Karl Kautsky‎ > ‎1905‎ > ‎

Karl Kautsky 19050412 Die Differenzen unter den russischen Sozialisten

Karl Kautsky: Die Differenzen unter den russischen Sozialisten

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 23.1904-1905, 2. Band.(1904-1905), Heft 29, S. 68-79, 12. April 1905]

Gapon hat bekanntlich jüngst durch das internationale Sekretariat die russischen Sozialisten aufgerufen, sie sollten sich einigen, und der „Vorwärts" hat eine Anfügung dazu veröffentlicht, in der von dem „Chaos der Zwistigkeiten und Streitigkeiten, die das sozialistische Lager zerrissen", die Rede war, sowie von der „Einigungsnote", welche die Sozialisten-Revolutionäre in dieses „Chaos“ gebracht. Einige Bemerkungen, die ich dagegen in der „Leipziger Volkszeitung“ richtete, haben mir von verschiedenen Seiten die Aufforderung zugezogen, das russische Chaos selbst den deutschen Genossen zu schildern, und ich komme dieser Aufforderung um so lieber nach, da auch ich glaube, dass es notwendig geworden ist, die Genossen Deutschlands über die russischen Differenzen zu orientieren. Je weniger sie diese Differenzen begreifen, je mehr sie davon nur die undeutliche Ahnung eines Chaos haben, in das die Freunde der sozialistischen Einigkeit vergeblich Ordnung zu bringen suchen, desto größer die Gefahr, dass sie unsere russischen Genossen falsch beurteilen und in deren Unterstützung erlahmen. Das wäre aber ein großes Unglück für den Sozialismus nicht bloß Russlands, sondern der Welt.

Gern hätte ich freilich die Schilderung der russischen Differenzen einer berufeneren Feder überlassen, einem Genossen, der den russischen Dingen näher steht als ich. Aber jeder derartige Genosse ist in den zu schildernden Differenzen Partei, und seine Darstellung käme dadurch, selbst wenn sie völlig unparteiisch wäre, in den Verdacht, eine gefärbte zu sein.

Sucht man sich in dem „Chaos" der russischen Zwistigkeiten zurechtzufinden, so bemerkt man zunächst, dass nicht alle diese Zwistigkeiten gleicher Natur sind, und man kommt leicht dazu, sie nach verschiedenen Gruppen zu ordnen. Was sich in dem Kopfe des oberflächlichen Beschauers als ein unentwirrbares Chaos malt, wird dann mit einmal übersichtlich und leicht verständlich.

Man kann unter den Differenzen drei Gruppen unterscheiden.

Die erste ist die der nationalen Reibungen. Russland umfasst noch weit mehr Nationen als Österreich. Einige davon, wie die Polen, führten bis zu ihrer Vereinigung mit Russland eine selbständige staatliche Existenz. Andere hatten sie früher schon verloren, wie die Armenier, oder haben nie eine gehabt, bilden Völkertrümmer, die oft noch Nomaden waren, als sie unter die Botmäßigkeit der Zaren gerieten. Aus diesem Völkergewirr rekrutiert sich das Proletariat Russlands; dessen Völkermischung wird immer bunter, je weiter sich der Kapitalismus ausdehnt und neue Bezirke eröffnet. Die sozialistische Propaganda muss natürlich in jedem Volke in der ihm eigenen Sprache geführt werden; das führt, sobald die Partei dort stärker geworden ist, auch leicht zu einer gewissen organisatorischen Selbständigkeit mancher nationalen Parteigruppen, selbst wenn sie mit der Gesamtpartei über Programm und Taktik einig sind. Die Rückständigkeit des Verkehrs und die Unmöglichkeit einer öffentlichen Organisation verstärken noch die organisatorische Selbständigkeit einzelner Gruppen. Wo aber Selbständigkeit der Organisationen, da ergibt jede Meinungsverschiedenheit – und daran fehlt es natürlich nirgends – nur zu leicht Reibungen, Kompetenzkonflikte, Zwistigkeiten aller Art. Es bedarf nicht nur größter theoretischer und taktischer Einmütigkeit, sondern auch persönlicher Selbstlosigkeit, Klugheit und des feinsten Taktgefühls, soll die Solidarität alle diese Klippen vermeiden.

Angesichts dessen darf man sich nicht wundern darüber, dass unter den russischen Sozialisten solche Differenzen bestehen, sondern eher darüber, dass sie es verstanden haben, sie in hohem Grade zu überwinden. Die sozialdemokratischen Organisationen der kaukasischen Völker (Armenier, Georgier usw.) bilden integrierende Teile der russischen Sozialdemokratie. Andererseits haben erst jüngst diese letzteren als Ganzes, der Jüdische Arbeiterbund, die Sozialdemokratie Polens und Litauens und die lettischen Sozialdemokraten einen sozialistischen „Block" gebildet, der das einmütige Zusammenwirken dieser Organisationen verspricht.

Ganz anderer Art als die nationalen Differenzen sind die innerhalb der einen Organisation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands selbst bestehenden. Hier handelt es sich um sachliche Differenzen, die zur Bildung zweier Fraktionen innerhalb der Partei geführt haben, deren jede über ein besonderes Organ verfügt, die „Iskra“ (Der Funke), unter deren Mitarbeitern den deutschen Genossen besonders bekannt sind Axelrod, Deutsch, Plechanow, Wera Sassulitsch, und der „Wperjod (Vorwärts), dessen hervorragendster Vertreter Lenin.

Über das Programm und die taktischen Grundsätze sind beide Richtungen vollkommen einig, viel einiger als etwa die deutsche Sozialdemokratie. Es gibt keine Revisionisten unter ihnen. Den Ausgangspunkt des Streites zwischen ihnen, die bis dahin in allen Beziehungen theoretisch und praktisch auf das Innigste zusammengehalten hatten, bilden Differenzen über die beste Form der Parteiorganisation, die auf dem Londoner Kongress 1903 ausbrachen. Es waren Differenzen, die man mit denen zwischen den Lassalleanern und Eisenachern vergleichen kaum wie denn auch Lenin von seinen Kritikern oft mit Schweitzer auf eine Stufe gestellt wird. Er verficht einen strengen Zentralismus mit diktatorischen Befugnissen des Zentralkomitees, während Axelrod und seine Freunde den einzelnen lokalen Komitees größere Bewegungsfreiheit lassen wollen. Je länger der Zwiespalt dauerte, desto mehr wuchs, wie bei jedem Streit, mag er in seinem Ursprung noch so sachlich sein, die persönliche Verbitterung, desto mehr entwickelte er aber auch andere sachliche Gegensätze. Der organisatorische Streit ist in den Hintergrund gedrängt worden durch den taktischen über die besten Mittel, den Absolutismus zu stürzen.

Kein Zweifel, dass alles das ungemein wichtige Fragen sind, deren Diskussion dringend notwendig, aber ebenso kann kein Zweifel darüber sein, dass die Fehde der beiden Blätter gerade jetzt die russische revolutionäre Bewegung schädigt, was um so bedauerlicher, da die sachlichen Meinungsverschiedenheiten nicht so weitgehend sind, um ein Zusammenarbeiten der Streitenden unmöglich zu machen. Man darf sie nicht auf eine Stufe stellen mit jenen, die die Franzosen vom Pariser bis zum Amsterdamer Kongress spalteten. In Frankreich handelte es sich um verschiedene taktische Grundsätze, die der dauernden Arbeit der Partei ein bestimmtes Gepräge geben. In der russischen Sozialdemokratie herrscht völlige Einheit über die taktischen Grundsätze, bestehen nur Differenzen darüber, welche Art der praktischen Anwendung dieser Grundsätze durch die augenblickliche Situation zur zweckmäßigsten gemacht wird. Diese Differenzen müssen mit der Situation verschwinden, die sie erzeugte. Sie können Meinungsverschiedenheiten, Diskussionen hervorrufen, brauchen aber nicht zum Auseinandergehen zu führen.

Aber weil die Gegensätze zwischen „Iskra“. und „Wperjod“ ganz andere sind als die zwischen dem Parti Socialiste Français und dem Parti Socialiste de France, ist es auch nicht angängig, dass das Ausland sich in diese Verhältnisse einmischt, dass sie etwa durch einen internationalen Kongress entschieden werden. Aus unserem Programm folgen wohl taktische Grundsätze, die für alle sozialistischen Parteien die gleichen sein müssen; darüber kann ein internationaler Kongress entscheiden, namentlich dann, wenn er bei einem Zwist darüber von den streitenden Parteien angerufen wird, wie das bei den Franzosen der Fall war, wo in Paris beide Richtungen, in Amsterdam wenigstens eine an den Kongress appellierten. Wie sollte jedoch ein internationaler Kongress entscheiden können, welche Organisationsform in Russland die beste, oder unter welchen Umständen der bewaffnete Widerstand, der Streik, der Bauernaufstand am wirksamsten sei und was wir von den russischen Liberalen zu erwarten haben?

So dringend es wünschenswert ist, dass die beiden Richtungen zu einem Einverständnis kommen, so wenig kann das Ausland dazu tun, höchstens wäre es möglich, das persönliche Misstrauen und die persönliche Verbitterung, die heute jeder Einigung so sehr im Wege stehen, dadurch möglichst zu reduzieren, dass ein unparteiisches Schiedsgericht die persönlichen Anschuldigungen prüfte. Aber auch das ließe sich nicht aufoktroyieren und müsste dem Wunsche aller Beteiligten entsprechen. Die sachlichen Differenzen aber können nur die russischen Sozialdemokraten selbst beseitigen, was freilich nicht so einfach ist, da es den Anschein hat, als hielten sich beide Richtungen die Wage, so dass bei der Natur der geheimen Organisation jede etwaige Mehrheit für die eine Seite von der anderen als Zufallsmehrheit betrachtet werden wird.

Wir dürfen jedoch hoffen, dass es dem Kampfe gegen den gemeinsamen Feind und dem raschen Wechsel der politischen Situationen gelingen wird, die Streitobjekte zu beseitigen und die Einheitlichkeit in der Partei wiederherzustellen.

Wir kommen nun zur dritten Gruppe der russischen Differenzen, jenen, die zwischen den Sozialdemokraten verschiedener Organisationen und Richtungen („Iskra“, „Wperjod“, Jüdischer Arbeiterbund, lettische Sozialdemokratie, Sozialdemokratie von Polen und Litauen) auf der einen Seite und den revolutionären Sozialisten oder, wie man sie gewöhnlich, allerdings höchst undeutsch, nennt, den Sozialisten-Revolutionären, bestehen, den „Terroristen", die dem „Vorwärts" zufolge die Träger der Einigungsbewegung in Russland sind.

Unmittelbar nach dem Gaponschen Aufruf veröffentlichte der „Vorwärts" (am 30. März) einen Brief, den Karl Marx im April 1881 an seine Tochter über die russischen Terroristen jener Zeit schrieb. Der „Vorwärts" entnimmt den Brief der „Vie Socialiste“ und begleitet ihn mit einem Kommentar, der, soweit er historischer Natur, auch aus der „Vie Socialiste“ schöpft, so sehr, dass er die Namen der russischen Attentäter in französischer Schreibart angibt: Mikhailoff (statt Michailoff) Kibaltchich (statt Kibaltschitsch) Jeliaboff (statt Scheljaboff). Aus Eigenem bemerkt er dazu:

In wenigen Zeilen erschöpft hier Karl Marx alles, was überhaupt über die Frage des russischen Terrorismus gesagt werden kann."

Über dieses Urteil wäre niemand mehr erstaunt als Karl Marx selbst, könnte er es heute lesen. Denn was steht in dem Briefe drin?

Erstens die Konstatierung der Tatsache, dass die Urheber des Petersburger Attentats auf Alexander II. „wahre Helden sind, ohne melodramatische Pose" usw.

Vollständig richtig. Das gilt aber heute nicht bloß für die russischen Terroristen, sondern für die gesamte Masse der russischen Revolutionäre, welcher Richtung immer sie angehören mögen. Es besagt also nicht das Mindeste über die Frage des russischen Terrorismus.

Ebenso unzweifelhaft richtig ist die zweite Konstatierung, dass die Taktik der russischen Terroristen eine „spezifisch russische Taktik" und „geschichtlich unvermeidlich" war. Das hat auch meines Wissens niemand bestritten. Aber weit entfernt, „alles zu erschöpfen, was überhaupt über die Frage des russischen Terrorismus gesagt werden kann", wird mit dieser Konstatierung vielmehr erst diese Frage selbst formuliert, ohne dass darin ein Sterbenswörtchen zu ihrer Beantwortung enthalten wäre. Da in dem Briefe aber sonst überhaupt nichts über den russischen Terrorismus zu finden ist, wird die Bewertung seiner „wenigen Zeilen" nur verständlich als Ausdruck eines „Marxismus", der alles in Schatten stellt, was der „orthodoxeste" Marxist bisher geleistet. Diese Bewertung verrät aber auch die Ansicht, dass die heutige Frage des russischen Terrorismus und die vor einem Vierteljahrhundert ganz genau dieselben seien. Denn sonst wäre es doch unmöglich gewesen, selbst in einer vollendeten und bändereichen wissenschaftlichen Untersuchung, geschweige in „wenigen Zeilen", schon im Jahre 1881 die Frage des Terrorismus von 1905 erschöpfend zu beantworten.

Versuchen wir die Frage, wenn auch nicht erschöpfend zu behandeln, so doch kurz anzudeuten, welches die spezifisch russischen Ursachen waren, die den russischen Terrorismus geschaffen.

Sind sie etwa im Absolutismus an sich zu suchen? Sicher nicht. Das ganze europäische Festland war im achtzehnten Jahrhundert dem Absolutismus unterworfen, in der ersten Hälfte des neunzehnten noch Österreich und Preußen, ohne dass eine terroristische Taktik der politisch aufstrebenden Klassen sich aus dieser Situation entwickelte. Die Eigenart des russischen Absolutismus gegenüber dem westeuropäischen besteht darin, dass er ein orientalischer ist; nicht wie jener begründet ans einen Gleichgewichtszustand zwischen einer starken aufstrebenden Bourgeoisie und einem Feudaladel, der das Königtum zum Schiedsrichter und obersten Herrn über beide macht; sondern begründet auf die Abwesenheit einer Bourgeoisie, auf die Vorherrschaft der Landwirtschaft, auf die Zersplitterung des Volkes in unzählige Dorfgemeinden, die ohne jede Verbindung untereinander sind und daher der staatlichen Zentralgewalt ohnmächtig gegenüberstehen, so dass diese unumschränkt über alle die ungeheuren Mittel verfügt, die ihr aus dem Reiche um so mehr erwachsen, je größer es ist.

Im achtzehnten Jahrhundert kam dieser Absolutismus in nähere Berührung mit Westeuropa, dessen staatliche Machtmittel er sich sofort aneignete: Bürokratie, Armee, Flotte und die dem entsprechende Technik. Dazu musste er aber auch eine Klasse von Gebildeten schaffen, die aus dem orientalischen Milieu herauswuchs, um sofort alle die Anschauungen und Bedürfnisse der westeuropäischen Intelligenz anzunehmen. Diese Anschauungen und Bedürfnisse beeinflussten die regierende Schichte selbst bis zu einem gewissen Grade, solange sie sich dadurch gefördert fühlte. Als aber die Intelligenz immer zahlreicher wurde, immer mehr eine Klasse außerhalb der regierenden Schichte bildete und in Gegensatz zu dieser trat, da begann ein Kampf zwischen Intelligenz und Regierung, der sich um so mehr verschärfte und die Intelligenz um so revolutionärer, die Regierung um so reaktionärer machte, je länger er dauerte.

Bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein stand aber die Intelligenz in diesem Kampfe allein, sie fand keine andere Klasse, auf die sie sich stützen konnte, keine starke, selbständige Bourgeoisie, kein rebellisches Kleinbürgertum. In Westeuropa war es diese Klasse gewesen, die von der englischen und französischen Revolution bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts den Kern der revolutionären Volksschichten abgegeben hatte. In Russland stellte der Kleinbürger meist nichts dar als einen entwurzelten Bauern, der noch unter dem Bauern des Dorfes stand, da er in der Stadt den Rückhalt verlor, den diesem die Dorfgemeinde mit ihrem Bodenkommunismus gab. Der Bauer stand höher als der Kleinbürger, aber seine demokratischen und kommunistischen Einrichtungen und Instinkte gingen über den Bereich der Dorfgemeinde nicht hinaus. Für eine staatliche Demokratie fehlte dem russischen Bauern alles Verständnis und Interesse.

Alles das erfuhr die russische Intelligenz, die nach vielen fehlgeschlagenen Versuchen einer demokratischen Propaganda schließlich zur Erkenntnis kam, sie sei dem Absolutismus gegenüber bloß auf ihre eigenen Kräfte angewiesen. Mit diesen aber die ungeheuren Machtmittel einer modernen Staatsgewalt zu besiegen, war unmöglich. So blieb ihr als einzige Form des Kampfes die der Einschüchterung übrig, der Terrorismus, durch den Kampf einzelner Helden, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um die Träger der Staatsgewalt am Leben zu bedrohen. Das war die Wurzel der „geschichtlich unvermeidlichen, spezifisch russischen" Taktik der Terroristen.

Im Zusammenhang mit dieser Taktik standen aber auch ihre eigenartigen sozialistischen Anschauungen. Die russische Intelligenz war, wie wir gesehen, in ihren politischen Anschauungen und Bedürfnissen völlig vom Westen abhängig. Zu der Zeit, als der Terrorismus sich vorbereitete, hatte aber schon der Liberalismus in Westeuropa aufgehört, revolutionär zu sein, war er eine konservative Macht geworden. Es gab da nur noch einen revolutionären Faktor, die Sozialdemokratie. Das wirkte auf die russischen Revolutionäre zurück. Sie wurden nun von vornherein auch Sozialisten. Wo aber in ihrem ökonomisch so rückständigen Lande die Ansatzpunkte für eine Umgestaltung der Gesellschaft im sozialistischen Sinne finden? Eine entwickelte Großindustrie, die solche Ansatzpunkte hätte bieten können, war nicht vorhanden; aber sie glaubten einen vollwertigen Ersatz dafür in einer Einrichtung zu entdecken, die im heutigen Europa „spezifisch russisch" ist, dem Bodenkommunismus der Dorfgemeinde. Das war die Theorie der Narodniki, der Volkstümler, die die theoretische Grundlage der terroristischen Agitation der „Narodnaja Wolja“ wurde.

Ebenso wie der terroristische Kampf gegen die Regierung war auch der bäuerliche Sozialismus der russischen Revolutionäre „geschichtlich unvermeidlich". Damit ist jedoch nicht gesagt, dass ihm nun auch der Erfolg sicher war. Alle politischen Richtungen und Bestrebungen einer bestimmten Epoche sind „geschichtlich unvermeidlich", aber nur ein Teil davon ist bestimmt, zu siegen. Ein anderer Teil muss ebenso unvermeidlich erfolglos vergehen, wie er entstehen musste. Vor vierundzwanzig Jahren konnte man aber noch nicht mit Bestimmtheit behaupten, dass die russische Dorfkommune nicht der Ausgangspunkt einer modernen Art Kommunismus werden könne. Die Gesellschaft als Ganzes kann kein Entwicklungsstadium überspringen; wohl aber können einzelne, rückständige Teile das tun; sie können einen Sprung machen, um sich anderen, vorgeschrittenen Teilen anzupassen. So war es möglich, dass die russische Gesellschaft das kapitalistische Stadium übersprang, um sofort aus dem alten Kommunismus zum neuen überzugehen. Aber Voraussetzung dafür war, dass der Sozialismus im übrigen Europa schon zu einer Zeit siegte, wo in Russland die Dorfgemeinde noch als eine lebendige Kraft bestand. Das konnte anfangs der achtziger Jahre noch möglich erscheinen. Aber schon ein Jahrzehnt später lag die Unmöglichkeit dieses Überganges klar zutage. Die Revolution in Westeuropa ließ länger auf sich warten, und die Dorfgemeinde in Russland verfiel schneller, als zu Anfang der achtziger Jahre noch wahrscheinlich erschien. Damit war entschieden, dass die spezifische Eigenart Russlands, aus der der Terrorismus und Sozialismus der „Narodnaja Wolja“ begründet waren, aufhörten, dass Russland durch den Kapitalismus durchgehen musste, um zum Sozialismus zu gelangen, dass also in dieser Beziehung Russland denselben Wert zurückzulegen hatte wie Westeuropa. Hier wie dort muss der Sozialismus aus der Großindustrie erwachsen und ist das industrielle Proletariat die revolutionäre Klasse und daher die einzige, die imstande ist, bewusst und dauernd einen revolutionären Kampf gegen den Absolutismus zu führen.

Dass die terroristische Taktik der „Narodnaja Wolja“ für sich allein nicht imstande war, den Absolutismus zu stürzen, zeigte sich bald nach dem Zeitpunkt, in dem der Marxsche Brief geschrieben wurde (April 1881). Die Tötung Alexander II. im März 1881 bedeutete den Höhepunkt der terroristischen Erfolge jener Zeit. Was hätten sie noch mehr erreichen können als die Beseitigung des Zaren? Aber die Gesellschaft rührte sich auch nach diesen beispiellosen Erfolgen nicht, keine Klasse stand auf, die todesmutigen Kämpfer zu unterstützen, und so mussten diese schließlich in dem ungleichen Kampfe verbluten.

Marx hat das nicht mehr erlebt, gerade als es offenbar wurde, starb er, 1883. In demselben Jahre erstand aber in Russland eine neue Richtung, die sich bemühte, die revolutionäre Bewegung auf eine neue Grundlage zu stellen. Seit den sechziger Jahren gab es einen industriellen Kapitalismus und ein industrielles Proletariat in Russland; aber anfangs besaß dieses kein besonderes Klassenbewusstsein, stellte es gleich den städtischen Kleinbürgern nur entwurzelte Bauern vor mit bäuerlicher Beschränktheit, aber ohne jene bäuerliche Kraft, welche die Berührung mit der heimatlichen Erde verleiht. In den achtziger Jahren aber begannen Kapitalismus und Proletariat in Russland sich rascher zu entwickeln. Hatte dieses schon in den siebziger Jahren vereinzelte revolutionäre Kämpfer geliefert, so trat jetzt deutlicher zutage, dass hier eine ganze revolutionäre Klasse neu erstand. Es waren Marxisten, die das zuerst erkannten, Axelrod, Deutsch, Plechanow, Wera Sassulitsch, die I883 den „Bund zur Befreiung der Arbeit" gründeten, eine Organisation, die sich theoretisch vollständig aus den gleichen Boden mit der deutschen Sozialdemokratie stellte und nicht nur den Kampf gegen den Absolutismus, sondern auch die Aufklärung und Organisierung der Arbeiter zur Führung eines selbständigen Klassenkampfes auf ihr Programm setzte. Noch waren damals die Bedingungen für eine Arbeiterpartei in Russland höchst ungünstig. Aber die genannten Genossen und ihre Freunde ließen sich dadurch nicht entmutigen. Unermüdlich setzten sie ihre Tätigkeit fort, bis es ihnen gelang, 1898 die russische Sozialdemokratie zu begründen.

Das erreichten sie aber nicht ohne ununterbrochenen energischen Kampf gegen die Narodniki und Terroristen, zu denen sie in der Zeit der größten Kraftentfaltung des Terrorismus selbst gehört. Sowohl ihr Endziel wie ihre Taktik brachte sie in Gegensatz zu den Sozialisten-Revolutionären, die, nachdem die alte Richtung des Terrorismus verschwunden war, mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung eine Neubelebung der Traditionen der „Narodnaja Wolja“ versuchten und sich endlich 1901 als „sozialistisch-revolutionäre Partei" konstituierten.

Die Sozialdemokratie sieht im industriellen Proletariat den Träger der Revolution und der sozialistischen Bewegung. Ein starkes industrielles Proletariat setzt aber einen entwickelten Kapitalismus voraus. Die Sozialdemokratie baut also auf die kapitalistische Entwicklung Russlands, sieht in deren raschem Fortgang die unumgängliche Voraussetzung der Revolution.

Die Terroristen wollten den Sozialismus auf den überlieferten Dorfkommunismus begründen. Das setzte aber die Erhaltung dieses Kommunismus, seiner alten Traditionen und der mit ihm eng verbundenen bäuerlichen Kleinwirtschaft voraus. Die Schwärmerei für den Kleinbetrieb, die Abneigung gegen die ökonomische Entwicklung, die den Dorfkommunismus auflöst, der Wunsch, diese Entwicklung zu hemmen, erzeugten unter den Terroristen ökonomisch reaktionäre Tendenzen, brachten ihre ökonomischen Ziele in Gegensatz zu denen der Sozialdemokratie.

Andererseits aber beruhte der Terrorismus im Grunde in dem zur Zeit seiner Entstehung sehr begründeten Misstrauen gegen die politische Selbsttätigkeit und revolutionäre Gesinnung der Volksmasse; auf der Überzeugung, dass nur durch den Heldenmut einiger weniger entschlossenen Individuen und nicht durch Massenaktionen der Absolutismus gestürzt werden könne. Die Sozialdemokraten wollten gerade dieses Misstrauen zerstören, die Massen in Bewegung setzen, ihnen zeigen, dass nur sie selbst sich befreien könnten, dass sie auf keinen Messias zu rechnen hätten, dass das kühnste und hingebendste Heldentum einzelner unfähig sei, zu leisten, was nur die Erhebung der proletarischen Masse allein leisten könne.

Daher der erbitterte Kampf der russischen Sozialdemokraten zuerst gegen die Narodniki und dann gegen die Sozialisten-Revolutionäre, der nun schon über zwei Jahrzehnte lang währt, und der ebenso „spezifisch russisch" und „geschichtlich unvermeidlich" war, wie ehedem der Terrorismus selbst; unvermeidlich und notwendig, um die revolutionäre Bewegung über unzureichend gewordene Formen ans eine höhere Grundlage zu erheben.

Wenn sie heute diese höhere Grundlage erreicht hat und von ihr aus die Sozialisten dem Absolutismus mit ganz anderer Kraft und ganz anderen Aussichten aus Erfolg zu Leibe gehen, als die „Narodnaja Wolja“ es vermochte, so verdanken wir dies, abgesehen von dem mächtigsten Faktor, der ökonomischen Entwicklung, der russischen Sozialdemokratie und der unermüdlichen Kritik, die sie an den Narodniki und den an diese anknüpfenden Sozialisten-Revolutionären übte.

So gewaltig waren die Wirkungen der ökonomischen Entwicklung und die der Propaganda der russischen Sozialdemokratie, die dank ihrer theoretischen Schulung besser als jede andere revolutionäre Gruppe die Richtung dieser Entwicklung begriff und voraussah, dass die Sozialisten-Revolutionäre selbst sich ihr nicht entziehen konnten. Der Standpunkt der alten „Narodnaja Wolja“ ist heute allenthalben verlassen, der neue Terrorismus ist ein ganz anderer als der alte, er hat sich den neuen Tatsachen und Lehren anpassen und den Klassenkampf des industriellen Proletariats mehr und mehr in Rechnung ziehen müssen. Andererseits ist es naheliegend, dass in der Hitze der Polemik die Sozialdemokraten in ihrem Gegensatz gegen die Sozialisten-Revolutionäre mitunter über die Schnur hauten. Wenn sie die Massenaktion über die Aktion der Bombe setzten, so konnte das manchmal so erscheinen, als lehnten sie grundsätzlich jede terroristische Tat ab, was durchaus nicht in ihrer Absicht lag. Wenn sie das Hauptgewicht auf die Gewinnung und Organisierung der städtischen Proletarier legten und die reaktionären ökonomischen Tendenzen der Bauerngemeinde hervorhoben, so mochte es mitunter scheinen, als unterschätzten sie die Bedeutung, die ein Bauernaufstand in revolutionären Zeiten für die Schwächung des Absolutismus erlangen konnte – was ebenfalls nicht ihre Ansicht war.

Jedenfalls ist der sachliche Gegensatz zwischen den Sozialdemokraten und Terroristen heute geringer als vor zehn und zwanzig Jahren. Aber trotzdem sind die Differenzen groß genug geblieben, um die sozialdemokratischen Organisationen eine Einigung mit den Sozialisten-Revolutionären ablehnen zu lassen.

Diese selbst sind „toleranter“, aber aus dem Grunde, weil sie aus dem Stadium ständiger Gärung noch nicht herausgekommen sind, so dass sie bis heute noch kein festes Programm aufzuweisen haben. Ihre Reihen sind den verschiedensten Richtungen offen – ähnlich wie ehedem die der deutschen Nationalsozialen, mit denen ich sie allerdings sonst nicht vergleichen möchte. Wir finden unter ihnen Leute, die der Sozialdemokratie sehr nahe stehen, ebenso wie Elemente, die dem Anarchismus verwandt sind, und kleinbürgerliche Demokraten und Sozialliberale. Unbestimmt wie ihre Grenzen sind auch ihre Ziele und Kampfesmittel, aber immer wieder bricht der Gegensatz gegen die sozialdemokratische Auffassung durch, nicht bloß in der Theorie, sondern auch in der politischen Praxis.

Das trat zum Beispiel erst vor einigen Monaten zutage, als in Paris die Sozialisten-Revolutionäre im Gegensatz zu den russischen sozialdemokratischen Organisationen einen Bund mit den Liberalen schlossen. Der Riss zwischen ihnen und den Sozialdemokraten wurde dadurch erheblich erweitert – eine sonderbare Manier, das Bedürfnis nach Einigung mit den Sozialdemokraten zu betätigen. Dafür aber gewannen sie freilich die offene Zustimmung des „Vorwärts", dessen Sympathien sie schon lange hatten und der gegen die sozialdemokratischen Organisationen polemisierte, weil diese sich gegen das liberal-sozialistische Bündnis ablehnend verhielten. Er hielt es für dringend notwendig, dass alle Gegner des Absolutismus sich vereinigten. Sicher, nichts wünschenswerter, als eine solche Vereinigung, denn in der Einigkeit liegt die Macht. Sollte aber den russischen Sozialdemokraten dieser Gemeinplatz nicht auch bekannt sein? In der Praxis fragt es sich jedoch stets, wozu man sich vereinigt. Sollten sich alle oppositionelle Elemente vereinigen bloß zu dem gemeinsamen Rufe: Nieder mit dem Absolutismus? Leider sind die Tage von Jericho vorbei. Also mit dem Rufen allein ist es nicht getan. Es heißt kämpfen. Aber zu einem gemeinsamen Kampfe gehört eine gemeinsame Taktik. Die Schaffung einer solchen Taktik ist die Voraussetzung jeder Kampfesgemeinschaft. Lässt man die taktischen Gegensätze bestehen, dann bleibt alle Vereinigung eine wirkungslose Pose. Und als solche hat sich auch der liberal-sozialistische Block erwiesen, trotz der Begeisterung des „Vorwärts" für ihn. Seine erste Tat war auch seine letzte, der Erlass einer von den verschiedenen Organisationen unterzeichneten Proklamation. Darüber ist er nicht hinausgekommen. Seine einzige Leistung waren also ein paar Redensarten.

Wie hätten denn auch zum Beispiel die Liberalen und die Sozialisten-Revolutionäre zusammen kämpfen können? Die Liberalen stützen sich zum großen Teil auf die Großgrundbesitzer, die Sozialisten-Revolutionäre zum Teil auf die Bauern; die ersteren fordern die Konstitution, um ihren Grundbuch zu sichern, die letzteren wollen sich dieses Grundbesitzes bemächtigen. Der Kampf gegen den Absolutismus ist eben auch nur ein Klassenkampf, den jede Klasse in anderer Weise und zu anderen Zwecken führt.* Die verschiedenen Klassen können bei bestimmten Aktionen gelegentlich zusammenwirken; ein dauerndes Bündnis zwischen ihnen, noch dazu im Ausland, für eine ganze revolutionäre Periode mit ihren rasch wechselnden Konstellationen abschließen, ist von vornherein ein Unding.

Nur ein Moment außer dem Hass gegen den Absolutismus vereinigte die verschiedenen Organisationen, die den Bund zu Paris schlossen: ihr Misstrauen gegen die Kampffähigkeit des russischen Proletariats.

Es beseelte die Liberalen. Ihr Vertreter in Paris, der Redakteur der „Oswoboschdenije, Peter Struve, war ehemals Sozialdemokrat gewesen. Er erklärte auch, seinen sozialdemokratischen Zielen nicht untreu zu werden, als er zu den Liberalen überging, sondern Liberaler nur für Russland zu werden, weil dessen Proletariat noch nicht imstande sei, eine selbständige und kampfesfähige politische Partei zu bilden.

Den Sozialisten-Revolutionären steckt trotz aller Häutungen das Misstrauen gegen die Kampfesfähigkeit des russischen industriellen Proletariats immer noch von alters her im Blute. Die polnische sozialistische Partei endlich, die sich dem Pakte anschloss, steht wohl auf dem Boden des Klassenkampfes, aber nur für Polen, und sie motivierte ihre Sonderstellung gegenüber der russischen Sozialdemokratie damit, dass wohl das polnische Proletariat, nicht aber das russische reif zur Revolution sei und jenes sich durch die Rückständigkeit dieses nicht in seinem Befreiungskampf hemmen lassen dürfe. Dies einer der Gründe der Gegnerschaft zwischen ihr und der Sozialdemokratie in Polen und Litauen, die den Kampf als ein Glied der Gesamtheit des Proletariats Russlands führt.

Unmittelbar aber, nachdem die drei erstgenannten und noch einige weniger wichtige Organisationen im Verein mit dem „Vorwärts" die Taktik der russischen Sozialdemokraten für verfehlt erklärt hatten, wurde sie glänzend gerechtfertigt durch die Ereignisse, die dem 9. Januar folgten und die das russische Proletariat als eine revolutionäre Kraft ersten Ranges und als die stärkste revolutionäre Kraft im russischen Reiche erwiesen. Trotzdem lässt der „Vorwärts" nicht davon ab, die Sozialisten-Revolutionäre gegenüber den Sozialdemokraten herauszustreichen, wie erst jüngst wieder die Notiz über Gapon und die Glossierung des Marxschen Briefes zeigt, die völlig sinnlos wäre, wenn sie nicht besagen sollte, dass Marx in erschöpfender Weise dargetan habe, die Taktik der Sozialisten-Revolutionäre sei für die russischen Verhältnisse die einzig richtige.

Die deutschen Genossen merken alle diese Nadelstiche nicht, die der „Vorwärts" ohne Unterlass den russischen Genossen versetzt, da es meist auf indirekte Weise geschieht. Aber um so deutlicher merken es die Getroffenen selbst. Im russischen Proletariat herrscht die höchste Hochachtung, ja Verehrung für die deutsche Sozialdemokratie, die ihm als die Führerin und Vorkämpferin des gesamten internationalen Sozialismus erscheint. Jedes Wort ans dem Munde deutscher Sozialdemokraten wiegt schwer bei ihm. Um so bitterer empfinden es da unsere russischen Genossen, dass seit geraumer Zeit das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie eine Haltung einnimmt, die eine Ablehnung und Missbilligung alles dessen bedeutet, was sie in mühevollster Propaganda seit zwei Jahrzehnten geleistet. Da die deutschen Genossen den russischen Verhältnissen fern stehen und daher in ihrer großen Mehrheit keine Ahnung von dieser Haltung und ihren Konsequenzen haben, ist es nötig, sie einmal darauf hinzuweisen.

Natürlich verlangen wir vom „Vorwärts" nicht, dass er nun in das Gegenteil seiner bisherigen Haltung verfalle und den Sozialisten-Revolutionären feindselig entgegentrete. Trotz aller theoretischen Bedenken müssen wir doch diesen Kämpfern die wärmsten Sympathien entgegenbringen, die erhebliche Schichten des russischen Proletariats vertreten und heldenmütig in das große Ringen gegen den Absolutismus eingreifen, das sich vor unseren Augen vollzieht und ein neues Russland schafft. Diese historische Ausgabe ist so kolossal, dass wir keine Kraft dabei entbehren können, und das Kampffeld ist weit genug, dass für alle Raum zur Betätigung bleibt. Wo wir den Sozialisten-Revolutionären in ihrem Kampfe gegen den Absolutismus helfen können, müssen wir es tun. Aber wir haben nicht die mindeste Ursache, ihnen beizustehen dort, wo sie in Konflikt mit einer sozialdemokratischen Organisation geraten. Diese haben nichts getan, was eine solche Parteinahme rechtfertigen würde.

Auch die sozialistische Einigkeit wird durch derartige Eingriffe nicht gefördert, möge dabei das Wort „Einigkeit" noch so oft im Munde geführt werden.

Zum Glücke sind gerade jetzt weit gewaltigere Kräfte als die weisen Ermahnungen ausländischer Genossen am Werke, die Einigkeit unter den russischen Sozialisten soweit herzustellen, als sie möglich ist. Tiefe Kräfte entspringen aus der Revolution selbst, die die Aktion der russischen Sozialisten immer mehr zu einer öffentlichen Massenaktion macht, in der sich die Differenzen der verschiedenen Gruppen immer mehr auflösen und auf der eine einheitliche Taktik herauswächst, die dann auch eine einheitliche Organisation ermöglicht.

Je weniger anscheinend eine Bewegung vorwärts geht, desto eifriger der Drang nach neuen taktischen Mittein, ihr aufzuhelfen, desto größer aber auch die Verschiedenheiten der Ansichten darüber. Je kleiner eine Bewegung und je geheimer, desto mehr gewinnen aber auch die Meinungsverschiedenheiten der einzelnen Persönlichkeiten in ihr an Kraft, sich zu entfalten und die Parteiaktion zu beeinflussen. Desto leichter führen sie zu Differenzen und Spaltungen. Kleinheit der Partei, Langsamkeit ihres Wachstums und Zwietracht in ihren Reihen gehen meist Hand in Hand. Die letztere ist aber dabei viel mehr Wirkung als Ursache. Die Partei ist eher gespalten, weil sie klein und ohne äußere Erfolge, als klein und erfolglos, weil sie gespalten ist. Wird die Parteibewegung zu einer öffentlichen Massenaktion und erringt diese Sieg auf Sieg, dann verlieren die Differenzen von selbst an Kraft und Bedeutung, dann wirkt die Partei im Laufe des Kampfes immer geschlossener und einheitlicher – soweit sie auf einheitlichen Klasseninteressen beruht, wie die Sozialdemokratie. Eine Partei, die verschiedene und oft gegensätzliche Klassen umfasst, wie die meisten bürgerlichen Parteien, wird freilich im Gegenteil in großen revolutionären Kämpfen eher zur Spaltung als zur Zusammenfassung neigen, wie die Parteientwicklung in Frankreich während der großen Revolution beweist. Gerade in Zeiten der Revolution ist ein „Block" verschiedener Klassen am schwersten zusammenzuhalten.

Der liberal-sozialistische Block war daher schon deshalb, weil die Revolution vor der Tür stand, ein totgeborenes Kind. Dagegen hat die Revolution bereits den sozialdemokratischen Block selbst erheblich gefördert. Aus Polen wie aus Russland wird vielfach mitgeteilt, dass die jüngsten Aktionen gemeinsame Aktionen von sich früher lebhaft befehdenden sozialdemokratischen Organisationen waren.

Wie sich das Verhältnis der sozialdemokratischen Parteien zu den Sozialisten-Revolutionären gestalten wird, ist dabei noch nicht abzusehen. Klassenparteien werden in Revolutionen fester zusammengeschweißt. Parteien, die verschiedene Klassen umfassen, gesprengt. Die Sozialisten-Revolutionäre sind aber keine rein proletarische Partei; sie wollen den Interessen des gesamten „arbeitenden Volkes" dienen, worunter sie Bauern und Kleinbürger ebenso gut verstehen wie Proletarier. Die Revolution wird diese Partei am tiefsten umwandeln; von der Richtung ihrer Umwandlung wird es abhängen, ob sie sich der Sozialdemokratie so weit nähert, dass das heute schon gelegentlich eintretende gemeinsame Zusammenwirken bei bestimmten Aktionen zu einer schließlichen Verschmelzung führt oder ob der Gegensatz zwischen ihnen sich verschärft.

Alles, was wir im Ausland dazu tun können, muss zwerghaft erscheinen gegenüber den kolossalen Kräften, die heute in Russland entfesselt sind und die auch das Verhältnis der einzelnen Parteiorganisationen zueinander bestimmen. Diese Kräfte wirken aber so energisch, so unwiderstehlich im proletarischen Interesse, dass wir nicht die mindeste Ursache haben, den russischen Dingen mit Pessimismus gegenüberzustehen und von einem „Chaos" in der russischen Sozialdemokratie zu reden. Die Verhältnisse der russischen Genossen sind vollständig klar und verständlich für jedem der ihre Entwicklung von Beginn an verfolgt hat. und die Revolution selbst ist daran, sie noch weiter zu klären. Das Chaos ist weit weniger in den Reihen der Sozialisten zu finden, als in denen der herrschenden Klassen. Dort wachsen Zersplitterung, Anarchie, Kampf aller gegen alle. Zu diesem Chaos gesellt sich das Chaos der neu zu politischem Leben erwachenden Volksschichten, namentlich der Bauern. Dieses Chaos wird sich immer mehr steigern, aber in dem Maße, in dem es wächst, wird die Macht und der Einfluss des durch die Lehre vom Klassenkampf geeinigten industriellen Proletariats im Staate zunehmen und wird es immer mehr seinen Stempel dem neuen Russland ausprägen, das schließlich aus dem Chaos erstehen wird.

* Eben, wie diese Zeiten in Satz gehen, wird mir aus Petersburg mitgeteilt, dass dort liberale Blätter den Schatten von Pressefreiheit, dessen sie sich augenblicklich erfreuen, sofort dazu benutzen, gegen die Sozialdemokratie zu polemisieren.

Kommentare