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Karl Marx 18590201 Brief an Joseph Weydemeyer

Karl Marx: Brief an Joseph Weydemeyer

in Milwaukee

[Nach Marx Engels Werke, Band 29, Berlin 1978, S. 570-573]

1. Februar 1859

9, Grafton Terrace, Maitland Park,

Haverstock Hill, London

Lieber Weiwi,

Dein Brief ist datiert 28. Februar 1858, kam hier an Ende Mai (wenigstens in meine Hand) und die Antwort erfolgt im Februar 1859. Die Gründe sind einfach: Während der Frühlings- und Sommermonate war ich fortwährend leberkrank und fand nur mit Mühe die Zeit für die notwendige Arbeit. Schreiben, wo nicht absolut nötig, war daher out of the question1. In den spätem Monaten aber war die Arbeit überwältigend.

Zunächst nun herzlichen Gruß an Dich und die Deinen von allen Familiengliedern, ebenso von Engels und Lupus und Freiligrath. Ich empfehle mich noch speziell Deiner lieben Frau.

Engels ist stets in Manchester; Lupus ebendaselbst gibt Stunden und steht erträglich gut; Freiligrath ist in London Manager eines Zweigs des Schweizer Credit mobilier; Dronke ist Kommissionsagent in Glasgow; Imandt (ich weiß nicht, ob Du ihn kennst) ist Professor in Dundee; unser lieber Freund Weerth ist leider in Haiti gestorben, ein unersetzlicher Verlust.

Mir ging es eher schlecht als gut während der letzten 2 Jahre, da einerseits die brave „Tribune" bei Gelegenheit der Krise meine Einnahme um die Hälfte kürzte, obgleich sie mir in Zeiten der Prosperität nie einen Pfennig Zuschuss geben; andererseits die Zeit erheischt für meine Studien über politische Ökonomie (darüber gleich mehr) mich zwang, sehr einträgliche Anerbietungen, die mir in London und Wien gemacht waren, (wenn auch mit schwerem Herzen) abzulehnen. Aber ich muss meinen Zweck durch dick und dünn verfolgen und der bürgerlichen Gesellschaft nicht erlauben, mich in eine money-making machine2 zu verwandeln.

Herr Cluß war .vergangenen Mai hier. Ich befand mich gerade bei Engels in Manchester. C[luß] besuchte meine Frau, hatte eine Einladung für den andern Tag angenommen; wer nicht erschien, war C[luß]. Er [verschw]and3 aus London, ohne sich wieder sehen zu lassen. Statt dessen sandte er meiner Frau einen [Wi]sch, der aus „Verlegenheit" eine „grobe" Tournure4 hatte. Ebenso wenig sprach er in Manchester vor. Später erfuhren wir dann, dass er sich mit Herrn Willich alliiert hatte. Dies erklärte dann auch den mysteriösen Abbruch seiner Korrespondenz. Wenn wir eitel wären, wären wir gehörig gezüchtigt worden durch die Erfahrung, dass ein Narr wie Willich uns bei einem gescheuten Mann wie Cluß aus dem Sattel heben kann. So aber war das Abenteuer zu komisch, um nicht alle bittere Empfindung auszulöschen.

Mit Ernest Jones habe ich gebrochen. Trotz meiner wiederholten Warnung, und obgleich ich ihm exakt voraussagte, was eingetroffen ist - nämlich, dass er sich ruinieren und die Chartistenpartei desorganisieren würde – hat er sich auf Vermittlungsversuche mit den bourgeois radicals5 eingelassen. He is now a ruined man6, aber der Schade, den er dem englischen Proletariat getan, ist außerordentlich. Die Scharte wird natürlich wieder ausgewetzt werden, aber ein sehr günstiger Moment für Aktion ist verloren worden. Denke Dir eine Armee, deren General am Tage vor der Schlacht ins feindliche Lager überläuft.

Du wirst gehört haben, dass Herr Kinkel wieder ein berühmter Mann geworden, weil Frau Kinkel zum Fenster herausgefallen und den Hals gebrochen hat. Der „heitre" Kunde – der sich nie so wohl fühlte als seit dem Tod der alten Mockel – beschloss sofort, seinen „Schmerz" herum zu hausieren. Freiligrath ließ sich durch die melodramatischen Szenen Gottfrieds verleiten, ein Gedicht auf Johanna zu machen, was er jetzt schon bereut, da er sich überzeugt hat, erstens, dass Gottfried kreuzfidel ist, zweitens aber, dass er das Gedicht benutzt hat, um sofort in alle Welt die Lüge zu verbreiten, F[reiligrath] habe sich mit ihm alliiert und mit uns gebrochen. Gottfried, der sofort den durch den Tod seiner Frau veranlassten Kinkel-revival7 ausbeuten wollte, gab eine Woche später eine Wochenschrift in London heraus, benamset „Hermann". Wenn dies nicht der „Hermann" ist, den Schönaich gedichtet und Gottsched gekrönt hat, sollte der Titel sein „Gottfried". Einmal predigt das Blättchen Frieden mit Gott und der Welt, und zweitens ist es bloß Reklame für Herrn Gottfried bei dem Londoner deutschen Cityphilisterium. Etwas Elenderes ist nie erschienen, und wir können uns gratulieren, dass die 10 Jahre Exil die Hohlheit unsrer demokratischen Freunde so völlig herausgearbeitet haben. Die „Kölnische Zeitung" ist, damit verglichen, geistreich und kühn.

Das Schönste bei Kinkels Exploitation des Todes seiner Frau ist, dass diese Person, die an Herzkrankheit litt, exasperiert8 war, weil der süße Pfaffe eine Jüdin namens Herz verführt hatte und sie überhaupt „kalt" behandelte. Die Jüdinnen in Manchester schwören darauf, dass dies der Grund, warum die verewigte Johanna Mockel zum Fenster herausfiel. Jedenfalls würde das beweisen, dass, so albern Gottfried sonst ist, er Schlauheit besitzt in der Ausbeutung der öffentlichen Credulity9. Doch genug von diesem Humbug.

Die Revolutionsluft, die auf dem europäischen Kontinent bläst, hat natürlich alle großen Männer wieder von ihrem Winterschlaf erweckt.

Gleichzeitig mit diesem Brief geht einer, und zwar der erste, an Komp ab. Verbindungen – organisierte – habe ich aufgegeben. Für die deutschen Freunde fand ich sie kompromittierlich. Hier dagegen, nach den Gemeinheiten, die ich von Seiten der Knoten erfahren, die sich als reine Werkzeuge eines Kinkels, eines Willichs und anderer Humbugs gegen mich hatten benutzen lassen, habe ich, seit dem Kölner Prozess, mich vollständig in meine Studierstube zurückgezogen. Meine Zeit war mir zu kostbar, um sie in vergeblichen Anstrengungen und kleinlichen Zänkereien zu verschleißen.

Und nun zur Hauptsache. Meine „Kritik der Politischen Ökonomie" wird heftweise (die ersten Hefte in 8-10 Tagen von heute) bei Franz Duncker in Berlin (Bessersche Verlagsbuchhandlung) erscheinen. Nur dem außerordentlichen Eifer und Überredungstalent von Lassalle ist es gelungen, Duncker zu diesem Schritt zu bewegen. Indes hat er sich eine Hintertüre offen gelassen. Der definitive Kontrakt hängt vom Verkauf der ersten Hefte ab.

Ich teile die ganze politische Ökonomie in 6 Bücher:

Kapital; Grundeigentum; Lohnarbeit; Staat; Auswärtiger Handel; Weltmarkt.

Buch I vom Kapital zerfällt in 4 Abteilungen.

Abteilung I: Das Kapital im Allgemeinen zerfällt in 3 Kapitel: 1. Die Ware; 2. Das Geld oder die einfache Zirkulation; 3. Das Kapital. 1. und 2., about10 10 Bogen, bilden den Inhalt der erst erscheinenden Hefte. Du begreifst die politischen Gründe, die mich bewogen, mit dem 3ten Kapitel über „das Kapital" zurückzuhalten, bis ich wieder Fuß gefasst habe.

Der Inhalt der erscheinenden Hefte ist folgender: Erstes Kapitel: Die Ware.

A. Historisches zur Analyse der Ware. (William Petty (Engländer unter Karl II.); Boisguillebert (Louis XIV.); B. Franklin (erste Jugendschrift 1729); die Physiokraten; Sir James Steuart; Adam Smith; Ricardo und Sismondi.)

Zweites Kapitel: Das Geld oder die einfache Zirkulation.

1. Maß der Werte.

B. Theorien über die Maßeinheit des Geldes. (Ende des 17ten Jahrhunderts Locke und Lowndes, Bischof Berkeley (1750)11; Sir James Steuart; Lord Castlereagh; Thomas Attwood; John Gray; Proudhonisten.)

2. Zirkulationsmittel.

a) Die Metamorphose der Waren.

b) Der Umlauf des Geldes.

c) Münze. Wertzeichen.

3. Geld.

a) Schatzbildung.

b) Zahlungsmittel.

c) Weltgeld (money of the world).

4. Die edlen Metalle.

C. Theorien über Zirkulationsmittel und Geld. (Monetarsystem; „Spectator"12, Montesquieu, David Hume; Sir James Steuart; A. Smith, J.-B. Say; Bullion Committee13, Ricardo, James Mill; Lord Overstone und Schule; Thomas Tooke (James Wilson, John Fullarton).)

In diesen 2 Kapiteln wird zugleich der Proudhonsche, jetzt in Frankreich fashionable14 Sozialismus, der die Privatproduktion bestehen lassen, aber den Austausch der Privatprodukte organisieren, der die Ware will, aber das Geld nicht will, in der Grundlage kaputtgemacht. Der Kommunismus muss sich vor allem dieses „falschen Bruders" entledigen. Aber abgesehen von allem polemischen Zweck weißt Du, dass die Analyse der einfachen Geldformen der schwierigste, weil abstrakteste Teil der politischen Ökonomie ist.

Ich hoffe, unserer Partei einen wissenschaftlichen Sieg zu erringen. Sie muss aber jetzt selbst zeigen, ob sie zahlreich genug ist, genug Exemplare zu kaufen, um den Buchhändler über seine „Gewissensskrupel" zu beruhigen. Von dem Verkauf der ersten Hefte hängt der Fortgang des Unternehmens ab. Habe ich erst definitiven Kontrakt, so ist alles all right15.

Salut.

Dein

K. Marx

1 außer Frage

2 Gelderwerbsmaschine

3 Papier beschädigt

4 Form

5 bürgerlichen Radikalen

6 Er ist jetzt ein ruinierter Mann

7 Kinkel-Auferstehung

8 aufgebracht

9 Leichtgläubigkeit

10 ungefähr

11 George Berkeley, „The querist, containing several queries, proposed to the consideration of the public", London 1750.

12 Wie aus der Arbeit „Zur Kritik der Politischen Ökonomie" ersichtlich, bezieht sich Marx auf „The Spectator" vom 19. Oktober 1711.

14 modische

15 in Ordnung

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