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Wladimir I. Lenin 19161106 Über den Separatfrieden

Wladimir I. Lenin: Über den Separatfrieden

[„Sozialdemokrat" Nr. 56 vom 6. November 1916. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 351-360]

Zwischen Russland und Deutschland werden bereits über den Abschluss eines Separatfriedens Verhandlungen geführt. Diese Verhandlungen sind offiziell, und in der Hauptsache sind sich beide Mächte schon einig geworden.

Eine solche Meldung erschien vor kurzem in der Berner sozialistischen Zeitung1 auf Grund von Nachrichten, die sie erhalten hatte. Und als die russische Gesandtschaft in Bern sich beeilte, ein offizielles Dementi zu veröffentlichen, und die französischen Chauvinisten die Verbreitung solcher Gerüchte dem Umstand zuschrieben, dass die „Deutschen stänkern“, da lehnte es die sozialistische Zeitung ab, dem Dementi irgendeine Bedeutung beizumessen, und zur Bekräftigung ihrer Meldung berief sie sich noch auf die Tatsache, dass sich gerade jetzt in der Schweiz sowohl deutsche (Bülow) als auch russische „Staatsmänner“ (Stürmer, Giers und ein aus Spanien eingetroffener Diplomat) aufhielten und dass in schweizerischen Handelskreisen analoge positive Nachrichten vorliegen, die aus russischen Geschäftskreisen stammen.

Selbstverständlich ist eine Irreführung durch Russland, das sich nicht offen zu Verhandlungen über einen Separatfrieden bekennen kann, gleich möglich, wie eine durch Deutschland, das den Versuch nicht unterlassen kann, Russland und England zu entzweien, unabhängig davon, ob wirklich Verhandlungen geführt werden und inwieweit sie von Erfolg begleitet sind.

Um uns über die Frage des Separatfriedens klar zu werden, müssen wir nicht Gerüchte und Mitteilungen darüber, was jetzt in der Schweiz vorgeht, und was auf seine sachliche Richtigkeit zu prüfen unmöglich ist, zum Ausgangspunkt wählen, sondern die unwiderlegbar feststehenden Tatsachen der Politik in den letzten Jahrzehnten. Mögen die Herren Plechanow, Tschchenkeli, Potressow und Konsorten, die jetzt die Rolle von „marxistischen“ Lakaien oder Narren der Purischkjewitsch und Miljukow spielen, schweißtriefend die „Schuld Deutschlands“ und den „Defensivcharakter“ des Krieges russischerseits nachzuweisen suchen – die klassenbewussten Arbeiter schenken diesen Narren nach wie vor kein Gehör. Der Krieg ist aus den imperialistischen Beziehungen der Großmächte zueinander hervorgewachsen, d. h. aus dem Kampf um die Teilung der Beute, aus dem Kampfe darum, wer diese oder jene Kolonien und kleinen Staaten verschlingen soll, wobei in diesem Krieg zwei Interessenkonflikte an erster Stelle stehen. Erstens – der zwischen England und Deutschland. Zweitens – der zwischen Deutschland und Russland. Diese drei Großmächte, diese drei mächtigen Wegelagerer sind die Hauptgrößen im jetzigen Kriege – die übrigen sind unselbständige Verbündete.

Diese beiden Konflikte sind durch die ganze Politik dieser Großmächte während mehrerer Jahrzehnte vor dem Kriege vorbereitet worden. England kämpft für den Raub der Kolonien Deutschlands und die Vernichtung seines Hauptkonkurrenten, der es mit seiner ausgezeichneten Technik, seiner Organisation, seiner Handelsenergie unbarmherzig schlug und so schwer traf, dass England ohne den Krieg seine Weltherrschaft nicht mehr behaupten konnte. Deutschland führt Krieg, weil seine Kapitalisten – durchaus mit Recht – glauben, dass sie das „heilige“ Recht der Bourgeoisie besitzen, in der Plünderung der Kolonien und der abhängigen Länder den Vorrang in der Welt zu haben; im Besonderen kämpft Deutschland, um sich die Balkanländer und die Türkei zu unterwerfen. Russland kämpft um Galizien, dessen Besitz ihm besonders wichtig ist für die Abwürgung des ukrainischen Volkes (außer Galizien gibt es und kann es für dieses Volk kein Winkelchen – natürlich relativer – Freiheit geben), um Armenien und um Konstantinopel und ferner auch um die Unterwerfung der Balkanländer.

Neben dem Konflikt der räuberischen „Interessen“ Russlands und Deutschlands gibt es einen nicht geringeren – wenn nicht noch größeren – Interessengegensatz zwischen Russland und England. Die Aufgabe der imperialistischen Politik Russlands, die bestimmt ist durch jahrhundertelange Rivalität und durch die objektiven internationalen Wechselbeziehungen der Großmächte, kann kurz folgendermaßen ausgedrückt werden: mit Hilfe Englands und Frankreichs Deutschland in Europa schlagen, um Österreich und die Türkei auszurauben (Österreich Galizien wegnehmen und der Türkei – Armenien und vor allem Konstantinopel). Dann mit Hilfe Japans und desselben Deutschlands England in Asien schlagen, um ganz Persien zu annektieren, die Teilung Chinas zu Ende zu führen usw.

Sowohl die Eroberung Konstantinopels als auch die Eroberung eines immer größeren Teiles von Asien erstrebt der Zarismus schon seit Jahrhunderten, er verfolgt systematisch eine dementsprechende Politik und nutzt zu diesem Zweck jeden Gegensatz und jeden Konflikt zwischen den Großmächten aus. England war schon seit längerer Zeit und als ein viel hartnäckigerer und stärkerer Gegner dieser Bestrebungen aufgetreten als Deutschland. Vom Jahre 1878 an, als die russischen Truppen sich Konstantinopel näherten und die englische Flotte vor den Dardanellen mit der Drohung erschien, auf die Russen zu schießen, sobald sie sich in „Zargrad“2 zeigen würden, – bis zum Jahre 1885, da es wegen der Teilung der Beute in Mittelasien um ein Haar zu einem Krieg zwischen Russland und England gekommen wäre (Afghanistan; die Bewegung der russischen Truppen nach dem Innern Mittelasiens war eine Bedrohung der englischen Herrschaft in Indien) – und bis zum Jahre 1902, als England mit Japan ein Bündnis schloss und so den Krieg Japans gegen Russland vorbereitete – in dieser ganzen langen Zeit war England der stärkste Feind der Raubpolitik Russlands, weil Russland die Herrschaft Englands über eine Reihe fremder Nationen zu untergraben drohte.

Und jetzt? Man sehe nur, was in diesem Kriege vorgeht. Es ist unerträglich, die „Sozialisten“ anzuhören, die vom Proletariat zur Bourgeoisie übergegangen sind und von der „Vaterlandsverteidigung“ russischerseits in diesem Krieg oder von der „Rettung des Landes“ (Tschcheïdse) reden. Es ist unerträglich, die süßlichen Kautsky und Konsorten anzuhören, die vom demokratischen Frieden in einer Weise reden, als ob die gegenwärtigen, als ob bürgerliche Regierungen überhaupt einen solchen Frieden schließen könnten. Denn in Wirklichkeit sind diese Regierungen in ein Netz von Geheimverträgen miteinander, mit ihren Verbündeten und gegen ihre Verbündeten verstrickt, wobei der Inhalt dieser Verträge kein zufälliger ist, nicht durch bloßen „bösen Willen“ bestimmt wird, sondern vom ganzen Verlauf und von der ganzen Entwicklung der imperialistischen Außenpolitik abhängt. „Sozialisten“, die den Arbeitern mit banalen Phrasen über an sich gute Dinge (Vaterlandsverteidigung, demokratischer Friede) Sand in die Augen streuen und ihre Gehirne verkleistern, ohne dabei die Geheimverträge der eigenen Regierung zu enthüllen, die auf Raub fremder Länder hinzielen, solche „Sozialisten“ begehen ausgesprochenen Verrat am Sozialismus.

Für die Regierungen, sowohl für die deutsche als auch für die englische und die russische, ist es nur vorteilhaft, wenn aus dem sozialistischen Lager Reden über einen honetten Frieden laut werden, denn dadurch wird erstens der Glaube an die Möglichkeit eines solchen Friedens unter der heutigen Regierung geweckt und zweitens die Aufmerksamkeit von der Raubpolitik dieser selben Regierungen abgelenkt.

Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik. Und auch die Politik wird während des Krieges „fortgesetzt“! Deutschland hat mit Bulgarien und Österreich Geheimverträge über die Teilung der Beute abgeschlossen und ähnliche Verhandlungen sind auch jetzt im Gange. Russland hat Geheimverträge mit England, Frankreich usw. abgeschlossen, und all diese Verträge bezwecken Raub und Plünderung – Raub der deutschen Kolonien, Plünderung Österreichs, Aufteilung der Türkei usw.

Ein „Sozialist“, der unter diesen Umständen den Völkern und Regierungen Reden hält über einen honetten Frieden, gleicht vollständig einem Pfaffen, der in der Kirche in den ersten Reihen die Besitzerin eines öffentlichen Hauses und den Polizeikommissar sieht, die im geheimen Einvernehmen miteinander leben, und ihnen und dem Volke Nächstenliebe und Einhaltung der christlichen Gebote „predigt“.

Zwischen England und Russland besteht zweifellos unter anderem auch ein Geheimvertrag über Konstantinopel. Es ist bekannt, dass Russland hofft, Konstantinopel zu bekommen, und dass England Konstantinopel nicht hergeben will; wenn es sich aber dazu entschließt, so wird es entweder bemüht sein, den Russen Konstantinopel wieder abzunehmen, oder aber dieses „Zugeständnis“ wird an Bedingungen geknüpft sein, die gegen Russland gerichtet sind. Der Text des Geheimvertrages ist nicht bekannt, aber dass der Kampf zwischen England und Russland eben um diese Frage geführt, auch jetzt noch geführt wird, das ist nicht nur bekannt, sondern unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Gleichzeitig ist auch bekannt, dass zwischen Russland und Japan, in Ergänzung zu ihren früheren Verträgen (z. B. zum Vertrage vom Jahre 1910, der Japan freistellte, Korea zu „verschlingen“, Russland aber – die Mongolei zu fressen), schon während des jetzigen Krieges ein neuer Geheimvertrag abgeschlossen ist, der nicht nur gegen China, sondern bis zu einem gewissen Grade auch gegen England gerichtet ist. Das unterliegt keinem Zweifel, obgleich der Text des Vertrages nicht bekannt ist. Japan hat in den Jahren 1904/05 mit Hilfe Englands Russland geschlagen und bereitet jetzt vorsichtig die Möglichkeit vor, mit Hilfe Russlands England zu schlagen.

In russischen „Regierungskreisen“, unter dem Hofgesindel Nikolaus des Blutigen, unter dem Adel, in der Armee usw. gibt es eine germanophile Partei. In Deutschland macht sich in letzter Zeit auf der ganzen Linie ein Umschwung bei der Bourgeoisie (und nach ihr auch bei den Sozialchauvinisten) bemerkbar, und zwar zur Russenfreundlichkeit, zum Separatfrieden mit Russland, ein Bestreben, Russland zu begütigen, um dann mit ganzer Kraft gegen England loszuschlagen. Von Seiten Deutschlands ist dieser Plan ganz klar, er lässt keine Zweifel aufkommen. Auf Seiten Russlands liegen die Dinge so, dass der Zarismus es natürlich vorziehen würde, Deutschland zunächst vollständig zu schlagen, um möglichst viel „einstecken“ zu können, ganz Galizien, ganz Polen, ganz Armenien und Konstantinopel, und Österreich endgültig „den Garaus zu machen“ usw. Dann wäre es bequemer, sich mit Hilfe Japans gegen England zu wenden. Aber augenscheinlich reichen die Kräfte nicht aus. Das ist des Pudels Kern.

Wenn der frühere Sozialist, Herr Plechanow, die Sache so darstellt, als ob die Reaktionäre in Russland überhaupt den Frieden mit Deutschland wollten, die „fortschrittliche Bourgeoisie“ hingegen – die Vernichtung des „preußischen Militarismus“ und die Freundschaft mit dem „demokratischen“ England, so ist das ein Ammenmärchen, das dem Niveau politischer Säuglinge angepasst ist. In der Tat wünschen sowohl der Zarismus als auch alle Reaktionäre in Russland als auch die gesamte „fortschrittliche“ Bourgeoisie (Oktobristen und Kadetten) nur eines: Deutschland, Österreich und die Türkei in Europa auszuplündern, England in Asien zu schlagen (ganz Persien, die ganze Mongolei und den ganzen Tibet usw. an sich zu reißen). Diese „lieben Freunde“ streiten nur darum, wie und wann man sich vom Kampfe gegen Deutschland zum Kampfe gegen England wenden soll – nur darum, wie und wann!

Die Lösung dieser Frage, um die allein der Streit zwischen den lieben Freunden geht, hängt aber von militärischen und diplomatischen Erwägungen ab, die nur der Zarenregierung genau bekannt sind, den Miljukow und Gutschkow aber nur zu einem Viertel.

Deutschland und Österreich ganz Polen wegnehmen! Der Zarismus ist dafür. Werden aber die Kräfte ausreichen? Und wird England es erlauben?

Konstantinopel und die Meerengen wegnehmen! Österreich vollständig zu Boden schlagen und es zersplittern! Der Zarismus ist durchaus dafür. Werden aber die Kräfte ausreichen? Und wird England es erlauben?

Der Zarismus weiß, wie viel Millionen Soldaten bereits geopfert sind und wie viel man dem Volke noch entnehmen kann, wie viel Munition verbraucht wird und wie viel noch dazu kommen kann (Japan wird, im Falle eines drohenden und durchaus möglichen Krieges mit China, keine Munition mehr geben!). Der Zarismus weiß, wie seine Geheimverhandlungen mit England über Konstantinopel, über die Stärke der englischen Truppen in Saloniki, in Mesopotamien usw. verliefen und wie sie jetzt verlaufen. Der Zarismus weiß das alles, hat alle Karten in der Hand und berechnet genau – soweit ein genaues Wissen in solchen Dingen überhaupt möglich ist, bei denen die Rolle des Zweifelhaften, des Unsicheren, die Rolle des „Kriegsglücks“ besonders groß ist.

Die Miljukow und Gutschkow aber reden um so mehr in den Wind, je weniger sie wissen. Die Plechanow, Tschchenkeli, Potressow wissen überhaupt nichts von den geheimen Abmachungen des Zarismus, vergessen selbst das, was sie früher gewusst haben, studieren nicht das, was man aus der ausländischen Presse erfahren kann, dringen in die Außenpolitik des Zarismus vor dem Kriege nicht ein, verfolgen sie nicht während des Krieges und spielen deshalb einfach die Rolle sozialistischer Hanswurste.

Wenn der Zarismus sich davon überzeugt hat, dass selbst trotz aller Hilfe der liberalen Gesellschaft, trotz allen Eifers der Kriegsindustriekomitees, trotz der Förderung der edlen Sache der Mehrung der Munition durch die Herren Plechanow, Gwosdjew, Potressow, Bulkin, Tschirkin, Tschcheïdse („Rettung des Landes“, Spaß beiseite!), Kropotkin und das übrige Gesindel – dass es trotz alledem und bei dem jetzigen Zustande der militärischen Stärke (oder der militärischen Schwäche) aller möglichen in den Krieg hineingezogenen Verbündeten unmöglich ist, mehr zu erreichen, unmöglich ist, Deutschland mehr zu besiegen, oder dies unverhältnismäßig teuer zu stehen käme (das würde z. B. den weiteren Verlust von 10 Millionen russischer Soldaten kosten, für deren Rekrutierung, Ausbildung und Ausrüstung noch so und so viele Milliarden und so und so viele Jahre Krieg nötig wären), dann kann der Zarismus nicht anders als einen Separatfrieden mit Deutschland suchen.

Wenn „wir“ einer zu großen Beute in Europa nachjagen, so riskieren „wir“, „unsere“ militärischen Hilfsquellen endgültig zu erschöpfen, in Europa fast nichts zu erreichen und die Möglichkeit zu verlieren, „unseren Teil“ in Asien zu erhalten – so argumentiert der Zarismus und argumentiert vom Standpunkt der imperialistischen Interessen aus richtig. Er argumentiert richtiger als die bürgerlichen und opportunistischen Schwätzer Miljukow, Plechanow, Gutschkow und Potressow.

Wenn man in Europa nicht mehr erreichen kann, selbst nach dem Anschluss Rumäniens und Griechenlands (von dem „wir“ alles genommen haben, was wir konnten), so wollen wir das nehmen, was wir nehmen können! England kann „uns“ augenblicklich nichts geben. Deutschland wird uns, vielleicht, Kurland und einen Teil Polens zurückgeben und sicherlich Ostgalizien dazu – das ist für „uns“ besonders wichtig, um die ukrainische Bewegung, den Drang eines geschichtlich noch nicht erwachten Millionenvolkes nach Freiheit und nationaler Sprache abzuwürgen –, wahrscheinlich auch Türkisch-Armenien. Wenn wir das jetzt nehmen, so können wir aus diesem Kriege gestärkt hervorgehen, und dann werden wir morgen – mit Hilfe Japans und Deutschlands, bei kluger Politik und weiterer Unterstützung durch die Miljukow, Plechanow und Potressow bei der „Rettung“ des geliebten „Vaterlandes“ – in einem Krieg gegen England ein gut Stück Asien erhalten (ganz Persien und den persischen Meerbusen mit dem Ausgang zum offenen Meer, nicht so wie in Konstantinopel, das nur einen Ausgang zum Mittelmeer gewährt und auch das nur an Inseln vorbei, die England leicht für sich nehmen und befestigen kann, wodurch es „uns“ jeden Ausgang zum offenen Meer versperren würde) usw.

So denkt der Zarismus, und, wie gesagt, argumentiert er nicht nur vom eng-monarchischen Standpunkte, sondern auch vom allgemein-imperialistischen aus richtig; er weiß mehr und blickt weiter als die Liberalen samt den Plechanow und Potressow.

Es ist daher durchaus möglich, dass wir morgen oder übermorgen aufwachen und ein Manifest der drei Monarchen zu lesen bekommen: „Die Stimme unserer geliebten Völker erhörend, haben wir beschlossen, sie mit den Wohltaten des Friedens zu beglücken, Waffenstillstand zu schließen und einen all-europäischen Friedenskongress einzuberufen“. Die drei Monarchen können dabei sogar einen gar nicht schlechten Witz machen, wenn sie einige Bruchstücke der Phrasen von Vandervelde, Plechanow und Kautsky wiederholen: wir „versprechen“ – Versprechungen sind das einzige, was sogar in der Zeit wahnsinniger Teuerung billig ist –, die Frage der Einschränkung der Rüstungen und eines „dauerhaften“ Friedens zu erörtern usw. Vandervelde, Plechanow und Kautsky werden sich dienstbeflissen beeilen, ihren „Sozialisten“-Kongress in derselben Stadt einzuberufen, in der der Friedenskongress tagen wird; fromme Wünsche, süßliche Phrasen, Beteuerungen der Notwendigkeit, das „Vaterland zu verteidigen“, werden ohne Ende in allen Sprachen laut werden. Die Inszenierung wird ganz nett sein – für die Verdeckung des Überganges vom imperialistischen englisch-russischen Bündnis gegen Deutschland zu einem ebensolchen deutsch-russischen Bündnis gegen England!

Ob dieser Krieg in allernächster Zukunft auf solche Art enden wird oder ob Russland in seinem Bestreben, Deutschland zu besiegen und Österreich nach Möglichkeit auszuplündern, noch etwas länger „durchhalten“ wird, ob die Verhandlungen über einen Separatfrieden die Rolle des Manövers eines geschickten Erpressers spielen werden (der Zarismus wird England das fertige Projekt eines Vertrages mit Deutschland zeigen und sagen: so und so viele Milliarden Rubelchen und diese oder jene Konzessiönchen oder Garantien, sonst unterzeichne ich morgen diesen Vertrag) – auf jeden Fall kann der imperialistische Krieg mit keinem anderen als mit einem imperialistischen Frieden enden, wenn dieser Krieg sich nicht in einen Bürgerkrieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie für den Sozialismus verwandelt. In jedem Falle, mit Ausnahme dieses letzten Ausganges, wird der imperialistische Krieg zur Stärkung dieser oder jener der drei stärksten imperialistischen Mächte, England, Deutschland, Russland, auf Kosten der schwachen (Serbien, Türkei, Belgien usw.) führen, wobei es durchaus möglich ist, dass alle diese drei Räuber nach dem Kriege, wenn sie ihren Raub (die Kolonien, Belgien, Serbien, Armenien) geteilt haben, noch stärker sein werden und der ganze Streit nur darum gehen wird, in welchen Proportionen diese Beute aufgeteilt werden soll.

In jedem Falle ist es unausbleiblich, unvermeidlich und ganz ohne Zweifel, dass sowohl die konsequenten und offenen Sozialchauvinisten, d. h. Subjekte, die die „Vaterlandsverteidigung“ in diesem Kriege offen anerkennen, als auch die verkappten, halben Sozialchauvinisten, d. h. die Kautskyaner, die den „Frieden“ schlechthin, einen Frieden „ohne Sieger und Besiegte“ usw. predigen, betrogen und genasführt werden. Jeder Friede, der von denselben oder gleichgearteten bürgerlichen Regierungen geschlossen werden wird, wie die, die diesen Krieg angefangen haben, wird allen Völkern anschaulich zeigen, dass diese und jene Sozialisten nur die Rolle von Lakaien des Imperialismus gespielt haben.

Wie der Ausgang dieses Krieges auch sein mag, es wird sich zeigen, dass diejenigen recht hatten, die behaupteten, dass der einzige sozialistische Ausweg aus dem Krieg der Bürgerkrieg des Proletariats für den Sozialismus ist. Es wird sich erweisen, dass jene russischen Sozialdemokraten Recht hatten, die sagten, dass die Niederlage des Zarismus, sein vollständiger militärischer Zusammenbruch „auf jeden Fall“ das kleinere Übel sei. Denn die Geschichte steht niemals still, sie geht auch während des jetzigen Krieges vorwärts; und wenn das Proletariat Europas jetzt nicht zum Sozialismus fortschreiten, das Joch der Sozialchauvinisten und Kautskyaner während des ersten großen imperialistischen Krieges noch nicht abwerfen kann, so würden Osteuropa und Asien nur im Falle der vollständigen militärischen Vernichtung des Zarismus mit Siebenmeilenstiefeln der Demokratie entgegengehen können, nur dann, wenn dem Zarismus jede Möglichkeit genommen wird, eine imperialistische Politik vom halb feudalen Typ zu treiben.

Der Krieg wird alles Schwache zerschlagen und ihm den Rest geben, darunter auch dem Sozialchauvinismus und dem Kautskyanertum. Der imperialistische Friede wird diese Schwächen noch anschaulicher, noch schändlicher, noch widerwärtiger machen.

1 Über Separatfriedensverhandlungen zwischen Russland und Deutschland erschien in der „Berner Tagwacht“ eine Notiz „Die Vorbereitung des Separatfriedens“ (Nr. 239 vom 11. Oktober 1916), ein Leitartikel „Die Friedensgerüchte“ (Nr. 241 vom 13. Oktober 1916) und eine Notiz „Zum Separatfrieden“ (Nr. 242 vom 14. Oktober 1916).

2 „Zarenstadt“ – alte russische Bezeichnung für Konstantinopel. Die Red.

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