Die Konterrevolution in Sicht

Die Konterrevolution in Sicht

Der gefährlichste Moment für eine schlechte Regierung", sagt der scharfsinnige Konservative Toqueville, „ist gewöhnlich derjenige, in welchem sie sich zu reorganisieren beginnt." Die Ereignisse überzeugten den Grafen Witte mit jedem Tage immer entschiedener von der Richtigkeit dieses Ausspruchs. Gegen ihn war die Revolution – entschlossen und schonungslos. Gegen ihn war auch die Hofkamarilla, und die liberale Opposition konnte sich nicht entschließen, offen mit ihm zu gehen. Der Regierungsapparat ging ihm unter den Händen in die Brüche. Und endlich war er selbst gegen sich, weil er die Ereignisse nicht zu erfassen vermochte, weil er keinen Plan hatte und, anstatt in einem klaren Operationsprogramm, in der Intrige seine Waffe wählte. Während Graf Witte in seiner Ratlosigkeit bald zu diesem, bald zu jenem Mittel griff, rückten die Reaktion und die Revolution immer näher auf einander an.

. … Selbst die aus den Akten des Polizeidepartements stammenden Tatsachen", heißt es in dem Geheimmemorandum, das Graf Witte im November 1905 als Kampfmittel gegen die „Trepowtzi" abfassen ließ, zeigen mit voller Klarheit, dass ein bedeutender Teil der schweren Anschuldigungen, die in den nächsten Tagen nach Erscheinen des Manifests von der Gesellschaft und dem Volk gegen die Regierung erhoben wurden, durchaus ernste Unterlagen hatten: es bestanden von obersten Regierungsbeamten ins Leben gerufene Parteien, deren Programm in der „organisierten Abwehr der extremen Elemente" bestand; patriotische Manifestationen wurden von der Regierung veranstaltet und zugleich andersgeartete Manifestationen auseinandergetrieben; man schoss auf friedliche Demonstranten und duldete, dass vor den Augen der Polizei und der Truppen Menschen misshandelt und Gouvernements-Semstwoverwaltungen niedergebrannt wurden; ließ die Pogromisten ungestört wüten und feuerte Salven ab auf jene, die es wagten, sich zur Wehr zu setzen; reizte bewusst oder unbewusst (?) die Menge zu Gewalttaten auf, indem man offizielle Erklärungen mit der Unterschrift des Stadthauptmanns verbreitete, und tat, wenn daraufhin Unruhen ausbrachen, nicht das Geringste zu ihrer Unterdrückung. Alle diese Tatsachen ereigneten sich im Laufe von drei bis vier Tagen an verschiedenen Enden des Reichs und weckten in der Bevölkerung einen solchen Sturm der Entrüstung, dass der erste freudige Eindruck, den das Manifest vom 30. Oktober gemacht hatte, gänzlich verwischt wurde." „Es bürgerte sich in der Bevölkerung die feste Überzeugung ein, dass alle diese Pogrome, die sich so unerwartet und doch gleichzeitig über ganz Russland ergossen, von einer und derselben, und dabei machtvollen Hand provoziert und geleitet wurden. Leider hatte die Bevölkerung für diese Annahme ihre ernsten Anhaltspunkte.“

Als der Generalgouverneur von Kurland das Gesuch eines von 20.000 Personen besuchten Meetings um Aufhebung des Kriegszustandes telegraphisch befürwortete, indem er der Ansicht Ausdruck gab, dass „der Kriegszustand der neuen Sachlage nicht entspreche," erteilte ihm Trepow mit fester Hand die Antwort: „Auf das Telegramm vom 20. Oktober. Mit Ihrer Schlussfolgerung, dass der Kriegszustand der neuen Sachlage widerspreche, nicht einverstanden.'' Witte verschluckte schweigend diese köstliche Erklärung seines Untergebenen, dass der Kriegszustand sich mit dem Manifest vom 30. Oktober sehr gut vertrage, und suchte sogar die Arbeiterdeputation zu überzeugen, dass „Trepow gar nicht so ein wildes Tier sei, wie man es von ihm behaupte." Allerdings musste Trepow unter dem Drucke der allgemeinen Entrüstung seinen Posten verlassen. Doch sein Nachfolger in der Rolle des Ministers des Innern Durnowo war keineswegs besser. Überdies behielt Trepow, der zum Palastkommandanten ernannt wurde, seinen Einfluss auf den Gang der Ereignisse nach wie vor bei. Die Haltung der Provinzbürokratie hing von ihm in viel höherem Maße ab als von dem Ministerpräsidenten selbst.

Die extremen Parteien", sagt das bereits von uns zitierte Novembermemorandum, „gewannen deshalb Macht, weil die scharfe Kritik, mit der sie jede Handlung der Regierung zerlegten, sich nur allzu oft als berechtigt erwies. Diese Parteien wären ganz erheblich in ihrem Prestige geschädigt, wenn die Massen sogleich nach Bekanntgebung des Manifestes gesehen hätten, dass die Regierung tatsächlich gewillt sei, den im Manifest bezeichneten Weg zu beschreiten und ihn auch beschritten habe. Leider fand genau das Gegenteil statt, und die extremen Parteien hatten noch einmal die Gelegenheit, deren Tragweite sich fast nicht ermessen lässt, mit Stolz darauf hinzuweisen, dass „sie und nur sie allein die von der Regierung gemachten Versprechungen richtig eingeschätzt hätten." Im November ging dem Grafen Witte, wie das Memorandum zeigt, das Verständnis für diese Wahrheit auf. Aber jetzt fehlte ihm die Möglichkeit, die erworbene Lehre praktisch anzuwenden. Das in seinem Auftrage für den Zaren abgefasste Memorandum blieb unbenutzt.

Hilflos zappelnd, ließ sich Witte nunmehr von der Konterrevolution gänzlich ins Schlepptau nehmen.

Noch am 19. November – gleichseitig mit dem Bauerntag – war in Moskau die Semstwokonferenz zusammengetreten, um die Stellungnahme der liberalen Opposition zur Regierung zu formulieren. Der Stimmungszeiger schwankte, indes gab sich unzweifelhaft ein Ausschlag nach rechts kund. Zwar ließen sich vereinzelte radikale Stimmen vernehmen, und man sprach sogar davon, dass „die Bürokratie nur zum Zerstören und nicht zum Aufbauen" fähig sei; dass man die schöpferische Kraft in der „mächtigen Arbeiterbewegung, die das Manifest vom 17. Oktober gegeben habe," suchen müsse; dass „wir die Konstitution nicht geschenkt haben wollen, sondern sie nur aus der Hand des russischen Volkes annehmen werden." Roditschew mit seiner unbezwinglichen Vorliebe für den pseudoklassischen Stil donnerte: „Entweder das allgemeine direkte Wahlrecht – oder die Duma kommt nicht zustande!" Aber andrerseits wurde in eben derselben Konferenz erklärt: „Die Agrarrevolten, die Aufstände – alles das schafft Schrecken; erschrocken ist das Kapital, erschrocken sind die bemittelten Leute, die ihr Geld von den Banken abheben und ins Ausland gehen." „Man überschüttet mit Hohn und Spott die Einrichtung der Satrapien als Mittel zur Bekämpfung der Agrarunruhen," erhoben sich die ernüchternden Stimmen der Gutsbesitzer, „wer aber zeigt uns ein konstitutionelles Mittel gegen eine solche Erscheinung?" „Lieber jeden wie auch immer beschaffenen Kompromiss als eine Verschärfung des Kampfes …" Es ist Zeit, in sich zu gehen," rief Gutschkow aus, der in jener Versammlung sein erstes politisches Debüt feierte, „wir werfen ja mit eigenen Händen Reisig in das Feuer, das uns alle verzehren wird." Der Widerhall der revolutionären Debatten des Bauerntages und die ersten Nachrichten von dem Aufstand in der Sewastopoler Flotte stellten den oppositionellen Mut der Semtzi auf eine gewaltige Probe. „Nicht mit der Revolution haben wir es hier zu tun " erklärte der Nestor des Semstwoliberalismus, Herr Petrunkjewitsch, „sondern mit der Anarchie." Unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse in Sewastopol und der Enteignungsbeschlüsse des Bauerntages gewinnt die Strömung die einen sofortigen Kompromiss mit dem Ministerium Witte fordert die Oberhand. Miljukow macht den Versuch, die Konferenz von irgend welchen offenbar kompromittierenden Schritten zurückzuhalten. Um die Semtzi zu beruhigen, weist er darauf hin, dass „die Meuterei in Sewastopol sich dem Ende zuneige, die Rädelsführer verhaftet und daher Befürchtungen allem Anschein nach verfrüht seien." Vergebens! Die Konferenz beschließt, eine Deputation an Witte abzusenden, sie gibt ihr eine Resolution mit, in der dem Grafen unter allerlei oppositionell-demokratischem Phrasengeschnörkel bedingtes Vertrauen zum Ausdruck gebracht wird. Zu derselben Zeit pflog der Ministerrat im Verein mit einigen „Berufspolitikern" vom rechten liberalen Flügel Beratungen über die Frage, welches System für die Dumawahlen das geeignetste sei. Die sogenannten „Politiker" traten für das allgemeine Wahlrecht als eine traurige Notwendigkeit ein, wogegen der Graf bemüht war, die Vorzüge einer allmählichen Vervollkommnung des genialen Bulyginschen Systems zu beweisen. Zu irgend einem Resultat kam man nicht, und vom 4. Dezember an sehen wir den Ministerrat auch ohne die Mithelfe der Herren „Politiker" auskommen. Am 5. Dezember überreichte die Semstwodeputation, bestehend aus den Herren Petrunkjewitsch, Muromzew und Kokoschkin, dem Grafen Witte die Note der Semstwokonferenz und kehrte, nachdem sie volle acht Tage vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte, mit Schimpf und Schande nach Moskau zurück. Hinterher traf die Antwort des Grafen ein, die auf den hochfahrenden Ton eines zarischen Großwürdenträgers abgestimmt war. „Die Aufgabe des Ministerrats bestehe vor allem in der Vollziehung des aller,höchsten Willens; alles, was über die Grenzen des Manifestes vom 30. Oktober hinausgehe, müsse ausgeschaltet werden; die Ausnahmezustände könne man im Hinblick aus die Wirren nicht beseitigen; in Bezug auf diejenigen Gruppen der Gesellschaft, die nicht gewillt seien, die Regierung zu unterstützen, interessiere sich diese letztere nur dafür, dass sie sich über die Folgen ihres Verhaltens die nötige Klarheit schaffen möchten .…"

Als Gegengewicht gegen die Semstwokonferenz, die bei aller ihrer Zagheit und Schlappheit dennoch im Vergleich zu der wirklichen Stimmung der Semstwos und der Duma unzweifelhaft weit nach links abwich, wurde am 7. Dezember nach Zarskoje Selo eine Deputation des Tulaer Gouvernements-Semstwo gebracht. Der Führer der Deputation Graf Bobrinski sagte in seiner byzantinisch-speichelleckerischen Rede unter anderem Folgendes, „Größere Rechte brauchen wir nicht, denn die zarische Gewalt muss zu unserm eigenen Wohle stark und wirklich sein … Sire, Welches die Bedürfnisse des Volkes sind, werden Sie nicht aus zufälligen Rufen und Schreien erfahren, sondern diese Wahrheit werden Sie von der von Ihnen einberufenen Reichsduma hören. Wir flehen Sie an, zögern Sie nicht mit ihrer Einberufung. Der Wahlerlass vom 19. August ist dem Volke bereits innig vertraut geworden."

Es war, als ob die Ereignisse sich verabredet hätten, den Zug der besitzenden Klassen in das Lager der Ordnung zu beschleunigen.

Noch Ende November war ganz unerwartet und spontan der Post- und Telegraphenbeamtenstreik ausgebrochen. Er bildete die Antwort der aus dem Schlafe erwachten Heloten vom Postressort auf das Rundschreiben Durnowos, das den Beamten den Zusammenschluss zu irgend welchen Verbänden untersagte. Graf Witte erhielt von dem Verband der Post- und Telegraphenbeamten folgendes Ultimatum: Das Rundschreiben Durnowos aufzuheben und sämtliche Beamte, die wegen Zugehörigkeit zu der Organisation entlassen worden waren, wieder in den Dienst einzustellen. Am 28. November fasst die Post- und Telegraphenbeamtenkonferenz in Moskau, die durch 73 Delegierte beschickt war, den einstimmigen Beschluss, an alle Linien folgendes Telegramm abzusenden: „Antwort von Witte nicht eingetroffen. Streikt." Die Spannung war so groß, dass in Sibirien der Streik noch vor Ablauf der im Telegramm angegebenen Frist einsetzte. Am folgenden Tage ergoss sich der Ausstand unter dem Beifallsklatschen der breiten Schichten des fortschrittlichen Beamtentums über das ganze Land. Witte setzte den verschiedenen Deputationen tiefsinnig auseinander, dass die Regierung eine solche Wendung der Dinge „nicht erwartet" habe. Die Liberalen wurden beunruhigt ob des Schadens, den die Einstellung des Postverkehrs der „Kultur" zusetze und machten sich mit gefurchter Stirn an tiefgründige Untersuchungen über die „Grenzen der Koalitionsfreiheit in Frankreich und Deutschland". … Der Petersburger Arbeiterdelegiertenrat war keinen Augenblick lang in seiner Haltung schwankend, und wenn auch der Post- und Telegraphenbeamtenstreik nicht der Initiative des Rats entsprang, so wurde er doch in Petersburg unter seiner tätigen Unterstützung durchgeführt. Aus der Kasse des Rats wurden zu Streikzwecken 2000 Rubel entnommen, das Exekutivkomitee schickte in die Versammlungen der Streikenden seine Redner, druckte ihre Aufrufe und organisierte Patrouillen gegen Streikbrecher. Es lässt sich schwer sagen, welche Wirkung diese Taktik auf die „Kultur" hatte; unzweifelhaft fest steht aber, dass sie dem Proletariat die allgemeinen Sympathien des entrechteten Beamtentums eintrug. Schon zu Beginn des Streiks entsandte der Verband der Post- und Telegraphenbeamten fünf Delegierte in den Rat …

Die Einstellung des Postverkehrs war ein harter Schlag – wenn nicht gerade für die Kultur, so doch für den Handel. Die Kaufmannschaft und die Börse rannten in ihrer Rat- und Hilflosigkeit zwischen dem Streikkomitee und dem Ministerium hin und her, bald flehten sie die Beamten an, den Streik zu beenden, bald forderten sie Repressivmaßnahmen gegen die Ausständigen. Unter dem Einflusse von immer neuen, dem Geldbeutel zugefügten Wunden erstarkte in den kapitalistischen Klassen die Reaktion mit jedem Tage mehr und mehr. Zugleich wuchs auch von Stunde zu Stunde die reaktionäre Schamlosigkeit der Verschwörer von Zarskoje Selo.

Wenn noch vorläufig irgend etwas den Vorstoß der Reaktion zurückhielt, so nur die Angst vor der Katastrophe, der unausbleiblichen Antwort der Revolution Dies zeigte mit vortrefflicher Anschaulichkeit ein Vorfall, der sich im Anschluss an das Urteil abspielte, welches das Kriegsgericht in der mittelasiatischen Festung Kuschka gegen einige Eisenbahnbedienstete fällte. Dieser Vorfall ist an sich so sehr bemerkenswert, dass wir ihn hier kurz wiedergeben wollen.

Am 6. Dezember, während der heißesten Periode des Post- und Telegraphenbeamtenstreiks, erhielt das Komitee des Petersburger Eisenbahnknotenpunktes aus Kuschka die telegraphische Nachricht, dass der Festungskommandant den Ingenieur Sekolow und einige andere Angestellte wegen revolutionärer Propaganda dem Feldkriegsgerichte übergeben hätte, das sie zum Tode verurteilt und die Vollstreckung des Urteils auf 12 Uhr in der Nacht zum 7. Dezember festgesetzt habe. Der streikende Draht verband in wenigen Stunden alle Knotenpunkte miteinander. Die Eisenbahnerarmee stellte ein Dringlichkeitsultimatum an die Regierung. „In Übereinstimmung mit dem Exekutivkomitee des Delegiertenrats lässt der Eisenbahnerverband das Ministerium wissen: wenn das Todesurteil bis 8 Uhr abends nicht zurückgenommen wird, stellen alle Eisenbahnlinien den Verkehr ein.

Der Verfasser dieses Buches erinnert sich noch lebhaft jener bedeutsamen Sitzung des Exekutivkomitees, in der, während man die Antwort der Regierung erwartete, der Aktionsplan ausgearbeitet wurde. Gespannt folgten alle Blicke dem Vorrücken des Uhrzeigers. Einer nach dem andern kamen die verschiedenen Eisenbahndelegierten und meldeten immer neue Linien, die sich telegraphisch dem Ultimatum angeschlossen hätten. Es war klar, dass, wenn die Regierung nicht nachgab, ein verzweifelter Kampf bevorstand,. … Und siehe da! Fünf Minuten nach acht Uhr – nur dreihundert Sekunden wagte die zarische Regierung zur Rettung ihres Prestiges die Antwort hinauszuschieben! – traf ein Eiltelegramm des Verkehrsministers ein, in dem das Eisenbahnkomitee in Kenntnis gesetzt wurde, dass die Vollstreckung des Urteils ausgesetzt sei. Am folgenden Tage machte das Ministerium selbst in einem Regierungskommuniqué seine Kapitulation bekannt. Es habe „eine Bitte (!) um Aufhebung des Urteils erhalten, mit dem Ausdruck der Absicht (!), im Falle der Nichterfüllung den Streik zu proklamieren.'' Von den örtlichen Militärbehörden habe die Regierung keine Nachricht erhalten, was „vermutlich in dem Streik des Regierungstelegraphen seine Erklärung finde." Jedenfalls habe der Minister „sofort nach dem Eintreffen telegraphischer Nachrichten" die Verfügung getroffen, „bis zur Aufklärung des Sachverhalts die Vollstreckung des Urteils auszusetzen, wenn ein solches tatsächlich gefällt worden sei." Die offizielle Mitteilung verschweigt nur, dass der Kriegsminister, um dem Kommandanten von Kuschka seinen Befehl zu übermitteln, die Hilfe des Eisenbahnerverbandes in Anspruch nehmen musste, denn für die Regierung selbst war der streikende Telegraph vollkommen unzugänglich.

Dieser schöne Sieg ist indes der letzte Sieg der Revolution geblieben und in der Folge sollte sie nur noch Niederlagen erleiden. Ihre Organisationen wurden zunächst einem Vorpostenfeuer unterworfen. Es trat mit unheimlicher Deutlichkeit klar zutage, dass man eine schonungslose Attacke gegen sie vorbereitete und nur auf den günstigen Augenblick lauerte.

Noch am 27. November wurde in Moskau das Büro des Bauernbundes unter Berufung auf die Bestimmungen des verstärkten Schutzes verhaftet. Um die gleiche Zeit etwa wurde in Zarskoje Selo die Verhaftung des Vorsitzenden des Petersburger Arbeiter-Delegiertenrates beschlossen. Indes die Administration zögerte mit der Ausführung dieses Beschlusses. Sie fühlte sich noch nicht sicher genug, sondierte das Terrain und schwankte. Es war der Justizminister selbst, bei dem die Verschwörung von Zarskoje Selo auf Widerstand stieß. Seine Gegenargumente gingen dahin, dass der Delegiertenrat nicht unter den Begriff eines Geheimbunds falle, da er vollkommen offen handle, die Sitzungen der breitesten Öffentlichkeit bekannt gebe, seine Berichte in den Zeitungen erschienen und er sogar zu Administrativpersonen Beziehungen unterhalte. Die informierte Presse gab den Standpunkt des Justizministers wie folgt wieder: „Der Umstand, dass weder die Regierung noch die Administration irgend welche Maßnahmen trafen, um den auf den Sturz der bestehenden Ordnung gerichteten Bestrebungen ein Ende zu machen; dass die Administration sogar häufig Patrouillen zur Aufrechterhaltung der Ordnung an den Sitzungsort des Rates entsandte; dass selbst der Petersburger Stadthauptmann den Vorsitzenden des Rats Chrustaljow in Audienz empfing, obwohl er sehr wohl wusste, wer jener sei und in welcher Eigenschaft er zu ihm komme – dies alles berechtigte die Mitglieder des Delegiertenrates zu der Annahme, dass ihre Tätigkeit dem Kurs, der in den Regierungssphären herrsche, keineswegs zuwiderlaufe und daher nichts weniger als verbrecherisch sei.” Schließlich gelang es aber dem Justizminister, ein Mittel zu finden, um über seine rechtlichen Bedenken hinwegzukommen. Am 9. Dezember wurde Chrustaljow in dem Lokal des Exekutivkomitees in Haft genommen.

Ein paar Worte über die Bedeutung des Geschehenen. In der zweiten Sitzung des Delegiertenrats, die am 27. Oktober stattfand, wurde auf Vorschlag des Vertreters der sozialdemokratischen Organisation zum Vorsitzenden der junge Advokat Georgij Nossar gewählt, der bald darauf unter dem Namen Chrustaljow zu großer Popularität gelangte. Er behielt den Vorsitz bis zum Tage seiner Verhaftung, dem 9. Dezember, und in seiner Hand liefen alle organisatorischen Fäden der praktischen Tätigkeit des Rats zusammen. Die radikale Straßenpresse auf der einen und die reaktionäre Polizeipresse auf der andern Seite woben im Laufe weniger Wochen eine historische Legende um die Gestalt Chrustaljows. Wie ihnen seinerzeit der 22. Januar als Frucht der tief durchdachten Pläne und des Demagogengenies Georgij Gapons erschienen war, so malte sich jetzt in ihrem Hirn der Arbeiter-Delegiertenrat nur als die biegsame Waffe in den Titanenhänden Georgij Nossars. Der Irrtum war in dem zweiten Falle noch gröber und dümmer als in dem ersten. Denn wenn auch die Tätigkeit, die Chrustaljow als Vorsitzender des Rats entwickelte, ungemein reicher und gehaltvoller war als die Abenteurertätigkeit Gapons, so reichte der persönliche Einfluss des Vorsitzenden des Rats auf den Gang und den Ausgang der Ereignisse lange nicht an den Einfluss heran, den der rebellische Pfaffe aus dem Polizeidepartement mit einem Schlage gewonnen hatte. Das ist nicht die Schuld Chrustaljows, sondern das Verdienst der Revolution. In dem Zeitraum von Januar bis Oktober hatte sie das Proletariat Russlands eine gewaltige politische Schule durchmachen lassen. Die Formel „Held und Menge” fand in der revolutionären Praxis der Arbeitermassen keine Anwendung mehr. Die Persönlichkeit des Führers löste sich in der Organisation auf und die geeinigte Masse wurde selbst zu einer politischen Persönlichkeit.

Von großer Findigkeit und Regsamkeit in praktischen Dingen, als Vorsitzender energisch und geschickt, kein großer Redner, aber eine impulsive Natur, ein Mann ohne politische Vergangenheit und ohne politische Physiognomie, zeigte sich Chrustaljow wie geschaffen für die Rolle, die ihm Ende des Jahres 1905 zufiel. Wenn auch die Arbeitermassen revolutionär gestimmt waren und ein aus geprägtes Klassengefühl zeigten, so ging ihnen dennoch in der Mehrheit eine klar ausgesprochene Parteiphysiognomie ab. Was wir oben von dem Rat selbst gesagt haben, lässt sich auch auf Chrustaljow anwenden. Alle Sozialisten mit einer politischen Vergangenheit waren Parteileute und die Kandidatur eines Parteimanns hätte schon in dem Moment der Entstehung des Rats zu Reibungen in seiner Mitte Anlass gegeben. Auf der anderen Seite erleichterte eben diese politische Undestimmtheit Chrustaljows dem Delegiertenrat die Beziehungen zu den nichtproletarischen Schichten, insbesondere den Organisationen der Intelligenz, die dem Rate nicht unerhebliche materielle Unterstützungen zuwandten. Indem sie den Vorsitz einem Parteilosen anvertraute, baute die Sozialdemokratie auf ihre politische Kontrolle. Eine Spekulation, die nicht fehlschlug, denn schon drei bis vier Wochen später äußerte sich das kolossale Wachstum ihres Einflusses und ihrer Kräfte unter andrem darin, dass Chrustaljow öffentlich seinen Anschluss an die Sozialdemokratie erklärte.

Was bezweckte die Regierung mit der Verhaftung Chrustaljows? Hoffte sie durch die Beseitigung des Vorsitzenden die Organisation zu vernichten? Ein solcher Gedanke wäre selbst für einen Durnowo zu blöde. Die Frage nach den Motiven bestimmt zu beantworten, ist schon deswegen schwierig, weil sie höchstwahrscheinlich den Mitgliedern der reaktionären Verschwörung selbst wenig klar waren, die sich in Zarskoje Selo versammeltem um das Schicksal der Revolution zu entscheiden und nur eine einzelne Gendarmenmaßregel zur Welt brachten. Wie dem auch sei, die Verhaftung des Vorsitzenden unter den Umständen, unter denen sie vollzogen wurde, gewann für den Rat eine gewaltige symptomatische Bedeutung. Für Jeden, der noch am Vorabend daran zweifeln konnte, wurde es jetzt sonnenklar, dass es für beide Teile kein Zurückweichen mehr gab, dass der entscheidende Zusammenstoß unvermeidlich geworden sei und dass uns von ihm nicht Monate und nicht Wochen, sondern nur noch Tage trennten.

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