Karl Kautsky‎ > ‎1908‎ > ‎

Karl Kautsky 19080208 Wie geht man an das Studium des Sozialismus?

Karl Kautsky: Wie geht man an das Studium des Sozialismus?

[Nach „Die Neue Zeit: Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie.“ - 26.1907-1908, 1. Band (1907-1908), Heft 20 (8. Februar 1908), S. 708-712]

Diese Frage beantwortet in Nr. 2 und 4 des „Kampf" der Genosse Otto Bauer. Die Antwort enthält bemerkenswerte Fingerzeige. Wir entnehmen ihr daher jenen Teil, der nicht bloß für die österreichischen, sondern für alle Deutsch redenden Genossen von Interesse ist. In Nr. 2 wird die Frage untersucht: Wie studiert man das Parteiprogramm? Es heißt da:

Wer unser Parteiprogramm verstehen lernen will, wird am besten zunächst zu der von Adolf Braun herausgegebenen Broschüre „Ziele und Wege" (Berlin 1906, Verlag Vorwärts, Preis 20 Pfennig) greifen, an der außer dem Herausgeber auch die Genossen Lindemann, Süßheim, Stampfer und die Genossin Zetkin mitgearbeitet haben. Das Schriftchen enthält eine kurze und leicht verständliche Erläuterung unserer Gegenwartsforderungen. Eine treffliche Einführung in die in unserer Prinzipienerklärung zusammengefassten Gedankenreihen enthält die weit verbreitete Broschüre „Grundsätze und Forderungen der Sozialdemokratie" von Karl Kautsky und Bruno Schoenlank (Berlin 1906, Verlag Vorwärts, vierte Auflage).

Wer diese beiden Broschüren gelesen hat, kann sich dann an eine ausführlichere und gründlichere Erläuterung des Parteiprogramms heranwagen. Eine solche gibt Karl Kautsky in seinem Buche „Das Erfurter Programm" (achte, wesentlich verbesserte Auflage. Stuttgart 1907, Verlag von J.H.W. Dietz). Das Buch gehört zu den klassischen Schriften des Sozialismus. Das Studium dieser Schrift ist für jeden, der unser Parteiprogramm studieren will, unerlässlich.

Das sozialdemokratische Programm ist nicht die Gründung eines einzelnen Mannes, auch nicht nur der Beschluss eines Parteitags, sondern das letzte Ergebnis langer wissenschaftlicher Arbeit. Will man es gänzlich verstehen, so muss man die klassischen Schriften der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus studieren. Man beginnt dieses Studium am zweckmäßigsten mit der Lektüre der berühmten Rede Ferdinand Lassalles über „Das Arbeiterprogramm" (Berlin 1907, Verlag Vorwärts). Die Rede zeigt uns die Bewegung der Arbeiterklasse in einem großen historischen Zusammenhang; sie zeigt, wie die feudale Gesellschaft des Mittelalters von der bürgerlich-kapitalistischen abgelöst wurde und wie diese wiederum von der werdenden Gesellschaft, deren Trägerin die Arbeiterklasse ist, abgelöst werden wird.

Hat die Rede Lassalles unseren historischen Blick geschärft, dann können wir es wagen, die „Geburtsurkunde des modernen Sozialismus", die gemeinsame Quelle aller sozialdemokratischen Programme, zu lesen, das „Kommunistische Manifest" von Karl Marx und Friedrich Engels (Berlin 1906, Verlag Vorwärts. Wir lesen vom „Kommunistischen Manifest" zunächst folgende Abschnitte: I. Bourgeoisie und Proletarier, Il. Proletarier und Kommunisten, IV Stellung der Kommunisten zu den verschiedenen oppositionellen Parteien.

Der dritte Abschnitt des „Kommunistischen Manifest" (sozialistische und ökonomische Literatur) macht uns größere Schwierigkeiten, da er geschichtliche Vorkenntnis voraussetzt. Hier setzen sich ja Marx und Engels mit den Lehren und Anschauungen älterer Sozialisten auseinander. Zum besseren Verständnis dieses Abschnitts lesen wir die kleinere Schrift von Friedrich: Engels über „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (Berlin 1907, Verlag Vorwärts). Sie zeigt uns, wie der durch das „Kommunistische Manifest" begründete wissenschaftliche Sozialismus aus dem Boden erwachsen ist, den einerseits die Entwicklung der bürgerlichen Wissenschaft und Philosophie und andererseits die kritischen Leistungen des älteren utopistischen Sozialismus urbar gemacht haben, so lehrt sie uns die historischen Wurzeln, aber auch die unterscheidende Eigenart des von Marx begründeten proletarischen Sozialismus kennen.

Das Verständnis der von uns genannten Schriften von Marx, Lassalle und Engels setzt die genauere Kenntnis ihrer Entstehungszeit voraus. Den Weg hierzu erschließt uns „Die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie" von Franz Mehring (Stuttgart 1906, Verlag von J. H. W. Dietz).

Zum ersten Studium der sozialdemokratischen Gedankenwelt werden die von uns genannten Schriften genügen. Wer tiefer eindringen will, wird freilich noch fleißige Arbeit auf verschiedenen Wissensgebieten nicht scheuen dürfen.“

So Otto Bauer. Es erscheint mir zweckmäßig, die von ihm gegebene Liste noch etwas zu erweitern. So halte ich es für notwendig, dass der Lernende, ehe er an mein „Erfurter Programm" geht, das Marxsche Schriftchen über „Lohnarbeit und Kapital liest. Es ist ein Muster populärster ökonomischer Auseinandersetzung.

An die Lektüre von Lassalles „Arbeiterprogramm" würde ich raten, die seines „Bastiat-Schulze" anzufügen, der die aus dem Arbeiterprogramm gewonnene Einsicht in leicht verständlicher Weise vertieft und erweitert.

Endlich aber würde ich raten, vor dem „Kommunistischen Manifest“ noch Engels' „Lage der arbeitenden Klasse in England" durchzuarbeiten, ein heute viel zu wenig beachtet wird, das in anschaulichster und packendster Form schon die wichtigsten unter den Problemen der Vereinigung von Sozialismus und Arbeiterbewegung entwickelt. die später im „Kommunistischen Manifest" ihre Losung fand. In der Nr. 4 des „Kampf" geht dann Bauer an die Beantwortung der Frage, wie man die Geschichte der Klassenkämpfe zu studieren beginnt. Er führt aus:

Wer die kapitalistische Gesellschaft verstehen will, muss zunächst wenigstens im Umriss die Geschichte ihres Werdens kennen. … Man beginnt das Studium am Zweckmäßigsten mit Engels' Schrift „Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“. Obwohl diese berühmte Schrift in manchen Einzelheiten veraltet ist, obwohl wir heute wissen, dass insbesondere die Entwicklung der Familie nicht so gradlinig ist, nicht bei allen Völkern so gleichartig verlaufen ist, wie die Wissenschaft dies in der Entstehungszeit dieses Buches annahm, so bleibt sie doch die weitaus beste Einführung in die Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft. Als eine Ergänzung kann die kurze Abhandlung über die „Mark" angesehen werden, die Engels im Anhang zu seiner „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" veröffentlicht hat. Über die Wirtschaftsverfassung und Klassenkämpfe des Mittelalters finden wir sehr viel Wertvolles in dem von Karl Kautsky herausgegebenen Sammelwerke „Die Vorläufer des Sozialismus". Für die wichtige Übergangsperiode vom Mittelalter zur Neuzeit ist zur Ergänzung auch Kautskys „Thomas More und seine Utopie" heranzuziehen.

In die Periode des Frühkapitalismus und modernen Absolutismus führen uns Kampffmeyers „Geschichte der modernen Gesellschaftsklassen in Deutschland“ und Mehrings „Lessing-Legende". über die große Umwälzung, die die französische Revolution den europäischen Völkern gebracht, unterrichten uns Blos, „Die französische Revolution 1789", Kautsky, „Die Klassengegensätze von 1789“. Die großen Kämpfe des neunzehnten Jahrhunderts werden uns in den folgenden Schriften trefflich dargestellt: Mehring, „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“, Blos, „Die deutsche Revolution"; Heritier, „Geschichte der französischen Revolution von 1848"; Bach, „Geschichte der Wiener Revolution"; Lissagaray, „Geschichte der Kommune von 1871"; Webb, „Geschichte des britischen Trade Unionismus“. Wir schließen das Studium der historischen Literatur des Sozialismus mit den berühmten historischen Streitschriften Karl Marx': „Revolution und Konterrevolution in Deutschland", „Die Klassenkämpfe in Frankreich", „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte".

Die wertvolle bürgerliche Literatur über Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ist den Arbeitern nicht zugänglich, da sie in umfangreichen Werken niedergelegt ist, deren Lektüre geschichtliche und juristische Vorkenntnisse voraussetzt. In jüngster Zeit haben aber einige große Verlagsbuchhandlungen Sammlungen populärwissenschaftlicher Schriften herausgegeben; in einigen dieser billigen und verhältnismäßig leicht lesbaren Büchlein sind die wertvollsten Ergebnisse der neueren historischen Forschung kurz zusammengefasst. So können wir unseren Lesern beispielsweise folgende Schriften empfehlen: Aus der von Teubner in Leipzig herausgegebenen Sammlung „Aus Natur und Geisteswelt": Steinhausen, „Germanische Kultur in der Urzeit"; Heil, „Die deutschen Städte und Burgen im Mittelalter", Otto, „Das deutsche Handwerk in seiner kulturgeschichtlichen Entwicklung"; Pohle, „Die Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens im neunzehnten Jahrhundert"; G. Maier, „Soziale Bewegungen und Theorien bis zur modernen Arbeiterbewegung“; aus der „Sammlung Göschen": Tönnies, „Die Entwicklung der sozialen Frage''. Einige dieser Schriften enthalten auch gute Literaturangaben.

Wir raten dem Leser, zuerst die von uns an erster Stelle genannten historischen Schriften aus unserer Parteiliteratur. und dann erst die von bürgerlichen Gelehrten verfassten Bändchen zu lesen. Diese Reihenfolge empfehlen wir nicht nur darum, weil unsere Parteischriften sich einer leichter verständlichen Darstellungsweise befleißigen, sondern auch deshalb, weil die wahllose und ungeordnete Lektüre von Schriften, die die Entwicklung der Gesellschaft unter ganz verschiedenen Gesichtswinkeln sehen, den noch ungeschulten Leser leicht verwirren und an der Möglichkeit eines bestimmten und eindeutigen Urteils verzweifeln lassen könnte. Liest man zuerst die historische Literatur des Sozialismus in einem Zuge, so sieht man die Entwicklung der Volkswirtschaft in großen Zügen klar und wohlgegliedert vor sich ausgebreitet. Studiert man sodann wiederum der Reihe nach die von uns genannten Darstellungen aus dem bürgerlichen Lager, dann lernt man auch den dem unseren entgegengesetzten Standpunkt kennen. Die Gegensätzlichkeit der Urteile wird den Leser dann nicht mehr verwirren, viel mehr wird er nun selbst zwischen den beiden großen Richtlinien der Geschichtsbetrachtung zu wählen vermögen.“

Namentlich die letzteren Ausführungen sind sehr bemerkenswert, um so mehr, da unser deutscher Referentenführer gerade von der entgegengesetzten Anschauung ausgeht. Sein Kritiker im „Vorwärts" hatte mit Recht bemängelt: „Ein Hinweis darauf, dass der Schüler erst fest sein muss in den Grundlagen, ehe er sich auf das strittige. Gebiet begibt. fehlt." Darauf erwiderte David:

Nichts kennzeichnet den Mann besser als dies. Also zuerst werden dem Schüler die Grundlagen als absolute Wahrheiten eingehämmert, damit sie fest sitzen; dann, so hofft man, werden ihm kritische Ketzereien nichts mehr anhaben können. Genau so macht's auch die katholische Kirche bei der Erziehung ihrer Gläubigen, um sie vor „Verwirrung" zu bewahren. … Wollte die Sozialdemokratie diese Methode der alleinseligmachenden Kirche akzeptieren, so müsste sie ihren geistigen Bankrott anmelden."

Was David als Methode der „alleinseligmachenden Kirche“ bezeichnet, ist in Wirklichkeit die Methode der Wissenschaft. Man studiert nicht in der Weise, dass man wie Kraut. und Rüben alles durcheinanderliest, um sich seine „Unbefangenheit" zu bewahren. Der Anfang jedes Studiums ist freilich bei jedem selbständig denkenden Kopf ein unsicheres Suchen und Tasten. Aber ist man so weit gekommen, sich einmal für einen Standpunkt zu entscheiden – und so weit ist jeder, der Sozialdemokrat wird – dann hat man vor allem die Aufgabe, sich über diesen Standpunkt völlig klar zu werden, alle Konsequenzen zu durchdenken, die sich von ihm aus ergeben, diejenigen Werke durchzuarbeiten, die ihn am gründlichsten beleuchten. Hat man sich zu völliger Klarheit über den eigenen Standpunkt durchgerungen, dann kann man daran gehen, ihn selbständig anzuwenden zur Erkenntnis der Wirklichkeit und ihn zu messen an den anderen Standpunkten. Da kann es wohl vorkommen, dass der zuerst gewählte Standpunkt einen nicht befriedigt. dass man nach einem anderen sucht, in den man sich, wenn man ihn gefunden hat. dann ebenso wieder einarbeiten muss, wie in den zuerst angenommenen.

David verrät eine merkwürdige Missachtung des menschlichen Geistes, wenn er glaubt, ein gründliches Durchdringen des eigenen Standpunktes mache unfähig, die Eigenart anderer Standpunkte zu begreifen. Sie befähigt vielmehr erst dazu und zu fruchtbringender Arbeit. Wer dagegen, ehe er einen festen Standpunkt eingenommen hat und zu völliger Klarheit über ihn gekommen ist, sich zwischen den verschiedensten Standpunkten wahllos umhertreibt, wird nie zu einer konsequenten methodischen Lebensarbeit kommen. Ein solcher bleibt eine unstete Flocke, deren Richtung von dem Wind abhängt. der sie jeweilig erfasst und weiter trägt.

Wenn die katholische Kirche von ihren Gläubigen nichts anderes verlangte als gründliches Studium des eigenen Standpunkts, ließe sich nichts dagegen einwenden. Aber sie verlangt mehr: sie fordert den Verzicht auf jede Kenntnisnahme der gegnerischen Literatur für alle Zeit. Das ist es, was den geistigen Bankrott der Kirche bedeutet. Will dagegen David etwa behaupten, dass wir Marxisten irgendwie die bürgerliche Kritik zu scheuen hätten und jemals getrachtet hätten, sie vor den Genossen zu verheimlichen? Worin besteht die propagandistische Kraft unserer Partei in den mit bürgerlicher Literatur großgezogenen Volksschichten, wenn nicht im Marxismus?

Die gröblichste Herabsetzung unserer Parteiliteratur leistet sich aber David in jenem Satz, in dem über gründliches Studium, das der Kritiker im „Vorwärts“ verlangte, verhöhnt wird als „Einhämmern der Grundlagen als absolute Wahrheiten". Dieser Satz bekommt nur dann einen Sinn, wenn man annimmt. Dass die Parteiliteratur die beweislose Annahme von Glaubenssätzen als höhere Offenbarungen fordert, dass sie für sich allein nicht zu selbständigem Denken anregt und befähigt, sondern dass sie ihren Lesern ebenso wie die Schriften der katholischen Kirche das Gehirn verkleistert, wenn dieses nicht durch das gleichzeitige Lesen bürgerlicher Literatur offen gehalten wird.

Von einer besseren Erkenntnis des wissenschaftlichen Wertes unserer Parteiliteratur und der Wichtigkeit ihres gründlichen und methodischen Studiums sind die Anleitungen Otto Bauers dazu im „Kampf" eingegeben. Sollten sie fortgesetzt werden, werden wir unseren Lesern davon Bericht erstatten.

K. K.

Kommentare