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Wladimir I. Lenin 19040526 Brief an die Mitglieder des Zentralkomitees

Wladimir I. Lenin: Brief an die Mitglieder des Zentralkomitees1

[Geschrieben am 26. Mai 1904 Veröffentlicht mit einigen Änderungen im Jahre 1904 in der Broschüre N. Schachows „Der Kampf um den Parteitag", Genf. Nach Sämtliche Werke, Band 6, Wien-Berlin 1930, S. 454-458]

Liebe Freunde! Boris teilte mir mit, dass fünf Mitglieder des Zentralkomitees (er, Loschadj, Valentin, Mitrofan und Trawinski) mir wegen meiner Abstimmung im Parteirat für einen Parteitag und wegen meiner Agitation für einen Parteitag eine Rüge erteilt haben. Ich bitte jeden der fünf Genossen, mir diese Tatsache zu bestätigen oder sie zu klären, denn ich kann nicht begreifen, wie man einem Mitglied des Kollegiums eine Rüge erteilen kann, weil er etwas tut, was sein Recht und seine Pflicht ist. Man kann mit ihm nicht einverstanden sein, man kann ihn aus dem Parteirat abberufen, aber eine „Rüge zu erteilen", ist sehr merkwürdig, denn solange ich im Parteirat war, war ich verpflichtet, meine Stimme meiner Überzeugung entsprechend abzugeben. Ebenso ist die Agitation für einen Parteitag das Recht eines jeden Parteimitgliedes und eines jeden Mitgliedes des Zentralkomitees, so dass die Vollmachten des Kollegiums gegenüber dem Parteimitglied niemand von uns in dieser Hinsicht (weder formal noch moralisch) beschränken können. Ich bin nur verpflichtet, mitzuteilen, dass die Hälfte oder mehr als die Hälfte des Zentralkomitees gegen den Parteitag sind.

Was den Parteirat betrifft, so steht die Sache jetzt so: Boris ist (mit fünf Stimmen, wie er sagt) anstatt Kol ernannt worden. Mein Rücktritt ist (wie er sagt) nicht angenommen. Ich nehme meine Demission zurück und bleibe im Rat. Von dieser Seite ist der Konflikt beigelegt, und ich bitte nur um Aufklärung hinsichtlich der „Rüge".

Aber viel wichtiger ist folgender Konflikt: Boris erklärte mir, er halte es nicht für möglich, im Zentralkomitee zu bleiben, wenn ich erstens die Agitation zugunsten eines Parteitags nicht einstelle und zweitens einem Parteitag nicht entgegenwirken werde. Selbstverständlich kann ich weder das eine noch das andere tun, und darum antwortete ich Boris, dass ich mich mit allen Kollegen aus dem Zentralkomitee auseinandersetzen und ihm dann die Antwort geben werde, und zwar — ob ich aus dem Zentralkomitee ausscheide oder nicht. Hinsichtlich dieses Konfliktes, der zum Rücktritt eines von uns (oder sogar eines der beiden Teile des Zentralkomitees) zu führen droht, halte ich eine eingehende Auseinandersetzung in aller Ruhe und mit Sachkenntnis für dringend geboten. Ich muss mich über Boris sehr beschweren, weil er sein „Ultimatum" aufgestellt hat, ohne die Protokolle der Parteiratssitzungen (die sehr wichtig sind!) oder meine Broschüre gelesen zu haben, in der ich meine prinzipielle Stellung auseinandersetze. Ist es vernünftig, den Konflikt zu verschärfen, ohne mit der sehr verwickelten Frage vertraut zu sein?? Ist es vernünftig, ihn zu verschärfen, wenn wir im Wesentlichen einig sind (wenigstens unterstreicht die von Valentin geschriebene Erklärung des Zentralkomitees, die uns geschickt wurde, aber nicht in unsere Hände gelangte, und von der mir Boris erzählte, unsere gemeinsame prinzipielle Stellung in der organisatorischen Frage, zum Unterschied von der opportunistischen Stellung der Minderheit)? Sogar hinsichtlich des Parteitags sind wir nur in der Frage des Zeitpunktes verschiedener Meinung, denn Boris lehnt es keineswegs ab, den Parteitag ein halbes oder ein Jahr später einzuberufen. Seht, was sich ergibt: der Parteitag muss rechtmäßig im kommenden Sommer stattfinden; ich bin der Ansicht, dass im besten Falle, im Falle des vollständigen Erfolges unserer Agitation, die Einberufung früher als in einem halben Jahr nicht möglich ist, sich wahrscheinlich sogar noch länger hinziehen wird. Unsere „Meinungsverschiedenheit" betrifft also die Bestimmung des Zeitpunktes! Ist es vernünftig, aus diesem Grunde auseinanderzugehen? Betrachtet die Angelegenheit vom rein politischen Standpunkt: Boris sagt, die Agitation für den Parteitag sei unvereinbar mit der Festigung der positiven Arbeit, die erste schädige die zweite. Ich teile die Ansicht über diese Unvereinbarkeit nicht, aber nehmen wir sogar an, Boris habe recht. Nehmen wir an, er werde es durchsetzen, dass die mit ihm in dieser Frage nicht einverstandenen Genossen aus dem Zentralkomitee ausscheiden. Welches wird das Ergebnis sein? Zweifellos eine ungeheure Zuspitzung der Agitation, eine Zuspitzung in den Beziehungen der Mehrheit zum Zentralkomitee, eine Zuspitzung auch für Boris in der ihm unangenehmen Arbeit, dem Parteitag entgegenzuwirken. Lohnt es sich, die Sache so zuzuspitzen? Boris sagt, er sei gegen den Parteitag, denn der Parteitag bedeute die Spaltung. Ich denke, dass Boris hier die heutige und die morgige Lage falsch einschätzt, aber selbst wenn Boris recht hätte, so würde er, wenn er unser Ausscheiden aus dem Zentralkomitee durchsetzt, dadurch die Wahrscheinlichkeit der Spaltung gewaltig vergrößern, eben weil er zweifellos die Lage zuspitzen würde. Die Zuspitzung des Konfliktes innerhalb des Zentralkomitees ist von keinem Standpunkt aus zweckmäßig.

Sachlich sind Boris und ich nur soweit verschiedener Meinung, als er die Spaltung auf dem 3. Parteitag für unvermeidlich hält, ich aber für unwahrscheinlich. Wir beide denken, dass der 3. Parteitag uns die Mehrheit geben wird. Boris glaubt, die Minderheit werde die Partei verlassen: weder wir noch Martow würden die Extremen halten können. Ich denke, dass Boris die sich rasch entwickelnde Situation nicht in Betracht zieht, die heute nicht mehr die ist, die sie gestern war, und morgen anders sein wird, als sie heute ist. Boris steht auf dem Standpunkt der gestrigen Situation (als das Gezänk die Prinzipien in den Hintergrund schob, als man auf eine Einrenkung, eine Vertuschung, auf den Erfolg persönlicher Zugeständnisse hoffen konnte). Diese Lage besteht nicht mehr, wie ich in meiner Broschüre ausführlich nachzuweisen suche und wie die allgemeine Unzufriedenheit mit der neuen „Iskra" (sogar so weicher Leute, wie es die literarische Gruppe beim Zentralkomitee in Russland ist) beweist. Die heutige Situation ist schon eine andere: die Prinzipien verdrängen das Gezänk. Es geht bei weitem nicht mehr um die Kooptation. Es geht darum, ob die neue „Iskra" prinzipiell recht hat? Gerade die Unzufriedenheit mit der prinzipiellen Stellung der neuen „Iskra", die unvermeidlich immer mehr wachsen wird, ruft in immer stärkerem Maße die Agitation für den Parteitag hervor: diesen Umstand zieht Boris nicht in Betracht. Die morgige Situation wird das Gezänk noch mehr in den Hintergrund schieben. Einerseits wird auch die Minderheit moralisch und politisch nicht fortgehen können (der Augenblick, der nach dem Ligakongress vorhanden war, ist verpasst). Anderseits sind wir keineswegs gegen eine Verständigung, wie ich bereits im Parteirat erklärt habe (ich bitte euch alle noch einmal, unbedingt die Protokolle der Sitzungen des Parteirats zu lesen, bevor ihr über eine schwierige Frage entscheidet) . Ich sage allen und jedem, dass ich persönlich unbedingt bereit bin, 1. allen alten Redakteuren zu garantieren, alles, was sie schreiben werden, ohne Änderungen und Anmerkungen auf Kosten der Partei herauszugeben; 2. bis zum vierten Parteitag das Recht des Zentralkomitees, Mitglieder der Ortskomitees zu ernennen und auszuschließen, aufzuheben; 3. durch eine besondere Resolution die besonders dringlichen Rechte der Minderheit zu garantieren und sogar 4. – bedingt, im äußersten Falle, die „Iskra" neutral zu machen und die beiderseitige Polemik in ihr einzustellen (mit Hilfe einer Kommission von in der praktischen Arbeit stehenden Genossen beider Seiten usw.). Ich denke, dass die Minderheit des 3. Parteitages, die nur eine kleine Minderheit sein wird, bei einer solchen Lage den Parteitag nicht wird verlassen können. Ich denke, dass wir auf dem 3. Parteitag das Phantasiegebilde des „Belagerungszustandes" durch formelle Beschlüsse endgültig zerstören und durchsetzen werden, dass die Diskussionen die positive Arbeit nicht stören. Das ist doch in der Krise das Wichtigste! Das wollte ich im Parteirat erreichen, dafür werden sicherlich acht Zehntel des Parteitages eintreten! Ich weiß sehr gut, dass auch Boris das erzielen will, aber ohne Parteitag ist es nicht zu erzielen. Boris irrt, wenn er glaubt, wir hätten den Ansturm begonnen (durch die Agitation für den Parteitag) und dadurch sei die Minderheit gereizt worden. Umgekehrt: erst nach einer Reihe von Briefen und Aufrufen vor den Sitzungen des Parteirats und während dieser Sitzungen sind wir für den Parteitag eingetreten, und nur durch die Agitation haben wir unsere Kraft etwas gezeigt. Wer nicht in die lächerliche (noch gut, wenn nur lächerliche!) Lage Plechanows geraten will (lest sein Feuilleton in Nr. 652), der muss eine offene und klare Stellung im Kampf einnehmen. Die Agitation für den Parteitag kann jetzt durch nichts aufgehalten werden. Man muss sich ihr gegenüber duldsam, wenn man will neutral, verhalten, dann wird sie die positive Arbeit nicht stören. Erregt gegen diese Agitation aufzutreten, ist nutzlos.

Ich bitte jeden der Genossen vom Zentralkomitee dringend, mir zu antworten. Wir müssen uns unbedingt verständigen und uns die Sache klarmachen, um zusammen zu arbeiten – nicht ohne gewisse Meinungsverschiedenheiten, aber ohne Konflikte und gegenseitige Hinausschmisse.

1 Um diesen Brief an die Mitglieder des Zentralkomitees und die darauf folgende Erklärung dreier Mitglieder des Zentralkomitees zu verstehen, muss man im Auge haben, dass die Zusammensetzung des Zentralkomitees in den Jahren 1903/04 folgendermaßen geändert wurde: auf dem 2. Parteitag (August 1903) wurden Krschischanowski (Trawinski), Noskow-Glebow (Boris) und Lengnik (Kol, Wassiljew) ins Zentralkomitee gewählt; im Oktober (n. St.) wurden Krassin (Nikititsch, Loschadj), Semljatschka (Ossipow), Gussarow (Mitrofan) und Essen (Swerjew), im November Galperin (Valentin) und Lenin hinzukooptiert. Im ganzen waren es also 9 Mitglieder.

In der Erklärung der drei Mitglieder des Zentralkomitees erwähnt Lenin die Resolution des Zentralkomitees gegen die Einberufung des Parteitags; diese (im Februar 1904) mit 5 gegen 4 Stimmen angenommene Resolution hatte vorübergehend das Ausscheiden Lenins und Lengniks aus dem Parteirat zur Folge. Für diese Resolution, deren Annahme ein Schwanken des Zentralkomitees in der Richtung der Menschewiki und einen ernsten Schritt auf dem Wege zum Versöhnlertum bedeutete, hatten gestimmt: Noskow, Krassin, Gussarow, Galperin, Krschischanowski. Gegen die Resolution waren Lenin, Lengnik und Essen im Auslande und Semljatschka in Russland aufgetreten.

2 Lenin meint den Artikel Plechanows „Zentralismus oder Bonapartismus (Ein neuer Versuch, die Frösche zur Vernunft zu bringen, die gern einen König haben möchten)" („Iskra" Nr. 65 vom 1. Mai 1904). In diesem Artikel, der eine Antwort auf den Brief der Komitees von Ufa usw. ist (siehe „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“), erklärte Plechanow, dass er für die „Schaffung einer starken zentralistischen Organisation" eintrete, aber dagegen sei, dass man dem Zentralkomitee umfassende Vollmachten (z. B. das Recht der Auflösung der Komitees) einräume, denn das sei „Bonapartismus, wenn nicht die absolute Monarchie nach alter vorrevolutionärer ,Manier' ". Gleichzeitig gab Plechanow seinem „tiefen Bedauern" Ausdruck, dass er auf dem Kongress der Liga „einige Forderungen des Zentralkomitees unterstützt" habe, „die in enger Verbindung mit dem Organisationsprinzip stehen", das die Anhänger der Mehrheit verteidigen.

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