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Separatfrieden

Nachrichten über beiderseitige Versuche der deutschen und der russischen Regierung, über einen Sonderfrieden (d. h. einen Frieden unabhängig von den Verbündeten Russlands) einig zu werden, sickerten bereits vom Frühjahr 1915 an in bürgerliche Kreise Russlands durch, und im Herbst 1916 erschienen solche Nachrichten in der ausländischen Presse. Einen Sonderfrieden mit Deutschland erstrebten der russischen Regierung nahestehende politische Kreise, in erster Linie der sogenannte „schwarze Block“, der sich um Nikolaus II., seine Frau (eine deutsche Prinzessin) und den „Wundertäter“ Rasputin bildete. Außer Versuchen einer Annäherung an die deutsche Regierung, die durch die zaristische Hofdame M. Wassiltschikowa im Jahre 1915 und später, Anfang 1917, unmittelbar durch die Zarin sowie durch den Minister Protopopow unternommen wurden, war ein Anzeichen der Absichten des „schwarzen Blocks“ auch der ununterbrochene Ministerwechsel, besonders im Jahre 1916. Dieser Ministerwechsel verfolgte den Zweck, die Möglichkeit eines Sonderfriedens zu schaffen. Die bürgerlichen Kreise, darunter die Kadetten, waren mit den Bestrebungen des „schwarzen Blocks“ äußerst unzufrieden, und ihre besondere Unzufriedenheit erregte die Ernennung Goremykins 1915 und noch mehr Stürmers 1916 zum Ministerpräsidenten. Als im Herbst 1916 in der ausländischen Presse Nachrichten über Besprechungen zwischen der deutschen und der russischen Regierung auftauchten, schrieb Lenin zur Frage des Sonderfriedens zwischen Russland und Deutschland einen besonderen Artikel in Nr. 56 des „Sozialdemokrat“ vom 24. Oktober/6. November 1916. In diesem Artikel erklärte er die Bestrebungen der zaristischen Regierung nach einem Separatfrieden aus jenen Interessen, von denen sich das zaristische Russland in seiner Außenpolitik leiten ließ. Er schrieb, dass Russland gegen Deutschland Krieg führe, um Galizien, Armenien und Konstantinopel zu erhalten und um sich die Balkanvölker unterzuordnen. Aber – schrieb dann Lenin weiter – „neben dem Konflikt der räuberischen ,Interessen' Russlands und Deutschlands gibt es einen nicht geringeren – wenn nicht noch größeren – Interessengegensatz zwischen Russland und England. Die Aufgabe der imperialistischen Politik Russlands, die bestimmt ist durch jahrhundertelange Rivalität und durch die objektiven internationalen Wechselbeziehungen der Großmächte, kann kurz folgendermaßen ausgedrückt werden: mit Hilfe Englands und Frankreichs Deutschland in Europa schlagen, um Österreich und die Türkei auszurauben (Österreich Galizien wegnehmen und der Türkei - Armenien und vor allem Konstantinopel). Dann mit Hilfe Japans und desselben Deutschlands England in Asien zu schlagen, um ganz Persien zu annektieren, die Teilung Chinas zu Ende zu führen usw.“ (siehe den Artikel „Über den Separatfrieden“). Aber diese Aufgabe konnte nur unter der Bedingung ganz erfüllt werden, dass Russland nicht entkräftet war. Die Niederlagen im Kriege gegen Deutschland begannen aber Russland bereits zu entkräften. Daher das Streben der zaristischen Regierung nach einem Separatfrieden.

Wenn ,wir' einer zu großen Beute in Europa nachjagen, so riskieren ,wir‘, ,unsere' militärischen Hilfsquellen endgültig zu erschöpfen, in Europa fast nichts zu erreichen und die Möglichkeit zu verlieren, ,unseren Teil' in Asien zu erhalten – so argumentiert der Zarismus und argumentiert vom Standpunkt der imperialistischen Interessen aus richtig“ – schrieb Lenin, und dann weiter: „Es ist daher durchaus möglich, dass wir morgen oder übermorgen aufwachen und ein Manifest der drei Monarchen“ (Russlands, Deutschlands und Österreich-Ungarns. – D. Red.) „zu lesen bekommen: ,Die Stimme unserer geliebten Völker erhörend, haben wir beschlossen, sie mit den Wohltaten des Friedens zu beglücken, Waffenstillstand zu schließen und einen all-europäischen Friedenskongress einzuberufen'.“ [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6, Anm. 3]

In der Resolution der Allrussischen Konferenz der SDAPR vom April/Mai „Über den Krieg“ wurde zur Frage des Sonderfriedens gesagt: „Es ist unmöglich, diesen Krieg zu beenden durch die Weigerung der Soldaten nur einer Seite, den Krieg fortzusetzen, durch die einfache Einstellung der Kriegsoperationen durch eine der kriegführenden Parteien. Die Konferenz protestiert erneut mit allem Nachdruck gegen die niederträchtige Verleumdung, die die Kapitalisten gegen unsere Partei verbreiten, als seien wir für einen Separatfrieden mit Deutschland. Wir halten die deutschen Kapitalisten für ebensolche Räuber wie die russischen, englischen, französischen und anderen Kapitalisten, und den Kaiser Wilhelm für einen ebensolchen gekrönten Räuber wie Nikolaus II. und die Monarchen Englands, Italiens, Rumäniens und alle andern.

Unsere Partei wird geduldig, aber beharrlich dem Volke die Wahrheit klarmachen, dass … man diesen Krieg … beenden kann nur durch den Übergang der gesamten Staatsmacht wenigstens in einigen kriegführenden Ländern in die Hände der Klasse der Proletarier und Halbproletarier, die wirklich fähig ist, der Unterjochung durch das Kapital ein Ende zu machen“. Als Lenin und die Partei im Jahre 1917 gegen einen Sonderfrieden auftraten, verbanden sie die Frage der Beendigung des Krieges durch Russland und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Sonderfriedens selbstverständlich nicht mit irgendwelchen Verbindlichkeiten gegenüber den „Verbündeten“ (d. h. der englischen, französischen u. a. Bourgeoisie), sondern mit dem Schicksal der proletarischen Revolution in den kriegführenden Ländern und mit dem Kurs auf diese Revolution. Als die proletarische Revolution in Russland durchgeführt wurde, im Westen sich jedoch verzögerte, erforderten die Interessen sowohl des russischen als auch des internationalen Proletariats die Behauptung der Staatsmacht durch das Proletariat in Russland. Zu diesem Zwecke war eine sofortige Beendigung des Krieges gegen Deutschland, sei es auch unter den ungünstigsten Bedingungen, notwendig, und damals gingen Lenin und die Partei auf den Abschluss eines Sonderfriedens mit dem deutschen Imperialismus ein (siehe in Band VII der vorliegenden Ausgabe das Referat Lenins auf dem 7. ParteitagÜber Krieg und Frieden“, sein Schlusswort zu diesem Referat sowie den Artikel „Über ,linke' Kinderei und Kleinbürgerlichkeit“). [Lenin, Ausgewählte Werke, Band 6, Anm. 46]

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