosse MacLaine unrecht hat. Die Britische Sozialistische Partei kann ganz offen erklären, dass Henderson ein Verräter ist, und kann nichtsdestoweniger in der Labour Party bleiben. Hier arbeitet die Vorhut der Arbeiterklasse mit den rückständigen Arbeitern, mit der Nachhut zusammen. Diese Zusammenarbeit ist für die ganze Bewegung von so großer Bedeutung, dass wir kategorisch darauf bestehen, dass die englischen Kommunisten das Bindeglied zwischen der Partei, d. h. der Minderheit der Arbeiterklasse, und der gesamten übrigen Masse der Arbeiter werden. Wenn die Minderheit nicht versteht, die Massen zu führen und eine enge Fühlung mit ihnen herzustellen, so ist sie keine Partei, so ist sie überhaupt nichts wert, einerlei, ob sie sich als Partei bezeichnet oder als Landesausschuss der Shop-Stewards. Soviel ich weiß, haben die Shop-Stewards in England ihren Landesausschuss, Solange nicht das Gegenteil bewiesen wird, können wir sagen, dass die Labour Party aus Proletariern besteht, und dass wir, indem wir in ihren Reihen verbleiben, die Zusammenarbeit der Vorhut der Arbeiterklasse mit den zurückgebliebenen Arbeitern durchführen können. Wenn diese Zusammenarbeit nicht systematisch durchgeführt wird, dann ist die kommunistische Partei nichts wert, und dann kann auch von einer Diktatur des Proletariats keine Rede sein. Wenn unsere italienischen Genossen keine überzeugenderen Argumente bringen, so werden wir hier die Frage endgültig entscheiden müssen auf Grund des vorliegenden Materials. Und wir werden zu der Schlussfolgerung kommen, dass der Eintritt in die Labour Party taktisch richtig ist.

Genosse Tanner und Genosse Ramsay behaupten, dass die Mehrheit der englischen Kommunisten mit der Vereinigung nicht einverstanden sein werde. Aber müssen wir denn unbedingt mit der Mehrheit einverstanden sein? Keineswegs! Wenn sie noch nicht begriffen hat, welche Taktik die richtige ist, so kann man vielleicht ein wenig abwarten. Selbst das Nebeneinanderbestehen zweier Parteien für einige Zeit wäre besser als die Nichtbeantwortung der Frage, welche Taktik richtig sei. Natürlich, geht man von der Erfahrung aller Mitglieder des Kongresses, von den vorgebrachten Argumenten aus, so kann man nicht verlangen, dass wir beschließen: in allen Ländern muss sofort eine einheitliche Partei geschaffen werden. Das ist unmöglich. Aber wir können hier offen unsere Meinung sagen und Richtlinien ausarbeiten. Wir müssen die von der englischen Delegation aufgeworfene Frage in einer besonderen Kommission prüfen und dann erklären: die richtige Taktik ist – der Anschluss an die Labour Party, Wenn die Mehrheit dagegen ist, so müssen wir eine besondere Organisation der Minderheit schaffen. Das wird eine erzieherische Wirkung haben. Wenn die Massen der englischen Arbeiter dann immer noch an die alte Taktik glauben sollten, so werden wir unsere Schlussfolgerungen auf dem nächsten Kongress einer erneuten Prüfung unterziehen. Aber wir können nicht sagen, dass diese Frage nur die Engländer angeht. Das wäre eine Nachahmung der übelsten Gepflogenheiten der II. Internationale, Wir müssen unsere Meinung offen aussprechen. Wenn die Kommunisten in England sich nicht einigen und keine Massenpartei schaffen, so wird eine Spaltung in dieser oder jener Form unvermeidlich werden.

1 Diese Rede hielt Lenin in der zweiten Sitzung des Kongresses in der Diskussion zum Referat Sinowjews „Über die Rolle der Kommunistischen Partei vor und nach der Eroberung der Macht durch das Proletariat“. Die Frage der Rolle und Struktur der Kommunistischen Partei erhielt eine tiefe Bedeutung angesichts der Entwicklung der syndikalistischen Abweichung in der Arbeiterbewegung Englands, Deutschlands, Frankreichs und Amerikas, die die Notwendigkeit der politischen Partei für die Organisierung der Arbeitermassen und ihre Vorbereitung zur proletarischen Revolution leugneten. Auf diesem Standpunkt standen nicht nur die Syndikalisten, sondern auch linke Kommunisten.

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