Leo Trotzki‎ > ‎1918‎ > ‎

Leo Trotzki 19181003 Die internationale Lage

Leo Trotzki: Die internationale Lage

Rede auf einer gemeinsamen Sondersitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer und der Bezirkssowjets, von Vertreter von Fabrik- und Betriebskomitees und Gewerkschaften

3. Oktober 1918

[Leo Trozki: Kak wooruschalas rewoljuzija. Band 1. Moskau 1923, S. 366-374, verglichen mit der englischen Übersetzung]

Die südöstliche Extremität Europas, die Balkanhalbinsel, gibt uns ein Bild von monströsen wirtschaftlichen und nationalen Verschlingungen, Antagonismen und Kämpfen. All diese Widersprüche und Zusammenstöße, die das kapitalistische Europa zerreißen, sind im verkleinerten Maßstab in dem kleinen Raum der Balkanhalbinsel vertreten. Und da diese Halbinsel in ihren wirtschaftlichen Beziehungen ein rückständiger Teil Europas ist und daher die Begierden der großen Räuber der Großmächte anzieht, sind die Interessen und Antagonismen des Balkans kompliziert, kreuzen sich und wachsen unter dem Druck der Widersprüche von ganz Europa an. Die Balkanhalbinsel. wurde ein Wespennest1 der europäischen Politik, ein brodelnder Kessel, aus dem von Zeit zu Zeit die Feuerzungen des europäischen Vulkans und Weltgemetzels ausbrachen oder auszubrechen drohten.

Im Jahr 1912 war die Balkanhalbinsel die Arena der Balkankriege zwischen der Türkei2, Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro, die zu dieser Zeit Verbündete waren. Schon damals prophezeiten die revolutionären Sozialisten, dass die blutige Rauferei auf dem Balkan nur der Vorabend, der Vorbote eines großen Weltkrieges sei.

Im Jahr 1914 begann dieser große Krieg. Es kam von dort, aus der gleichen südöstlichen Ecke Europas, von der Balkanhalbinsel. Der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien war der Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung der Ereignisse, und wir sehen jetzt eine neue Wendung in diesem europäischen und Weltgemetzel und gleichzeitig den Beginn einer neuen Wendung in der Weltgeschichte auch auf der Balkanhalbinsel, wo – ich wiederhole es – in verkleinertem Maßstab, alle Flüche der kapitalistischen Welt konzentriert ist.

Im ersten Moment des Krieges sahen wir im Zentrum der Ereignisse Serbien. Die monströse Überlegenheit Deutschlands und Österreich-Ungarns, die in ihrem Bündnis unbesiegbar schienen, beeinflusste in erster Linie die Niederlage Serbiens. Es sah so aus, als würde Bulgarien als Söldner der Mittelmächte das beherrschende Land auf der Balkanhalbinsel werden. Aber jetzt sehen wir, dass der Abfall Bulgariens natürlich nicht die Ursache ist, aber der äußere und lebendige Ausdruck der scharfen Wendung der Schicksale des imperialistischen Gemetzels.

In der ersten Kriegszeit dominierte Deutschland, seine Herrschaft wuchs unaufhörlich, und es gewöhnte die ganze Welt daran, an die Unverletzlichkeit seiner militärisch-imperialistischen Herrschaft zu glauben, seine Überlegenheit wurde durch die Vortrefflichkeit seiner kapitalistischen Technik bestimmt, indem sie unvergleichliche Massenvernichtungsmaschinen schuf, mit seiner Maschine des Militarismus kam er gleich – mehr als gleich! – der Anzahl und den Reichtum seiner Feinde.

Am anderen Pol, im anderen Lager, hatte nur Frankreich eine zentralisierte Armee mit militärischen Traditionen. England war gezwungen, sich mit militärischer Improvisation zu befassen, d. h. eine Armee aus dem Nichts zu schaffen. Deshalb gehörte die gesamte erste Kriegsperiode Deutschland. Seine Militärindustrie, die kastenmäßigere Organisation des deutschen Adels, die größere Disziplin, die Intelligenz3 des deutschen Volkes – all dies schuf in der Verbindung eine solche Kriegsmaschinerie, vor der die vereinten Kräfte Frankreichs, Italiens, Russlands und anderer kleinerer verbündeter Staaten passen mussten. Dann traten mit großer Verzögerung die Vereinigten Staaten von Amerika hervor, ohne eine große Armee, aber mit mächtiger Technik.

Zu diesem Moment war die monströse Maschine des deutschen Imperialismus schon verschlissen, und vor allem waren die Arbeitskräfte und die Vernichtungsfabriken verschlissen; auf der anderen Seite lebte und entwickelte sich die militärische Macht Englands und Amerikas, weil sie einen Markt geschaffen hatten, in den ihr Menschenmaterial fiel4, und dann wandten die Vereinigten Staaten ihre militärische Macht, die Vernichtungsmaschinen gegen Deutschland, und das nicht, weil es von den Arbeitern und Bauern in die militärische Bewegung gebracht worden wäre. Nein, während der ersten drei Kriegsjahre stand Amerika abseits, der amerikanische Shylock versorgte Europa mit Werkzeugen und Vernichtungswaffen, und erst als der deutsche uneingeschränkte U-Boot-Krieg den Zugang der amerikanischen Produktion zum Markt der Ententeländer abzuschneiden drohte, forderte der amerikanische Shylock, dass ein Binnenmarkt für Kanonen, Geschosse, Gewehre geschaffen werde, die sich an der Küste Amerikas ansammelten, da es keinen Export nach Europa gab. Hier entstand der letzte Impuls, entwickelt von der amerikanischen Diplomatie, der Amerika auf den Weg eines neuen Abenteuers brachte, und auf dieser Grundlage spielte Amerika eine große Rolle bei der Entwicklung des europäischen Krieges. Es stimmt, in Deutschland gab es ein borniertes Junkertum, das durch Gedankenlosigkeit den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg begrüßte. Wir werden mit einem Schlag mit allen Feinden fertig werden, d.h. mit den Weltkonkurrenten, sagten sie, aber sie verrechneten sich. Die in ihrer Stärke ungeheuerliche amerikanische Maschine war kolossal in ihren Ressourcen, und das wurde nur von jenen Leuten verstanden, die sich des Charakters der Ereignisse bewusst waren, die eine klare, nüchterne, politische Sicht bewahrten und Ereignisse aus der Sicht des historischen Materialismus bewerteten. Jetzt, wo wir, die Marxisten, zurückblicken auf den Weg, den wir zurückgelegt haben und das Programm untersuchen, das die Imperialisten, ihre Lakaien, die Demokraten, und die Lakaien ihrer Lakaien, die Scheidemannianer, Renaudelianer entwickelt haben, sehen wir, dass diese 4 Jahre nicht nur mit Leichen von Arbeitern, die in diesem Kampf starben, bedeckt sind, sondern auch mit den Leichen verschiedener Programme, Pläne und Theorien.

Im Weltkreuzfeuer überlebte nur das Programm jener Leute, die ihre fünf Sinne nicht verloren haben. Man kann sagen, dass nur wir, die Materialisten, die Natur der Ereignisse sahen und ihren Ausgang vorhersagten. Die Geschichte geht vielleicht gegen unseren Wunsch, aber entlang der Linie, die wir gezeichnet haben. Und obwohl auf diesem Weg viele Opfer gebracht wurden, wird das Ende sein, das von uns vorhergesehen wurde: der Schiffbruch aller Götter des Imperialismus und Kapitalismus. Die Geschichte scheint sich das Ziel gesetzt zu haben, der Menschheit die letzte, anschauliche Lehre zu geben. Die Werktätigen waren sozusagen zu faul, unbeweglich und unentschlossen. Natürlich hätten wir diesen Krieg nicht gehabt, wenn die Arbeiterklasse der Welt 1914 selbst genug Entschlossenheit gefunden hätte, sich den Imperialisten aller Länder entgegenzustellen. Aber das ist nicht geschehen – die Arbeiterklasse brauchte eine extra grausame Lektion in der Geschichte. Und so brachte diese das mächtigste und am besten organisierte Land in die Arena und gab ihm die Möglichkeit, sich auf eine beispiellose Höhe zu erheben. Deutschland diktierte der ganzen Welt seinen Willen durch die Mündungen seiner 42-Zoll-Geschütze. Es versklavte, wie es schien, für eine unbestimmte Zeit ganz Europa, es nahm eine große Fläche Frankreichs ein, seine unzähligen Unterseeboote untergruben die britische Seemacht; es schien, dass die Herrschaft Deutschlands für ganze Generationen konsolidiert sei, wenn nicht für immer. Die Geschichte, die dem deutschen Kapitalismus unvergleichliche Macht schickte, schien den Arbeitern Deutschlands zu sagen: Du bist ein Sklave, du wagst es nicht, den Kopf zu heben, deinen Nacken vom Joch des Kapitalismus zu befreien. Schaut, dieses Kapital, das mit den Produkten eurer Arbeit bewaffnet ist, das die ganze Welt beherrscht, wird morgen über alle anderen Planeten herrschen, und seine Macht hat kein Ende; und dann stürzte die gleiche Geschichte, die den deutschen Imperialismus auf schwindelerregende Höhe erhob und das Bewusstsein der Massen hypnotisierte, ihn von dieser Höhe mit katastrophaler Schnelligkeit in den Abgrund der Demütigung und der Ohnmacht, als ob sie sagen wollte: seht, wie er zerstört wird, säubert seine Reste aus ganz Europa, aus der ganzen Welt. – So spricht die Geschichte.

Wir erlebten eine schreckliche Ära der uneingeschränkten Herrschaft des deutschen Imperialismus. Ich hatte die Gelegenheit, im ZEK an eine kleine Episode zu erinnern, die mit der Art und Weise zusammenhing, wie der Vertreter des allmächtigen Deutschland mit einer ironischen, bösartigen Intonation von Russland sprach, als er es als mächtig bezeichnete. Mit dem einem Wort: „mächtiges Russland", sagte er gedanklich und transparent folgendes: „Hier seid ihr, fast 200 Millionen Russen, die einst als mächtige Macht betrachtet wurden, und jetzt seid ihr unter unserer Ferse, und wir diktieren unseren Willen."

Indessen empfindet trotz all dem keiner von uns Schadenfreude, dass Deutschland eine kolossale Katastrophe erleidet.

Wir werden in dem Augenblick voller Freude sein, wenn diese Katastrophe das Los des Militarismus und des Kapitalismus als Ganzes wird, und wenn das Urteil der Geschichte nicht von anglo-französischen und amerikanischen Kanonen, sondern von Kanonen des aufständischen revolutionären Proletariats durchgesetzt wird. Wir wissen, dass sich jetzt vorläufig die Sache um die Verlagerung der Kräfte von einem Lager in ein anderes handelt, und, wie im Brief Wladimir Iljitschs bemerkt, kann und muss die katastrophale Schwächung Deutschlands in den nächsten Tagen, Wochen, im schlimmsten Fall der Ereignisse, den kommenden Monaten, zu einer Zunahme der Stärke, Unverschämtheit, Raubgier des anglo-französischen und japanisch-amerikanischen Imperialismus führen. Der eine ist uns feindlich gesinnt wie der andere, und selbst jetzt, selbst mit einer radikalen Veränderung der internationalen Lage, sind wir von einem Bündnis mit dem siegenden anglo-französischen Imperialismus so weit entfernt wie gestern von dem deutschen. Wir bleiben unabhängig von beiden Seiten, als unabhängige Kraft, als Abteilung der bevorstehenden proletarischen Weltrevolution. Wir sagen: Lasst die englisch-französischen und japanisch-amerikanischen Schicksalsführer nicht arbeiten, um den Sieg auszuweiten, wie von Kühlmann es in Brest-Litowsk ausgedrückt hat. Die Geschichte hat in der Person Hoffmanns noch nicht das letzte Wort gesagt, in dem Sinne, dass nur Verträge das Schicksal der Völker bestimmen würden.

Auch wenn wir die Vereinbarungen und Verpflichtungen, die wir schließen, ernst nehmen, müssen wir gleichzeitig sagen und sagen wir, dass die Schicksale der Völker in Deutschland, der Ukraine, Polen, dem Baltikum und Finnland nicht von einem Dokument abhängen können, das in einem bestimmten Moment der politischen Entwicklung geschrieben wurde.

Neue Kräfte entfalten sich in Deutschland und jenseits seiner Grenzen und wir zweifeln nicht, dass die Stunde nahe ist, in der der Brest-Litowsker Vertrag von diesen nach Macht strebenden Kräften revidiert wird. Der Vertreter dieser Kraft in Deutschland ist die Arbeiterklasse. Die Tatsache, dass der kapitulierende Absolutismus Deutschlands sich an den Volksparlamentarismus wendet, bedeutet den Krach jener gerissenen Geschäftemacher, die an der Spitze standen, und jener, die ihnen dienten. Wenn bei uns vor anderthalb Jahren, im Februar 1917, die Kadetten zusammen mit den Sozialrevolutionären und den Menschewiki an der Macht erschienen, und wenn die letzteren, völlig frisch, gerade von den Barrikaden herabgestiegen, nur acht Monate brauchten, um ihre Kraft, ihren Ruf aufzubrauchen und zu durchlöchern und Platz zu machen, dann werden die deutschen Zereteli dafür nicht 8 Monate, sondern 8 Wochen brauchen. Darum, wenn unsere Sowjetmacht gefragt wird – und man hat Grund zu fragen –, wie sie die Aussichten bewertet, die sich vor Deutschland eröffnen, und was sie über das Schicksal des Vertrags von Brest denkt, dann antwortet die Sowjetmacht, dass die deutsche Regierung selbst ihre Unfähigkeit vermeldet, in der gegenwärtigen Situation – sowohl in der Welt als auch im Inneren – mit der Lage der Dinge fertig zu werden.

Was wird kommen, die Regierung abzulösen: das deutsche klerikale Zentrum, die Konservativen, die Nationalliberalen oder die Versöhnler? Aber der rechte Flügel führte das Schicksal Deutschlands bereits durch seine Monarchen, Bürokraten und durch sein Junkertum, und der linke Flügel der neuen zukünftigen Regierung wischte alle Schmutzspuren hinter dem rechten Flügel auf. Was wird diese neue deutsche Koalition bringen? Sie wird den Volksmassen die Augen öffnen.

So können wir in unserer internationalen Politik nicht ernsthaft mit der Koalitionsregierung Deutschlands als mit einer Kraft rechnen, die im Verlauf einer langen Zeitperiode das Schicksal ihres Landes bestimmen kann.

Welche Kraft wird bleiben? In Beziehung auf Deutschland ist die Idee einer Einheitsfront der ganzen Demokratie noch mehr als in Beziehung auf Russland eine klägliche, sinnlose, bedeutungslose – verzeihen Sie, schwächliche Utopie. Was ist in Deutschland die Demokratie5? Es gibt fast keine Demokratie6. Es gab erbärmliche Überreste des Kleinbürgertums mit erbärmlichen Überresten seines politischen Einflusses. Der gnadenlose imperialistische Krieg ruinierte und tötete schließlich das Kleinbürgertum und ließ von seinem Einfluss keinen Stein auf dem anderen.

Es gibt nur zwei Lager: das eine ist das bewusste, feste Lager der Imperialisten, das andere ist das Lager des Proletariats, mit dem die Geschichte ein kolossales, grausames Experiment gemacht hat, das es einer schrecklichen Bewährungsprobe aussetzte und jetzt von Angesicht zu Angesicht vor folgende Aufgabe stellt: Entweder ihr nehmt das Schicksal eures Landes auf euch und nehmt die Macht in eure eigenen Hände, oder ihr werdet zusammen mit dem ganzen Land und der Kultur zugrunde gehen. Das sagte die Geschichte der deutschen Arbeiterklasse. Und wenn wir jetzt zutiefst davon überzeugt sind, dass die Geschichte für uns und mit uns und damit mit der deutschen Arbeiterklasse arbeitet, wenn wir nicht beabsichtigen, ihre Rettungsarbeit zu stören, dann verbergen wir vor niemandem, weder vor uns selbst noch vor der deutschen Arbeiterklasse, dass wir ihren kommenden Zug zur Macht erwarten und begrüßen. Zusammen damit anerkennen wir mit tiefem Vertrauen, dass die einzige deutsche Kraft, die die weitere wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung retten und verteidigen kann, gerade die deutsche Arbeiterklasse ist. Wenn sie die Macht erobern würde, würde das radikale und gewaltige Veränderungen in der gesamten Weltlage mit sich bringen. Deutschland würde sich zu einem starken Anziehungszentrum für die Sympathien der Völker, der unterdrückten Massen der ganzen Welt und vor allem Frankreichs verwandeln. Und ohne französische Kader, ohne französisches Territorium, als Kriegsschauplatz sind britische und amerikanische Truppen nicht in der Lage, Deutschland zu zermalmen, zu zertrümmern. Die französische Arbeiterklasse, die mehr als jede andere blutet, wartet in ihrem revolutionären Herzen nur auf das erste Signal aus Deutschland, um sich gegen ihre Herren zu erheben – gegen Clemenceau und andere. Man muss kein Prophet und Fantast sein, um zu sagen, dass am nächsten Tag, nachdem klar wird, dass die deutsche Arbeiterklasse die Hand nach der Macht ausstreckt, in den Straßen von Paris proletarische Barrikaden errichtet werden. Die Geschichte arbeitet für euch und für uns, also auch für die deutsche, für die französische und für die internationale Arbeiterklasse.

Wenn wir zurückblicken, sollten wir mit voller Genugtuung sagen, dass wir nicht von ungefähr durch große Schwierigkeiten, die viele als Demütigung eingeschätzt haben, die Sowjetmacht bis zu diesem Zeitpunkt gehalten haben. Ich glaube, es ist in dieser maßgeblichen Versammlung eine Pflicht zu sagen, dass zu der Zeit, als viele von uns, darunter auch ich, bezweifelten, ob es notwendig, ob es zulässig sei, den Frieden von Brest-Litowsk zu unterzeichnen, ob dies die Entwicklung der proletarischen Weltrevolution verzögern werde, nur Genosse Lenin gegen viele von uns mit Beharrlichkeit und unvergleichlichem Weitblick argumentierte, dass wir das durchmachen müssen, dass wir uns bis zur Revolution des Weltproletariats halten müssen. Und jetzt, vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse, müssen wir zugeben, dass das Recht nicht bei uns lag (lang anhaltende Ovationen). Wie auch immer die nächste Lage des europäischen und Weltschicksals sein wird, unsere Lage ist jetzt viel besser. Wir werden immer stärker, und unsere Feinde bluten aus allen Wunden, sie sind schwach, und diejenigen, die allmächtig erscheinen, werden heute oder morgen den gleichen Kreisbogen beschreiben, den Deutschland beschrieben hat, aber mit noch größerer Geschwindigkeit, denn wenn es in der Geschichte Wiederholungen gibt, dann geschehen sie mit immer größerem Tempo. Und der Fall Frankreichs, Amerikas und Japans wird, wenn er kommt, katastrophaler sein als der Österreichs und Deutschlands.

Natürlich werden wir nicht in der entstehenden günstigen Lage die Initiativen zu diesen oder jenen abenteuerlichen Hasardschritten auf uns nehmen, Deutschland im Bündnis mit England und Frankreich den Krieg zu erklären, um den extremen Vertretern des deutschen Militarismus zu helfen, die jetzt beabsichtigen, einen Aderlass zu machen und wie eine Herbstfliege das deutsche Volk schmerzhaft zu stechen. Nein, wir sind jetzt weit von politischen Abenteuern entfernt, mehr als wir es je zuvor waren, denn die Geschichte steht jetzt mehr als je zuvor auf unserer Seite.

Morgen wird der deutsche Militarismus noch schwächer sein, morgen werden wir stärker sein, also müssen wir uns nicht beeilen, künstlich, die Entwicklung der Geschichte beschleunigen, noch weniger Hand in Hand mit England, das den Wunsch hat, Deutschland zu zerstückeln und zu zerstören.

Beim Abschluss des Brest-Litowsker Friedens wurde uns vorgeworfen, die Ukraine übergeben zu haben. In der Tat war für uns einer der schwierigsten Momente, als wir einen Vertrag unterschreiben mussten, der die Ukraine der Macht Deutschlands und Österreich-Ungarns unterstellte. Heute erhalten wir Nachrichten von einem gut informierten Genossen über die Stimmung in der Ukraine. Ich zitiere einige der auffallendsten Mitteilungen: „Hier entsteht mehr und mehr eine revolutionäre Lage. Schon vor den jüngsten Ereignissen in Bulgarien und Deutschland, sobald bekannt wurde, dass Deutschland seine Truppen aus der Ukraine abziehen würde, wurde der Glaube universell, dass die Sowjetmacht hier triumphieren werde und in kürzester Zeit".

Und dann gibt es Berichte darüber, wie die prominentesten Vertreter der Rada sagen, dass natürlich keine andere Macht außer der Sowjetmacht in der Ukraine zu erwarten sei. Dann wird eine Reihe von Erscheinungsformen der revolutionären Bewegung in der Ukraine berichtet.

Aber außerdem schreibt ein Genosse, der gut informiert ist und gute Beziehungen hat, darüber, was in Bulgarien geschieht. Er berichtet, dass in Bulgarien Untergrundsowjets schon lange Zeit existierten und dass zwei sozialistische Abgeordnete, Lukansk und Dmitrijew, an die Front entsandt worden waren, die jetzt zu 5-6 Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Sie gehörten der Partei an, die den russischen Kommunisten entspricht. Dies ist ein kurzer Bericht über die Lage in der Ukraine und in Bulgarien.

Seinerzeit sagte man uns über die Ukraine, dass wir sie verloren hätten. Ja, vorübergehend verloren, um sie erneut zu finden, und dieses Mal stärker. Der ukrainische Arbeiter und Bauer hat eine harte Schule durchgemacht, und wenn sie jetzt zu den Sowjets kommen, werden sie so stark sein, dass keine Macht sie hindern kann. In der Panik von Brest wurde Sowjetrussland zerstückelt. Aber im Laufe der Ereignisse entwickelte es die größte revolutionäre Anziehungskraft. Wir haben keinen Zweifel, dass diese Anziehungskraft eine großartige Arbeit leisten wird. Wenn die deutsche Arbeiterklasse die Hand nach der Macht ausstreckt, und sie erlangt, wird sie auch eine starke Anziehungskraft entwickeln, und die kriminelle Hand des anglo-französischen Imperialismus wird durch Lähmung gebrochen sein und nicht widerstehen können.

Wenn das Proletariat Deutschlands den Versuch macht eine Offensive durchzuführen, wird es für Sowjetrussland eine große Pflicht sein, im revolutionären Kampf keine nationalen Grenzen zu kennen. Der revolutionäre Kampf des deutschen Volkes wird unser eigener Kampf sein. Dass sich Sowjetrussland nur als Avantgarde der deutschen und europäischen proletarischen Revolution fühlt, ist allen deutlich. Jedoch ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass das revolutionäre Deutschland innerhalb eines bestimmten Zeitraums, bestimmter Monate, die Banden des Imperialismus zurückschlagen muss. Und in Voraussicht darauf können wir mit Sicherheit sagen, dass das deutsche Proletariat mit all seiner Technik auf der einen Seite und unser unorganisiertes, aber an Naturreichtum reiches Russland mit 200 Millionen Einwohnern – auf der anderen – einen mächtigen Block darstellen, an dem alle Wellen des Imperialismus zerschellen werden. Bei euch können keine Verbündeten aus dem imperialistischen Lager sein. Das revolutionäre Lager der Proletarier, die in den offenen Kampf gegen den Imperialismus treten – das sind unsere Verbündeten. Liebknecht braucht keinen Vertrag mit uns abzuschließen, auch ohne dies werden wir ihm im Kampf mit aller Kraft und allen Mitteln helfen. Wir geben alles für den gemeinsamen proletarischen Weltkampf. In dem verlesenen Brief sagte Genosse Lenin klar und deutlich, dass wir uns bemühen sollten, eine Millionenarmee für die Verteidigung der Sowjetrepublik zu schaffen. Dieses Programm ist eng. Die Geschichte sagt: eure Aufgabe ist nicht nur eine Atempause, eure Aufgabe ist breiter geworden. In Deutschland und in ganz Mitteleuropa braut sich bereits eine Krise zusammen. Vielleicht ruft euch morgen die Arbeiterklasse Deutschlands zur Hilfe, und ihr schafft nicht eine Millionen-, ihr schafft eine Zwei-Millionen-Armee, denn eure Aufgabe hat sich auf das Doppelte, Dreifache vergrößert. Und wir sind bereit, doppelt, dreifach unsere Kräfte anzustrengen. Und sie nehmen von Tag zu Tag zu. Das deutsche Proletariat hat mehr Hunger als wir. Lasst es seine Hände nach der Macht ausstrecken, lasst es die Macht in seine Hände nehmen, und gestützt darauf wird es uns helfen, Eisenbahnen zu errichten, und wir werden aus dem Samara-Gouvernement, vom Don, wo ich unerschöpfliche Vorräte an Getreide sah, die Reichtümer an Getreide nehmen und sie auf brüderliche Weise mit der deutschen Arbeiterklasse teilen, für den Triumph des gemeinsamen Kampfes. Das ist der Wille der Arbeiterklasse Russlands und der armen Bauern, denn hier versammeln sich ihre maßgeblichen, einflussreichen Vertreter – die besten, die es in der russischen Republik gibt. Hier sind das Zentrale Exekutivkomitee, der Moskauer Sowjet, Vertreter der Gewerkschaften und Fabrik- und Betriebskomitees. All dies ist die Blüte und der Wille Russlands. Zur Zeit des Kampfes der deutschen Arbeiterklasse werden wir von ganzem Herzen dabei sein. Wie die Kommunarden dehnen wir unsere kommunistischen Anschauung auch auf die Arbeiterklasse Deutschlands aus. Alles was uns gehört, gehört ihnen. Unsere Kräfte und unser Getreide sind ihre Kräfte und ihre Getreide für die gemeinsame proletarische Revolution.

Natürlich, Genossen, wird unsere morgen entstehende Union mit dem neuen werktätigen revolutionären Deutschland gefestigt werden. Und selbstverständlich richtet sich diese Union in keiner Weise gegen das Proletariat und die werktätigen Völker in Frankreich, Großbritannien, Amerika oder Japan. Das versteht ihr, und – was noch wichtiger ist – zu unserem Glück verstehen das alle revolutionären Arbeiter der Entente-Länder ausgezeichnet. In einer Zeit – und diese Stunde naht –, in der durch Europa die Hauptgrenze, der Hauptschützengraben zwischen den Kräften der proletarischen Revolution und des Militarismus verläuft, werden die französischen Arbeiter, die englischen Arbeiter, die Blüte des amerikanischen Proletariats und der japanischen Arbeiter auf der Seite stehen, auf der wir die Union Sowjetrusslands und des proletarischen Deutschland schaffen. Und dies ist die einzige Möglichkeit, der einzige Weg, dieses verdammte Gemetzel zu beenden.

All unsere düsteren Vorhersagen, unsere schrecklichen Anschuldigungen wurden nicht nur bestätigt, sie erwiesen sich als von der Realität übertroffen. „Wir", sagten die Imperialisten, „versichern, dass wir die schwachen, armen, unterdrückten, kleinen Völkerschaften befreien werden." Schaut, all die kleinen Staaten – Nationen liegen zerrissen, niedergeschlagen. Bulgarien plünderte, was es konnte, von Serbien und Griechenland. Die Türkei plünderte, was es konnte, bei uns im Kaukasus. Bulgarien, das sich gestern in eine deutsche Provinz verwandelte, verwandelt sich nun in eine englische Kolonie. Die Türkei auch! Und gerade heute erhielten wir die Meldung, dass die Türkei der britischen Flotte ihre Meerengen öffnet. Dies bedeutet, dass Konstantinopel eine Stadt wird, in der der englische Gouverneur sitzen wird. Es bedeutet, dass die Herrschaft Englands gegenüber denen errichtet wird, die gestern im Bündnis mit Deutschland standen. Der gestrige Freund Deutschlands verwandelt sich heute in einen erbärmlichen, ohnmächtigen, gekreuzigten Vasallen Englands. Für alle schwachen, für alle unterdrückten Nationen, Völker, kleinen Staaten und vor allem für die arbeitenden Massen von ihnen und den mächtigen Nationen gibt es keinen Ausweg aus diesem Massaker, außer auf dem Weg der Verschiebung militärischer Kräfte von einem Lager zum anderen. Wir haben dies vorhergesagt, als wir die Geheimverträge veröffentlichten, als wir den räuberischen Militarismus und Imperialismus verurteilten. Und wir können jetzt den Arbeitern Deutschlands sagen, wenn sie vor einem Jahr die Kraft gehabt hätten, ihre herrschenden Klassen zu entfernen und Frieden auf den von der Arbeiterklasse proklamierten Grundlage zu schließen, wären die Arbeiter von Frankreich, Großbritannien und Japan reicher und glücklicher. Wir hätten einen kolossalen Schritt vorwärts gemacht in Richtung Fortschritt, Menschlichkeit. In diesem Jahr wurden Millionen neue Leben und neue Milliarden von Reichtümern verbrannt. Aber die Lektion war nicht verschwendet. Wir bleiben, wo wir sind, während andere euch näher kamen. Unser Feind ist schwächer geworden, und wir sagen daher: Das Banner der Sowjetmacht schwingt sich höher hinauf, wir müssen mit aller Entschlossenheit kämpfen, wir sind stärker geworden, wir haben mehr Freunde, und zu uns kommen die Arbeiter Deutschlands, Englands, Frankreichs und aller Länder. Unser Banner erhebt sich über Europa – das Banner der internationalen Republik der Arbeit.

1In der englischen Übersetzung: „Hornissennest“

2In der englischen Übersetzung eingefügt: „auf der einen Seite, auf der anderen Seite“

3In der englischen Übersetzung: „Schulung“

4In der englischen Übersetzung: „strömte“

5In der englischen Übersetzung: „demokratische Bewegung“

6In der englischen Übersetzung: „Solch eine Bewegung gibt es in Deutschland fast gar nicht.“

Kommentare