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Wladimir I. Lenin 19220300 Notizen eines Publizisten

Wladimir I. Lenin: Notizen eines Publizisten

Über das Besteigen hoher Berge, über die Schädlichkeit der Verzagtheit, über den Nutzen des Handels, über das Verhältnis zu den Menschewiki usf.

[Ausgewählte Werke, Band 10. Die Kommunistische Internationale. Moskau 1937, S. 300-308]

I

Eine Art Beispiel

Stellen wir uns einen Menschen vor, der einen sehr hohen, steilen und noch unerforschten Berg besteigt. Nehmen wir an, es sei ihm gelungen, mit Überwindung unerhörter Schwierigkeiten und Gefahren, viel höher zu kommen als sein Vorgänger, doch habe er den Gipfel dennoch nicht erreicht. Er stand nun in einer Lage, in der ein Weiterkommen in der gewählten Richtung und auf dem eingeschlagenen Wege schon nicht nur schwierig und gefährlich sondern geradezu unmöglich geworden ist. Er musste umkehren, abwärts steigen, andere Wege suchen, die zwar langwieriger sein mögen, dafür aber die Möglichkeit in Aussicht stellen, den Gipfel zu erreichen. Der Abstieg in dieser in der Welt noch nie erlebten Höhe, auf der sich unser vorgestellter Bergsteiger befindet, bietet vielleicht gar noch größere Gefahren und Schwierigkeiten als der Aufstieg: man tut leichter einen Fehltritt; es ist nicht so bequem, sich die Stelle, auf die man den Fuß setzt, anzusehen; es fehlt jene besonders gehobene Stimmung, die infolge des unmittelbaren Höherkommens, direkt dem Ziel zu, entstanden war, usw. Man muss sich anseilen, ganze Stunden dazu verwenden, um mit dem Pickel Stufen oder Stellen zur sicheren Befestigung des Seils auszuhauen, man muss sich mit der Langsamkeit einer Schildkröte, und zwar rückwärts, abwärts, weiter ab vom Ziel bewegen, und immer noch ist nicht zu sehen, ob dieser verzweifelt gefährliche, qualvolle Abstieg zu Ende geht, ob sich ein einigermaßen aussichtsreicher Umweg finden lässt, auf dem man wieder, kühner, rascher, geraderen Wegs vorwärts, aufwärts, dem Gipfel zu gehen könnte.

Es wird kaum unnatürlich sein, anzunehmen, dass sich bei einem Menschen, der in solch eine Lage geraten ist, Minuten der Verzagtheit einstellen, trotz der unerhörten Höhe, die er erreicht hat. Und wahrscheinlich wären diese Minuten zahlreicher, häufiger, schwerer, wenn er manche Stimmen von unten hören könnte, von Leuten, die aus gefahrloser Ferne, durchs Fernrohr, diesen höchst gefahrvollen Abstieg beobachten, den man nicht einmal (nach dem Muster der „Smjena-Wjech-Leute“ einen „Abstieg auf Bremsen“ nennen kann, weil eine Bremse einen gut berechneten, schon ausprobierten Reisewagen, eine im Voraus gebahnte Straße und schon früher erprobte Mechanismen voraussetzt. Hier aber gibt es weder Wagen noch Straße, und überhaupt nichts, schlechthin gar nichts, was vorher erprobt gewesen wäre!

Die Stimmen von unten aber klingen schadenfroh. Die einen zeigen ihre Schadenfreude offen, johlen und schreien: jetzt wird er stürzen, geschieht ihm ganz recht, was machst du auch diesen Wahnsinn! Die andern trachten ihre Schadenfreude zu verbergen, sie machen es hauptsächlich wie Juduschka Golowljow; sie bedauern, ihre Blicke himmelwärts richtend: Zu unserem größten Leidwesen bestätigen sich unsere Befürchtungen! Haben wir, die wir unser ganzes Leben auf die Vorbereitung eines vernünftigen Planes zur Besteigung dieses Berges verwandt haben – haben wir nicht den Aufschub der Besteigung verlangt, solange unser Plan nicht fix und fertig ausgearbeitet vorliegt? Und wenn wir den Weg so leidenschaftlich bekämpft haben, den jetzt dieser Verrückte selbst aufgibt (seht an, schaut, er ist zurückgegangen, er steigt abwärts, er verwendet ganze Stunden darauf, um sich die Möglichkeit zu verschaffen, um irgendeine armselige Elle vorwärtszukommen! Uns aber hat er mit den gemeinsten Worten beschimpft, als wir systematisch auf Mäßigung und Exaktheit drangen!) – wenn wir den Verrückten so heiß verurteilt und alle vor Nachahmung und Unterstützung seines Tuns gewarnt haben, so haben wir das ausschließlich aus Liebe zu dem erhabenen Plan der Besteigung dieses nämlichen Berges getan, um diesen erhabenen Plan überhaupt nicht zu kompromittieren.

Zum Glück kann unser vorgestellter Bergsteiger unter den in unserem Beispiel angenommenen Verhältnissen die Stimmen dieser „wahren Freunde“ der Idee des Bergsteigens nicht hören, es könnte ihm sonst vielleicht übel werden. Übelkeit aber, sagt man, ist der Frische des Kopfes und der Festigkeit der Beine nicht zuträglich, zumal in sehr großen Höhen.

II

Ohne Metaphern

Ein Beispiel ist kein Beweis. Jeder Vergleich hinkt. Das sind unzweifelhafte und allgemein bekannte Wahrheiten, doch schadet es nicht, an sie zu erinnern, um die Grenzen der Gültigkeit jedes Vergleichs überhaupt anschaulicher darzustellen.

Das Proletariat Russlands hat in seiner Revolution eine gigantische Höhe erklommen, nicht nur im Vergleich zu den Jahren 1789 und 1793, sondern auch im Vergleich zum Jahre 1871. Man muss sich möglichst nüchtern, klar, anschaulich Rechenschaft darüber ablegen, was wir eigentlich „zu Ende gebracht“ und was wir nicht zu Ende gebracht haben: der Kopf wird dann frisch bleiben, es wird weder Übelkeit, noch Illusionen, noch Verzagtheit geben.

Wir haben die bürgerlich-demokratische Revolution so „sauber“ wie noch nie in der Welt „zu Ende geführt“. Das ist eine gewaltige Errungenschaft, die keine Macht uns mehr entreißen wird.

Wir haben den Ausweg aus dem reaktionärsten imperialistischen Krieg auf revolutionäre Weise zu Ende gebracht. Das ist ebenfalls solch eine Errungenschaft, die keine Macht der Welt mehr rückgängig machen wird, und eine um so wertvollere Errungenschaft, als reaktionäre imperialistische Gemetzel in nicht ferner Zukunft unvermeidlich sind, wenn der Kapitalismus bestehen bleibt; aber die Menschen des 20. Jahrhunderts werden sich ein zweites Mal nicht wieder gar so leicht mit „Baseler Manifesten“ abspeisen lassen, womit die Renegaten, die Helden der II. und 2½. Internationale, 1912 und 1914-1918 sich selbst und die Arbeiterschaft zum Narren gehalten haben.

Wir haben den Sowjettypus des Staates geschaffen und haben damit eine neue weltgeschichtliche Epoche eingeleitet, die Epoche der politischen Herrschaft des Proletariats, die die Epoche der Herrschaft der Bourgeoisie abzulösen gekommen ist. Auch das kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, obwohl man den Sowjettypus des Staates nur durch die praktische Erfahrung der Arbeiterklasse mehrerer Länder wird „zu Ende führen“ können.

Wir haben jedoch noch nicht einmal das Fundament der sozialistischen Ökonomik zu Ende geführt. Das können die uns feindlichen Kräfte des sterbenden Kapitalismus noch nehmen. Man muss sich dessen klar bewusst sein und es ollen zugeben, weil es nichts Gefährlicheres gibt als Illusionen (und Schwindelanfälle, zumal in großen Höhen). Und an dem Eingeständnis dieser bitteren Wahrheit ist entschieden nichts „Schreckliches“, nichts, das auch nur zur geringsten Verzagtheit einen berechtigten Anlass gäbe, denn wir haben stets die Abc-Wahrheit des Marxismus verkündet und wiederholt, dass zum Sieg des Sozialismus die gemeinsamen Anstrengungen der Arbeiter mehrerer vorgeschrittener Länder notwendig sind. Wir aber stehen einstweilen immer noch allein, und wir haben in einem rückständigen Lande, in einem Lande, das mehr als die übrigen verwüstet ist, unglaublich viel geleistet. Damit nicht genug: wir haben die „Armee“ der revolutionären proletarischen Kräfte bewahrt, wir haben ihre „Manövrierfähigkeit“ bewahrt, wir haben den klaren Kopf behalten, der uns nüchtern zu berechnen gestattet, wo, wann und wie weit man zurückweichen muss (um dann einen kräftigeren Sprung zu tun); wo, wann und wie das nicht zu Ende geführte Werk erneut in Angriff genommen werden muss. Diejenigen Kommunisten müsste man als sicher verlorene Leute bezeichnen, die sich einbilden wollten, dass man ohne Fehler, ohne Rückzüge, ohne ein vielmaliges Neubeginnen des nicht zu Ende Geführten und des unrichtig Gemachten solch ein weltgeschichtliches „Unternehmen“ wie die Vollendung des Fundaments der sozialistischen Ökonomie (zumal in einem Lande der Kleinbauernschaft) zu Ende führen könnte. Jene Kommunisten aber, die weder in Illusionen noch in Verzagtheit verfallen, die sich die Kraft und Geschmeidigkeit des Organismus für das abermalige „Beginnen von Anfang an“ beim Herantreten an diese so schwierige Aufgabe bewahren, sind nicht verloren (und werden es mit größter Wahrscheinlichkeit auch nie sein).

Und wir dürfen uns um so weniger gestatten, auch nur der geringsten Verzagtheit zu verfallen, es liegen für uns um so weniger Gründe dazu vor, als wir bei aller unserer Verwüstung, Armut, Rückständigkeit, Hungersnot angefangen haben, auf dem Gebiet der den Sozialismus vorbereitenden Ökonomie in diesem und jenem vorwärtszukommen, während neben uns, in der ganzen Welt, weiter vorgeschrittene Länder, die tausendmal reicher und militärisch stärker sind als wir, fortfahren, auf dem Gebiet „ihrer“ von ihnen so gepriesenen, ihnen vertrauten, seit Hunderten von Jahren erprobten kapitalistischen Ökonomie rückwärtszugehen.

III

Über die Fuchsjagd; über Levi; über Serrati

Man sagt, dass das aussichtsreichste Verfahren bei der Fuchsjagd das folgende sei: man kreist die aufgespürten Füchse in einer gewissen Entfernung mittels einer mit roten Fähnchen behängten und in geringer Höhe über dem Schnee angebrachten Leine ein; in seiner Scheu vor allem, was als künstliches Machwerk „von Menschenhand“ kenntlich ist, kommt der Fuchs nur dann und nur da heraus, wo dieser „Zaun“ aus Fähnchen offensteht; und eben dort erwartet ihn der Jäger. Es sollte scheinen, dass für ein solches von allen gehetztes Tier die Vorsicht die positivste Eigenschaft ist. Aber auch hier erweist sich das „Weitertreiben des Vorzugs“ als Mangel. Man fängt den Fuchs gerade durch seine übergroße Vorsicht.

Ich muss mich eines Fehlers schuldig bekennen, den ich, gleichfalls aus übergroßer Vorsicht, auf dem III. Kongress der Kommunistischen Internationale begangen habe. Auf diesem Kongress stand ich auf dem äußersten rechten Flügel. Ich bin überzeugt, dass dies die einzig richtige Stellung war, denn eine überaus zahlreiche (und „einflussreiche“) Delegiertengruppe, mit vielen deutschen, ungarischen und italienischen Genossen an der Spitze, nahm eine unmäßig „linke“ und unrichtig linke Haltung ein, wobei sie allzu oft die nüchterne Einschätzung der für eine sofortige und unmittelbare revolutionäre Aktion nicht sehr günstigen Situation durch verstärktes Schwenken mit roten Fähnchen ersetzte. Aus Vorsicht, in der Sorge darum, dass diese zweifellos unrichtige Abweichung zum Radikalismus nicht der ganzen Taktik der Kommunistischen Internationale eine falsche Richtung gebe, nahm ich Levi in jeder Weise in Schutz und sprach dabei die Vermutung aus, dass er vielleicht aus übergroßem Schrecken über die Fehler der Linken den Kopf verloren habe (ich leugnete nicht, dass er den Kopf verloren hat), und dass es Fälle gegeben habe, in denen Kommunisten, die den Kopf verloren hatten, ihn dann „wieder fanden“. Indem ich – unter dem Druck der „Linken“ – sogar zugab, dass Levi ein Menschewik sei, verwies ich darauf, dass sogar eine solche Annahme die Sache noch nicht entscheide. Zum Beispiel beweist die ganze Geschichte des fünfzehnjährigen Kampfes der Menschewiki mit den Bolschewiki in Russland (1903-1917), wie es auch die drei russischen Revolutionen beweisen, dass die Menschewiki im Allgemeinen zweifellos im Unrecht und dass sie in der Tat Agenten der Bourgeoisie in der Arbeiterbewegung waren. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Aber diese unbestreitbare Tatsache schafft nicht die andere Tatsache aus der Welt, dass die Menschewiki in einzelnen Fällen gegen die Bolschewiki im Recht waren, zum Beispiel in der Frage des Boykotts der Stolypinschen Duma im Jahre 1907.

Seit dem III. Kongress der Kommunistischen Internationale sind schon acht Monate vergangen. Offenbar ist unser damaliger Streit mit den „Linken“ bereits veraltet, bereits durch das Leben entschieden. Es hat sich herausgestellt, dass ich in Hinsicht auf Levi im Unrecht war, denn er hat mit Erfolg den Beweis geliefert, dass er auf den menschewistischen Pfad nicht zufällig, nicht vorübergehend, nicht nur „aus Überspannung des Bogens“ gegen den sehr gefährlichen Fehler der „Linken“, sondern auf lange Zeit, auf die Dauer, aus seiner ganzen Natur heraus geraten ist. Statt nach dem III. Kongress der Kommunistischen Internationale ehrlich die Notwendigkeit einer Bitte um Wiederaufnahme in die Partei einzusehen, wie ein Mensch verfahren musste, der aus Gereiztheit über einige Fehler der Linken vorübergehend den Kopf verloren hatte, machte sich Levi daran, in kleinlicher Weise die Partei mit Schmutz zu bewerfen und ihr aus dem Hinterhalt ein Bein zu stellen, d. h. den Agenten der Bourgeoisie aus der II. und . Internationale faktische Dienste zu erweisen. Es versteht sich, dass die deutschen Kommunisten vollauf im Recht waren, als sie das damit beantworteten, dass sie vor kurzem noch einige Herrschaften aus ihrer Partei ausschlossen, die Paul Levi bei dieser edlen Beschäftigung insgeheim unterstützt hatten.

Die Entwicklung der deutschen und der italienischen kommunistischen Partei nach dem III. Kongress der Kommunistischen Internationale beweist, dass der Fehler der Linken auf diesem Kongress von ihnen eingesehen worden ist und korrigiert wird – allmählich, langsam, aber sicher; die Beschlüsse des III. Kongresses der Kommunistischen Internationale werden loyal verwirklicht. Die Umgestaltung des alten Typus der parlamentarischen, in Wirklichkeit reformistischen und nur leicht revolutionär übertünchten europäischen Partei zu einem neuen Partei-Typus, zu einer wirklich revolutionären, wirklich kommunistischen Partei – das ist eine außerordentlich schwierige Sache. Das Beispiel Frankreichs zeigt diese Schwierigkeit wohl am anschaulichsten. Den Typus der Parteiarbeit im täglichen Leben umzubilden, den Alltagstrott umzugestalten, es durchzusetzen, dass die Partei zur Avantgarde des revolutionären Proletariats wird, ohne sich dabei von den Massen zu lösen, vielmehr in immer enger werdendem Kontakt mit ihnen und so, dass sie sie zum revolutionären Bewusstsein und zum revolutionären Kampf empor bringt – das ist die schwerste, aber auch die wichtigste Sache. Wenn die europäischen Kommunisten die (wahrscheinlich sehr kurze) Zeitspanne zwischen den Perioden besonderer Verschärfung der revolutionären Kämpfe, wie sie viele kapitalistische Länder Europas und Amerikas im Jahre 1921 und zu Anfang des Jahres 1922 durchgemacht haben, nicht zu dieser gründlichen, inneren, tiefgreifenden Umgestaltung des ganzen Aufbaus und der ganzen Arbeit ihrer Parteien ausnutzen, so wird das von ihrer Seite das größte Verbrechen sein. Glücklicherweise liegen zu dieser Befürchtung keine Gründe vor. Die nicht lärmerfüllte, nicht grelle, nicht schreierische, nicht schnelle, aber in die Tiefe gehende Arbeit für die Schaffung echter kommunistischer Parteien, echter revolutionärer Avantgarden des Proletariats in Europa und Amerika ist begonnen worden, und diese Arbeit geht weiter.

Die politischen Lehren, die sich sogar aus der Beobachtung einer so trivialen Sache wie der Fuchsjagd ziehen lassen, erweisen sich als nicht nutzlos: einerseits führt übergroße Vorsicht zu Fehlern. Andererseits darf man nicht vergessen, dass man dann, wenn man die nüchterne Einschätzung der Situation durch bloße „Stimmung“ oder durch das Schwenken mit roten Fähnchen ersetzt, einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begehen kann; dass man zugrunde gehen kann unter Verhältnissen, wo die Schwierigkeiten zwar noch groß sind, der Untergang aber nicht im geringsten, nicht im allergeringsten unvermeidlich ist.

Paul Levi will sich jetzt bei der Bourgeoisie – und folglich bei der II. und . Internationale, ihren Agenten – dadurch besonders verdient machen, dass er gerade diejenigen Werke Rosa Luxemburgs neu herausgibt, in denen sie unrecht hatte. Wir antworten darauf mit zwei Zeilen aus einer guten russischen Fabel: ein Adler kann wohl manchmal auch tiefer hinabsteigen als das Huhn, aber nie kann ein Huhn in solche Höhen steigen wie ein Adler. Rosa Luxemburg irrte in der Frage der Unabhängigkeit Polens; sie irrte 1903 in der Beurteilung des Menschewismus; sie irrte in der Theorie der Akkumulation des Kapitals; sie irrte, als sie im Juli 1914 neben Plechanow, Vandervelde, Kautsky u. a. für die Vereinigung der Bolschewiki mit den Menschewiki eintrat; sie irrte in ihren Gefängnisschriften von 1918 (wobei sie selbst beim Verlassen des Gefängnisses Ende 1918 und Anfang 1919 ihre Fehler zum großen Teil korrigierte). Aber trotz aller dieser ihrer Fehler war sie und bleibt sie ein Adler; und nicht nur wird die Erinnerung an sie den Kommunisten der ganzen Welt immer teuer sein, sondern ihre Biographie und die vollständige Ausgabe ihrer Werke (mit der sich die deutschen Kommunisten in unmöglicher Weise verspäten, wofür sie nur teilweise mit der unerhörten Menge der Opfer in ihrem schweren Kampf zu entschuldigen sind) werden eine sehr nützliche Lehre darstellen zur Erziehung vieler Generationen von Kommunisten der ganzen Welt. „Die deutsche Sozialdemokratie ist nach dem 4. August 1914 ein stinkender Leichnam“ – mit diesem Ausspruch Rosa Luxemburgs wird ihr Name in die Geschichte der Arbeiterbewegung der ganzen Welt eingehen. Auf dem Hinterhof der Arbeiterbewegung aber, zwischen den Misthaufen, werden Hühner von der Art Paul Levis, Scheidemann, Kautskys und dieser ganzen Sippschaft, wie es sich versteht, über die Fehler der großen Kommunistin in ganz besondere Verzückung geraten. Jedem das Seine.

Was Serrati betrifft, so muss man ihn mit einem faulen Ei vergleichen, das mit Geräusch und mit besonders… pikantem Aroma platzt. Wenn man, wie er, auf „seinem“ Parteitag eins Resolution über die Bereitwilligkeit zur Unterordnung unter den Beschluss des Kongresses der Kommunistischen Internationale zur Annahme bringt, dann zu diesem Kongress den alten Lazzari her sendet und zum Schluss die Arbeiter mit der Grobheit eines Rosstäuschers prellt, so ist das eine Perle. Die italienischen Kommunisten, die die echte Partei des revolutionären Proletariats in Italien heranbilden, werden den Arbeitermassen jetzt ein anschauliches Musterbild für politische Schurkerei und Menschewismus vor Augen führen können. Nicht auf einmal, nicht ohne vielmalige Wiederholung des Anschauungsunterrichts wird sich die nützliche, die abstoßende Wirkung dieses Musterbeispiels zeigen, aber zeigen wird sie sich unweigerlich. Es gilt, sich von den Massen nicht loszureißen, bei der schweren Arbeit der praktischen Entlarvung aller Schuftereien Serratis vor den Augen des einfachen Arbeiters nicht die Geduld zu verlieren; sich nicht zu der allzu leichten und allergefährlichsten Entscheidung hinreißen zu lassen, einfach da, wo Serrati „a“ sagt, „minus a“ zu sagen; die Massen unbeirrbar zur revolutionären Weltanschauung und zur revolutionären Tat zu erziehen; den ausgezeichneten (obwohl teuer zu stehen kommenden) Anschauungsunterricht des Faschismus in der Praxis und auf praktische Art zu verwerten – und dann ist dem italienischen Kommunismus der Sieg sicher.

Levi und Serrati sind nicht an und für sich charakteristisch, sondern als modernes Musterbeispiel für den äußersten linken Flügel der kleinbürgerlichen Demokratie, des Lagers der „Ihrigen“, des Lagers der internationalen Kapitalisten, das unserem Lager gegenübersteht. Das Lager der „Ihrigen“, sie allesamt und allzumal, von Gompers bis Serrati, jubelt schadenfroh, frohlockt oder vergießt Krokodilstränen über unseren Rückzug, über unseren „Abstieg“, über unsere neue ökonomische Politik. Mögen sie schadenfroh jubeln. Mögen sie ihre Clownsstücke vorführen: Jedem das Seine. Wir aber werden weder Illusionen noch Verzagtheit Herr über uns werden lassen. Scheuen wir uns nicht, unsere Fehler einzugestehen, scheuen wir nicht die vielmalige, immer wiederholte Mühe, sie zu korrigieren – und wir werden den höchsten Gipfel erreichen. Die Sache des internationalen Blocks von Gompers bis Serrati ist eine verlorene Sache.

März 1922

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