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Prager Konferenz

Die Allrussische Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands im Januar 1912 fand in Prag statt. Es waren auf ihr fast ausschließlich Bolschewiki vertreten (unter den Delegierten gab es nur zwei bis drei Anhänger Plechanows). Diese Konferenz war von großer historischer Bedeutung. Sie vollzog den formellen Bruch mit den Menschewiki, schloss die Liquidatoren aus der Partei aus, stellte faktisch die revolutionäre Partei des Proletariats wieder her, indem sie alle in Russland tätigen sozialdemokratischen Organisationen zusammenfasste und ein neues (bolschewistisches) Zentralkomitee schuf. Daher nannten die Bolschewiki auch ihre Partei in der Folge Sozialdemokratische Partei des Zentralkomitees. [Lenin, Sämtliche Werke, Band 20.1, Anm. 15]

Die Reichskonferenz der SDAPR, deren wichtigste Resolutionen hier abgedruckt werden, fand vom 18./31. Januar bis zum 30. Januar/12. Februar 1912 in Prag statt. Wie aus den weiter oben abgedruckten Artikeln Lenins „Die Lösung der Parteikrise“ und „Über die neue Fraktion der Versöhnler oder der Tugendhaften“ und auch aus den Anmerkungen zu diesen Artikeln hervorgeht, ging dieser Konferenz ein langer und hartnäckiger Kampf der Bolschewiki gegen die Versöhnler in ihren eigenen Reihen und besonders gegen die menschewistischen Liquidatoren voraus. Die Liquidatoren sabotierten die Beschlüsse des ZK-PIenums vom Jahre 1910, das eine besondere Resolution über die Notwendigkeit der Einberufung einer Reichsparteikonferenz beschlossen hatte. Sie störten jegliche Arbeit an der Vorbereitung der Konferenz, verhinderten bewusst die Wiederherstellung und die Einberufung des ordentlichen Plenums des ZK, und da sie im Auslandsbüro des ZK die Mehrheit besaßen, taten sie alles zu seiner Aufhebung. Das Verhalten der liquidatorischen Mehrheit des Auslandsbüros des ZK zwang die Bolschewiki, jedwede Verbindung mit dem AB abzubrechen und selbständige Schritte zu unternehmen, um die Reichsparteikonferenz vorzubereiten und einzuberufen. Zu diesem Zwecke wurde eine Organisationskommission für das Ausland und eine Organisationskommission für Russland (OKA und OKR) gebildet. Trotzdem die OKA, in der die Versöhnler die Mehrheit hatten, die Arbeit an der Einberufung der Konferenz stark bremste, vereinigte die OKR, in der die Anhänger Lenins die Mehrheit besaßen, in verhältnismäßig kurzer Zeit die Mehrzahl der illegalen Parteiorganisationen, darunter auch Gruppen der parteitreuen Menschewiki (Parteimenschewiki) um sich. Die Versuche der OKR, zur Arbeit und zur Teilnahme an der Reichsparteikonferenz die Zentralinstanzen der sozialdemokratischen Organisationen der Nationalitäten heranzuziehen (der Sozialdemokratie Polens und Litauens, der Lettischen Sozialdemokratie und des Bund), waren infolge der Ablehnung durch die Sozialdemokratie Polens und Litauens und dadurch, dass diese mit den Liquidatoren der lettischen Sozialdemokratie und aus dem Bund einen Block schloss, nicht von Erfolg gekrönt. Auf der schließlich auf Grund der Bemühungen der OKR einberufenen Prager Reichskonferenz waren alle wichtigen und älteren Parteiorganisationen vertreten: Petersburg, Moskau, das Zentrale Industriegebiet, Baku, Tiflis, Kasan, Kiew, Saratow und viele andere. Außerdem teilten eine ganze Reihe von Organisationen, die keine Vertreter entsenden konnten, der Konferenz mit, dass sie sich ihr anschließen. Auf der Konferenz waren 18 Bolschewiki und 2 parteitreue Menschewiki. Die Konferenz dauerte 12 Tage und behandelte außer einer Reihe organisatorischer Fragen (Bericht der OKR, Berichte der Lokalorganisationen, Bericht des Zentralorgans, Fragen des Parteiaufbaus, Wahl der Zentralkörperschaften der Partei usw.) die wichtigsten Fragen des politischen Lebens der Partei und der Arbeiterbewegung Russlands: die Einschätzung der augenblicklichen Lage und die daraus sich ergebenden Aufgaben der Partei, das Verhältnis zu den Liquidatoren, die Arbeit der Sozialdemokratie in der Duma, die Fragen der gewerkschaftlichen, der Streik- und der Versicherungsbewegung usw. Die zu diesen Fragen beschlossenen [Resolutionen] wurden von Lenin redigiert und zum Teil auch geschrieben, und die ganze Arbeit der Konferenz geschah unter seiner unmittelbaren Leitung (die wichtigsten Resolutionen der Konferenz sind im vorliegenden Band abgedruckt, sämtliche Resolutionen findet der Leser in Band XV der Sämtlichen Werke). Die Konferenz wählte ein ZK aus sieben Mitgliedern (Lenin, Sinowjew, Ordschonikidse u. a.) und vier Ersatzmännern. Diese Zusammensetzung des ZK wurde bald nach der Konferenz durch die Hinzuziehung der Genossen Stalin und Bjelostozki ergänzt. Zum Vertreter der SDAPR im Internationalen Sozialistischen Büro wählte die Konferenz Lenin, wobei sie beschloss, sich auch an Plechanow zu wenden mit dem Vorschläge, die Aufgabe eines zweiten Vertreters der SDAPR im ISB zu übernehmen.

Die Arbeit der Prager Konferenz, die in der Neuschaffung der Partei und in ihrer organisatorischen Festigung auf der ideologischen Grundlage des Leninismus bestand, krönte den hartnäckigen Kampf der Bolschewiki gegen das Liquidatorentum von rechts und links, gegen den trotzkistischen Zentrismus und das Versöhnlertum einzelner Elemente unter den Bolschewiki in den Jahren 1908 bis 1912 und beendete damit die „Parteikrise der Jahre 1910–1911". [...]

Schon vom Jahre 1910 an begann sich eine Belebung der revolutionären Bewegung, ein anfangs „unglaublich langsamer, dann nach den Ereignissen an der Lena im Jahre 1912, ein etwas rascherer“ (Lenin) Aufschwung der revolutionären Bewegung bemerkbar zu machen. Auf der Grundlage der Wirtschaftskrise, der Arbeitslosigkeit, der Teuerung und der Hungersnöte in der Bauernschaft, die mit der Agrarpolitik des Absolutismus unvermeidlich verbunden waren, brachen im Zusammenhang mit der Offensive der bürgerlich-grundherrlichen Reaktion gegen die Arbeiterklasse in den Jahren 1910 und 1911 Streiks aus, die später, im Jahre 1912, in Verbindung mit den Ereignissen an der Lena, in eine breite Massen-Streikbewegung ausmündeten. Außerdem machte sich eine revolutionäre Belebung in der Studentenschaft bemerkbar, und die revolutionäre Gärung in der Armee und in der Flotte begann von neuem. Unter diesen Verhältnissen erhob sich vor der Reichskonferenz von 1912 neben den Aufgaben der Wiederherstellung und Festigung der in den Jahren der Reaktion geschwächten und zerstörten Verbindungen der Partei auch die wichtigste Aufgabe, eine genaue politische Plattform des Kampfes für den revolutionären Charakter des bereits vor der Konferenz eingetretenen Aufschwunges der Arbeiterbewegung auszuarbeiten. Als eine solche Plattform erscheint auch im Wesentlichen die Resolution der Prager Konferenz „Über die Lage und die Aufgaben der Partei“.

Die Resolution der Prager Konferenz von 1912 über das Liquidatorentum und die Gruppe der Liquidatoren bedeutete die Vollendung des vierjährigen Kampfes gegen die Liquidatoren innerhalb der Partei. Die Differenzen mit den Liquidatoren betrachtete Lenin nicht als Meinungsverschiedenheit in einzelnen Fragen, nicht als nur organisatorische Differenzen (über die Frage, wie die Partei aufgebaut werden soll), sondern als Meinungsverschiedenheit in der Frage der Existenz der Partei selbst. „Hier kann von keinerlei Versöhnung und keinerlei Kompromiss die Rede sein“, schrieb Lenin. Der endgültige Bruch mit den Liquidatoren aller Schattierungen war nicht nur durch den langjährigen innerparteilichen Kampf und durch die Überwindung des Liquidatorentums in der Partei, sondern auch durch den hartnäckigen Kampf mit ihnen um die Führung in den parteilosen legalen Arbeiterorganisationen vorbereitet worden. Die Streikbewegung und die Straßendemonstrationen im Jahre 1912, die Sammelaktion für die Arbeiterpresse, die Wahlen in die Versicherungsinstitute und in den Gewerkschaften usw. bildeten die beste Probe auf die Richtigkeit und Zeitgemäßheit der Beschlüsse der Prager Konferenz über die Liquidatoren. denn bei diesen Aktionen zeigte sich offensichtlich, dass die Mehrheil der politisch und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter Russlands mit den Bolschewiki geht.

in seiner Arbeit „Der ,Radikalismus', die Kinderkrankheit des Kommunismus“ (aus dem Jahre 1920), in der er u. a. auch die von der bolschewistischen Partei durchlaufenen Etappen charakterisierte, schrieb Lenin über die Jahre des neuen Aufschwungs: „Unter Überwindung ungeheurer Schwierigkeiten drängten die Bolschewiki die Menschewiki zurück, deren Rolle als bürgerliche Agenten in der Arbeiterbewegung von der gesamten Bourgeoisie nach 1905 ausgezeichnet verstanden wurde und die deshalb von der gesamten Bourgeoisie in jeder Weise gegen die Bolschewiki unterstützt wurden. Aber den Bolschewiki wäre es niemals gelungen, wenn sie nicht die richtige Taktik der Verknüpfung der illegalen Arbeit mit der unbedingten Ausnutzung der ,legalen Möglichkeiten' eingeschlagen hätten“. Diese Verbindung der illegalen Arbeit mit der legalen erforderte einen solchen Aufbau der unteren Parteiorganisationen, der zugleich den Einfluss sowohl unmittelbar in den Arbeitermassen in den Betrieben als auch in jeder Art von legalen und halblegalen Arbeiterorganisationen sicherte. Schon die Konferenz von Dezember 1908 hatte sich mit dieser Frage beschäftigt und auf die Notwendigkeit verwiesen, illegale Parteizellen überall in den Betrieben und in allen Gewerkschaften, Arbeiterklubs, Arbeiterbildungsvereinen usw. zu gründen. Die Erfahrung der Jahre 1908 bis 1911 bestätigte ganz und gar diese Weisungen der Konferenz des Jahres 1908, und die Prager Konferenz von 1912 führte auf Grund dieser Erfahrung in ihrer Resolution „Über den Charakter und die Organisationsformen der Parteiarbeit“ dieselbe organisatorische Linie durch, die von der Konferenz des Jahres 1908 vorgezeichnet worden war. Dabei verband sie die Notwendigkeit der weiteren Entwicklung der illegalen Parteizellen in den Betrieben, Gewerkschaften usw. mit der Aufgabe der Führung der Streikbewegung, die »ich belebt hatte, durch die Partei.

Das rasche und breite Anwachsen des neuen Aufschwunges der Arbeiterbewegung in den Jahren 1912 und 1913 erforderte genauere organisatorische Weisungen zum Zwecke der Sicherung einer festen Verbindung der unteren Parteizellen mit den führenden Organen der Partei sowie die Einheit in der Führung dieses neuen Aufschwungs. Darum beschäftigen sich mit den organisatorischen Fragen nach der Prager Konferenz von 1912 neuerlich zwei Beratungen des ZK mit den örtlichen Parteifunktionären, von denen die eine im Dezember 1912 in Krakau (Galizien, damals österreichisch) und die zweite im Oktober 1913 in Poronino (einem Städtchen unweit von Krakau) stattfand. (Die erste dieser beiden Beratungen wurde aus konspirativen Gründen als „Februar“-, die zweite als „Sommer“- oder „August“-Beratung bezeichnet.) Beide Beratungen gingen in ihren Beschlüssen von den Weisungen der Parteikonferenz von 1908 und 1912 aus, und die erste Beratung beschloss den folgenden Aufbau der Partei: in der unteren Parteiorganisation Betriebskomitees, die reine Parteiorgane sind; sie werden vom Stadtkomitee der Partei zusammengefasst, das ihre Arbeit leitet. Diese Komitees werden wiederum von den Gebiets-Parteileitungen zusammengefasst und geführt, die in allen wichtigen Gebieten der Arbeiterbewegung zu verzeichnen sind. Diese Gebietsparteikomitees haben eine enge Verbindung der örtlichen Parteiorganisationen mit dem ZK herzustellen, das die Arbeit der Partei im Ganzen zusammenfasst und führt. Zwecks einer engeren, lebhafteren und beweglicheren Verbindung des ZK mit den einzelnen Orten wird ein „Vertrauensmännersystem“ eingeführt. Diese Vertrauensmänner werden von den örtlichen sozialdemokratischen Gruppen den Reihen der Arbeiter, welche die örtliche Parteiarbeit leiten, entnommen. Nur fortgeschrittene Arbeiter, heißt es im Zusammenhang damit in der Resolution der Krakauer Beratung, sind imstande, aus eigener Kraft den Zentralapparat der Partei sowohl an den einzelnen Orten als auch in ganz Russland zu stärken und zu festigen. Die Beratung in Poronino im Jahre 1913 unterstrich erstens die Notwendigkeit, „nicht nur die führende Parteiorganisation in jeder Stadt zu festigen, sondern auch die einzelnen Städte untereinander zu verbinden“, d. h. Gebietszentren zu errichten; zweitens unterstrich die Beratung die Notwendigkeit der Ausgestaltung des Systems der Vertrauensmänner, das zu dieser Zeit „erst ins Leben zu treten begann“. „Die fortgeschrittenen Arbeiter“, heißt es in der Resolution der Poroniner Beratung, „in den einzelnen Orten müssen überall dafür sorgen, dass wenigstens in jedem größeren Zentrum der Arbeiterbewegung in möglichst großer Zahl Vertrauensmänner bestimmt werden“. [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Anm. 77]

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