q) Die neue „Iskra" – Der Opportunismus in organisatorischen Fragen

q) Die neue „Iskra" – Der Opportunismus in organisatorischen Fragen

Als Grundlage für die Untersuchung der prinzipiellen Stellung der neuen „Iskra" müssen zweifellos zwei Feuilletons des Genossen Axelrod genommen werden.A Die konkrete Bedeutung einer ganzen Reihe von Worten, die er besonders liebt, haben wir oben ausführlich aufgezeigtB und wir müssen uns jetzt bemühen, von dieser konkreten Bedeutung zu abstrahieren, in den Gedankengang einzudringen, der die „Minderheit" (aus diesem oder jenem kleinen und kleinlichen Anlass) zwang, gerade zu diesen und nicht zu irgendwelchen anderen Losungen zu gelangen, wir müssen die prinzipielle Bedeutung dieser Losungen unabhängig von ihrem Ursprung, unabhängig von der „Kooptation" untersuchen. Wir leben jetzt im Zeichen der Nachgiebigkeit: machen wir also dem Genossen Axelrod ein Zugeständnis und nehmen wir seine Theorie „ernst".

Die Grundthese des Genossen Axelrod (Nr. 57 der „Iskra") besagt, dass „unsere Bewegung von Anfang an zwei entgegengesetzte Tendenzen in sich barg, deren Antagonismus sich gleichzeitig mit ihrer eigenen Entwicklung weiter entwickeln und in ihr widerspiegeln musste". Nämlich: „Prinzipiell ist das proletarische Ziel der Bewegung (in Russland) dasselbe, wie das der Sozialdemokratie des Westens". Aber bei uns geht die Einwirkung auf die Arbeitermassen „von einem ihnen fremden sozialen Element", von der radikalen Intelligenz aus. Genosse Axelrod stellt also den Antagonismus zwischen den proletarischen und den radikal-intelligenzlerischen Tendenzen in unserer Partei fest.

Darin hat Genosse Axelrod unbedingt recht. Das Vorhandensein eines solchen Antagonismus (und nicht nur in der russischen sozialdemokratischen Partei) unterliegt keinem Zweifel. Mehr als das. Jeder weiß, dass gerade aus diesem Antagonismus sich in hohem Maße die Teilung der heutigen Sozialdemokratie in eine revolutionäre (d. h. orthodoxe) und eine opportunistische (revisionistische, ministerialistische, reformistische) erklärt, die sich auch in Russland in den letzten zehn Jahren unserer Bewegung vollständig offenbarte. Jeder weiß auch, dass die orthodoxe Sozialdemokratie gerade die proletarischen Tendenzen zum Ausdruck bringt, die opportunistische Sozialdemokratie – die Tendenzen der demokratischen Intelligenz.

Aber wenn Genosse Axelrod bis hart an diese allgemein bekannte Tatsache herankommt, beginnt er sich ängstlich zurückzuziehen. Er macht nicht den geringsten Versuch, zu analysieren, wie diese Teilung in der Geschichte der russischen Sozialdemokratie im Allgemeinen und insbesondere auf unserem Parteitag zum Ausdruck gekommen ist, obgleich Genosse Axelrod gerade aus Anlass des Parteitages schreibt! Wie die gesamte Redaktion der neuen „Iskra", offenbart Genosse Axelrod eine Todesangst vor den Protokollen dieses Parteitages. Das darf uns nach allem oben Dargelegten, nicht wundern, aber von Seiten eines „Theoretikers", der angeblich die verschiedenen Tendenzen in unserer Bewegung erforscht, ist das ein origineller Fall der Angst vor der Wahrheit. Dank dieser seiner Eigenschaft schiebt Genosse Axelrod das neueste und genaueste Material über die Tendenzen unserer Bewegung von sich und sucht die Rettung auf dem Gebiet angenehmer Träumereien. „Hat doch der legale oder der halbe Marxismus unseren Liberalen einen literarischen Führer gegeben", sagt er. „Warum soll nicht der Schabernack der Geschichte der revolutionären bürgerlichen Demokratie einen Führer aus der Schule des orthodoxen revolutionären Marxismus geben?"1 Zu dieser dem Genossen Axelrod sehr angenehmen Träumerei können wir nur sagen, dass, wenn die Geschichte auch manchmal ihre Schabernacke treibt, das keineswegs einen Schabernack in den Gedanken eines Menschen rechtfertigt, der an die Analyse dieser Geschichte herangeht. Als in dem Führer des halben Marxismus der Liberale zum Durchschein kam, da haben sich die Leute, die den Wunsch hatten (und es verstanden), seine „Tendenzen" zu verfolgen, nicht auf mögliche Schabernacke der Geschichte berufen, sondern auf Dutzende und Hunderte von Beispielen in der Psychologie und Logik dieses Führers, auf die Besonderheiten seiner ganzen literarischen Physiognomie, die die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur verrieten.2 Wenn aber Genosse Axelrod, der es unternommen hat, die „allgemein-revolutionären und proletarischen Tendenzen in unserer Bewegung" zu analysieren, nicht imstande gewesen ist, durch etwas, auch nur durch irgend etwas bei bestimmten Vertretern des ihm so verhassten orthodoxen Flügels der Partei gewisse Tendenzen aufzuzeigen und nachzuweisen, so hat er sich damit nur ein feierliches Armutszeugnis ausgestellt. Es muss schon schlecht um die Sache des Genossen Axelrod bestellt sein, wenn ihm nur übrig bleibt, sich auf mögliche Schabernacke der Geschichte zu berufen!

Ein anderer Hinweis des Genossen Axelrod, auf die „Jakobiner", ist noch lehrreicher. Genossen Axelrod dürfte wohl nicht unbekannt sein, dass die Teilung der heutigen Sozialdemokratie in eine revolutionäre und eine opportunistische schon seit langem, und nicht nur in Russland, den Anlass zu „geschichtlichen Analogien mit der Epoche der Großen Französischen Revolution" gegeben hat. Genossen Axelrod dürfte wohl nicht unbekannt sein, dass die Girondisten der heutigen Sozialdemokratie stets und überall zu den Worten „Jakobinertum", „Blanquismus" usw. Zuflucht nehmen, um ihre Gegner zu charakterisieren. Wir wollen also Genossen Axelrods Angst vor der Wahrheit nicht nachahmen und uns die Protokolle unseres Parteitags ansehen: vielleicht gibt es in ihnen Material für die Analyse und Überprüfung der Tendenzen und Analogien, mit denen wir uns hier befassen.

Das erste Beispiel. Die Diskussion über das Programm auf dem Parteitag. Genosse Akimow (der mit Genossen Martynow vollkommen „einverstanden ist") erklärt:

Der Absatz über die Eroberung der politischen Macht (über die Diktatur des Proletariats) hat im Vergleich zu allen anderen sozialdemokratischen Programmen eine solche Fassung erhalten, dass er von Genossen Plechanow so ausgelegt werden konnte und tatsächlich so ausgelegt wurde, als müsste die Rolle der Führer der Organisation die von ihr geführte Klasse in den Hintergrund schieben und die Organisation von der Klasse absondern. Darum ist die Formulierung unserer politischen Aufgaben genau dieselbe, wie die der .Narodnaja Wolja'" (S. 124 der Protokolle).

Genossen Akimow antworten Genosse Plechanow und andere Iskristen und werfen ihm Opportunismus vor. Findet nicht Genosse Axelrod, dass diese Diskussion (in Wirklichkeit, und nicht in den eingebildeten Schabernacken der Geschichte) uns den Antagonismus zwischen den heutigen Jakobinern und den heutigen Girondisten in der Sozialdemokratie aufzeigt? Und hat nicht darum Genosse Axelrod angefangen, von den Jakobinern zu reden, weil er sich (infolge der von ihm begangenen Fehler) in der Gesellschaft der Girondisten der Sozialdemokratie erwiesen hat?

Das zweite Beispiel. Genosse Possadowski wirft die Frage der „ernsten Meinungsverschiedenheiten" in der „Grundfrage" nach dem „absoluten Wert der demokratischen Prinzipien" auf (S. 169). Zusammen mit Plechanow leugnet er ihren absoluten Wert. Die Vertreter des „Zentrums" oder des Sumpfes (Jegorow) und der Anti-Iskristen (Goldblatt) erheben dagegen entschiedenen Einspruch, sie sehen bei Plechanow eine „Nachahmung der bürgerlichen Taktik" (S. 170). –Das ist eben die Idee des Genossen Axelrod von der Verbindung zwischen Orthodoxie und bürgerlicher Tendenz, nur mit dem Unterschied, dass bei Axelrod diese Idee in der Luft hängt, während sie bei Goldblatt mit bestimmten Debatten verknüpft ist.

Wir fragen noch einmal, findet nicht Genosse Axelrod, dass auch diese Diskussion auf unserm Parteitag uns anschaulich den Antagonismus zwischen Jakobinern und Girondisten in der heutigen Sozialdemokratie zeigt? Zetert Genosse Axelrod nicht darum über die Jakobiner, weil er sich in der Gesellschaft der Girondisten erwiesen hat?

Das dritte Beispiel. Die Diskussion über den § 1 des Statuts. Wer verteidigt „die proletarischen Tendenzen in unserer Bewegung", wer unterstreicht, dass der Arbeiter die Organisation nicht fürchtet, dass der Proletarier für die Anarchie nichts übrig hat, dass er die Aufforderung „organisiert euch!" zu schätzen weiß, wer warnt vor der bürgerlichen Intelligenz, die ganz von Opportunismus durchtränkt ist? Die Jakobiner der Sozialdemokratie. Und wer schmuggelt die radikale Intelligenz in die Partei hinein, wer ist besorgt um die Professoren, Gymnasiasten, um die Einzelnen, um die radikale Jugend? Der Girondist Axelrod gemeinsam mit dem Girondisten Liber.

Sehr ungeschickt verteidigt sich Genosse Axelrod gegen die „falsche Beschuldigung des Opportunismus", die auf unserm Parteitag gegen die Mehrheit der Gruppe „Befreiung der Arbeit" offen verbreitet wurde! Er verteidigt sich so, dass er durch das Nachsingen der abgeleierten Bernsteinschen Melodie von Jakobinertum, Blanquismus usw. die Beschuldigung bestätigt! Er schreit über die Gefahr der radikalen Intelligenz, um seine eigenen Reden auf dem Parteitag zu übertönen, die Besorgtheit um diese Intelligenz atmen.

Es steckt nichts als Opportunismus in diesen „furchtbaren" Wörtchen: Jakobinertum usw. Der Jakobiner, der untrennbar verbunden ist mit der Organisation des Proletariats, das sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist – das ist eben der revolutionäre Sozialdemokrat. Der Girondist, der sich nach den Professoren und Gymnasiasten sehnt, der die Diktatur des Proletariats fürchtet, der sich um den absoluten Wert der demokratischen Forderungen sorgt – das ist eben der Opportunist. Nur Opportunisten können auch heute noch eine Gefahr in Verschwörerorganisationen sehen, wo der Gedanke der Einengung des politischen Kampfes bis zur Verschwörung tausendmal in der Literatur widerlegt3, vom Leben längst widerlegt und verdrängt worden ist, wo die kardinale Bedeutung der politischen Massenagitation auseinandergesetzt und bis zum Erbrechen wiedergekäut worden ist. Die tatsächliche Grundlage der Angst vor Verschwörungen, vor dem Blanquismus ist nicht dieser oder jener hervortretende Zug der praktischen Bewegung (wie Bernstein und Konsorten seit langem vergeblich nachzuweisen suchen), sondern die girondistische Ängstlichkeit des bürgerlichen Intellektuellen, dessen Psychologie bei den heutigen Sozialdemokraten so oft zum Durchbruch gelangt. Nichts ist lächerlicher als diese Anstrengungen der neuen „Iskra", ein neues Wort zu sagen (das seinerzeit hundertmal gesagt worden ist), uns vor der Taktik der französischen verschwörerischen Revolutionäre der vierziger und sechziger Jahre zu warnen (Nr. 62, Leitartikel4). In der nächsten Nummer der „Iskra" werden uns die Girondisten der heutigen Sozialdemokratie wahrscheinlich eine Gruppe französischer Verschwörer der vierziger Jahre zeigen, für die die Bedeutung der politischen Agitation in den Arbeitermassen, die Bedeutung der Arbeiterzeitungen, als Grundlage der Einwirkung der Partei auf die Klasse, eine längst auswendig gelernte Binsenwahrheit war.

Das Streben der neuen „Iskra", unter dem Schein neuer Worte altbekanntes Zeug zu wiederholen und Binsenwahrheiten wiederzukäuen, ist jedoch gar kein Zufall, sondern die unvermeidliche Folge der Lage, in der sich Axelrod und Martow erwiesen haben, nachdem sie in den opportunistischen Flügel unserer Partei geraten sind. Die Lage verpflichtet. Man wird gezwungen, opportunistische Phrasen zu wiederholen, man wird gezwungen, rückwärts zu schauen, um vielleicht in der fernen Vergangenheit irgendeine Rechtfertigung für seine Stellung zu finden, die vom Standpunkt des Parteitagskampfes und der Schattierungen und Gruppierungen, die sich auf dem Parteitag gebildet haben, nicht zu verteidigen ist. Den Akimowschen tiefsinnigen Überlegungen über Jakobinertum und Blanquismus fügt Genosse Axelrod die ebenfalls Akimowschen Beschwerden darüber hinzu, dass nicht nur die „Ökonomisten", sondern auch die „Politiker" „einseitig" waren, sich zu sehr „hinreißen ließen" usw. usw. Wenn man diese hochtrabenden Ausführungen über dieses Thema in der neuen „Iskra" liest, die dünkelhaft den Anspruch erhebt, über allen diesen Einseitigkeiten und Schwärmereien zu stehen, da fragt man sich erstaunt: wessen Porträt malen sie, wo hören sie solche Reden? Wer weiß denn nicht, dass die Teilung der russischen Sozialdemokraten in „Ökonomisten" und „Politiker" längst überlebt ist? Man durchblättere die „Iskra" von den letzten ein bis zwei Jahren vor dem Parteitag, und man wird sehen, dass der Kampf gegen den „Ökonomismus" abebbt und bereits im Jahre 1902 vollkommen aufhört; man wird sehen, dass z. B. im Juli 1903 (Nr. 435) von den „Zeiten des Ökonomismus" als von „endgültig überwundenen" Zeiten gesprochen wird, der Ökonomismus wird als „endgültig zu Grabe getragen", die Schwärmerei der Politiker als augenscheinlicher Atavismus betrachtet. Aus welchem Grunde kehrt also die neue Redaktion der „Iskra" zu dieser endgültig überwundenen Gruppierung zurück? Haben wir denn auf dem Parteitag gegen die Akimow wegen der Fehler gekämpft, die sie vor zwei Jahren im „Rabotscheje Djelo" begangen haben? Täten wir das, so wären wir vollkommene Idioten. Aber jeder weiß, dass wir das nicht getan haben, dass wir auf dem Parteitag die Akimow nicht wegen ihrer alten, endgültig überwundenen Fehler im „Rabotscheje Djelo" bekämpften, sondern wegen der neuen Fehler , die sie in ihren Ausführungen und in ihren Abstimmungen auf dem Parteitag begingen. Nicht auf Grund ihrer Stellung im „Rabotscheje Djelo", sondern auf Grund ihrer Stellung auf dem Parteitag haben wir geurteilt, welche Fehler tatsächlich überwunden sind und welche noch leben und Diskussionen notwendig machen. Zur Zeit des Parteitages bestand die alte Teilung in Ökonomisten und Politiker nicht mehr, aber es waren noch verschiedenartige opportunistische Tendenzen vorhanden, die in den Debatten und Abstimmungen über eine Reihe von Fragen zum Ausdruck kamen und die schließlich zu einer neuen Teilung der Partei in eine „Mehrheit" und eine „Minderheit" geführt haben. Die Sache ist eben die, dass die neue Redaktion der „Iskra" aus leichtverständlichen Gründen bestrebt ist, den Zusammenhang zwischen dieser neuen Teilung mit dem heutigen Opportunismus in unserer Partei zu vertuschen, und dass sie darum gezwungen ist, von der neuen Teilung zur alten zurückzugehen. Da sie nicht imstande sind, den politischen Ursprung der neuen Teilung zu erklären (oder aus Nachgiebigkeit einen SchleierC auf diesen Ursprung werfen wollen), so sind sie gezwungen, das längst Durchgekaute über eine längst überwundene, alte Teilung noch einmal durchzukauen. Jeder weiß, dass der neuen Teilung eine Meinungsverschiedenheit in organisatorischen Fragen zugrunde liegt, die mit einem Streit um die Prinzipien der Organisation (§ 1 des Statuts) begonnen hat und mit einer der Anarchisten würdigen „Praxis" endete. Der alten Teilung in Ökonomisten und Politiker lag eine Meinungsverschiedenheit hauptsächlich in taktischen Fragen zugrunde.

Dieses Zurückgehen von verwickelteren, wirklich zeitgemäßen und dringenden Fragen des Parteilebens zu längst gelösten Fragen, die künstlich ausgegraben werden, sucht die neue „Iskra" mit einem lächerlichen Tiefsinn zu rechtfertigen, der nur als Chwostismus bezeichnet werden kann. Dank der leichten Feder des Genossen Axelrod geht durch alle Aufsätze der neuen „Iskra" wie ein roter Fäden der tiefe „Gedanke", dass der Inhalt wichtiger sei als die Form, das Programm und die Taktik wichtiger als die Organisation, dass „die Lebensfähigkeit der Organisation direkt proportional sei dem Umfang und der Bedeutung jenes Inhaltes, den sie in die Bewegung hinein tragen wird", dass der Zentralismus nicht „etwas sich selbst Genügendes", kein „alles rettender Talisman" sei usw. Tiefe, große Wahrheiten! Das Programm ist tatsächlich wichtiger als die Taktik, die Taktik wichtiger als die Organisation. Das Abc ist wichtiger als die Etymologie, die Etymologie wichtiger als die Syntax, – was aber soll man von Leuten sagen, die beim Examen in der Syntax durchgefallen sind und jetzt wichtig tun und sich damit brüsten, dass sie in der unteren Klasse sitzengeblieben sind? Genosse Axelrod urteilte über prinzipielle Fragen der Organisation wie ein Opportunist (§ 1) und handelte in der Organisation wie ein Anarchist (Ligakongress6) – und jetzt vertieft er die Sozialdemokratie: die Trauben sind zu sauer! Was ist eigentlich die Organisation? sie ist doch nur eine Form; was ist Zentralismus? er ist doch kein Talisman; was ist die Syntax? sie ist doch weniger wichtig als die Etymologie, sie ist nur eine Form der Verbindung der etymologischen Elemente …

Wird Genosse Alexandrow mit uns nicht einverstanden sein", fragt die neue Redaktion der „Iskra“ siegesbewusst, „wenn wir sagen, dass der Parteitag durch die Ausarbeitung des Parteiprogramms die Zentralisierung der Parteiarbeit sehr viel mehr gefördert hat als durch die Annahme des Statuts, wie vollkommen dieses auch sein möge?" (Nr. 66, Beilage7).

Man muss hoffen, dass dieser klassische Ausspruch eine nicht weniger breite und nicht weniger solide geschichtliche Berühmtheit erlangen wird als die berühmte Phrase des Genossen Kritschewski, dass die Sozialdemokratie sich ebenso wie die Menschheit immer nur Aufgaben stelle, die verwirklicht werden können. Dieser Tiefsinn der neuen „Iskra" ist doch ganz vom selben Schlag. Warum ist die Phrase des Genossen Kritschewski verlacht worden? Weil er den Fehler eines gewissen Teiles der Sozialdemokraten in Fragen der Taktik, die Unfähigkeit, politische Aufgaben richtig zu stellen, durch eine Plattheit rechtfertigte, die er für Philosophie ausgab. Genau in derselben Weise rechtfertigt die neue „Iskra" den Fehler eines gewissen Teiles der Sozialdemokraten in Fragen der Organisation, die intelligenzlerische Wankelmütigkeit gewisser Genossen, die sie zur anarchistischen Phrase führte, durch die Plattheit, dass das Programm wichtiger sei als das Statut, Programmfragen wichtiger als Organisationsfragen! Ist das nicht Chwostismus? Heißt das nicht, sich damit brüsten, dass man in einer unteren Klasse sitzengeblieben ist?

Die Annahme des Programms fördert die Zentralisierung der Arbeit mehr als die Annahme des Statuts. Wie riecht doch diese abgeschmackte Behauptung, die für Philosophie ausgegeben wird, nach radikalem Intellektuellentum, das der bürgerlichen Dekadenz viel näher steht als dem Sozialdemokratismus! Das Wort Zentralisierung wird doch in dieser berühmten Phrase in einem schon ganz symbolischen Sinne aufgefasst. Wenn die Autoren dieser Phrase nicht denken können oder wollen, so sollten sie sich doch wenigstens die einfache Tatsache in Erinnerung rufen, dass die Annahme des Programms zusammen mit den Bundisten nicht nur zu keiner Zentralisierung unserer gemeinsamen Arbeit geführt hat, sondern uns nicht einmal vor einer Spaltung bewahrte. Die Einheit in Fragen des Programms und in Fragen der Taktik ist eine notwendige, aber noch nicht genügende Bedingung für die Vereinigung der Partei, die Zentralisierung der Parteiarbeit (du lieber Gott! welche Binsenwahrheiten muss man heutzutage, wo alle Begriffe in Verwirrung geraten sind, wiederkäuen!). Für diese Vereinigung ist noch die Einheit der Organisation notwendig, die in einer aus dem Rahmen eines Familienzirkels halbwegs herausgewachsenen Partei undenkbar ist ohne ein festgelegtes Statut, ohne die Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit, ohne die Unterordnung des Teiles unter das Ganze. Solange wir keine Einheit in den Grundfragen des Programms und der Taktik hatten, sagten wir auch offen, dass wir im Zeitalter der Zerfahrenheit und des Zirkelwesens leben; wir erklärten offen, dass man sich voneinander abgrenzen müsse, bevor man sich vereinigt; wir sprachen gar nicht von den Formen einer gemeinsamen Organisation, sondern ausschließlich von den neuen (damals wirklich neuen) Fragen des Kampfes gegen den Opportunismus auf dem Gebiet des Programms und der Taktik. Jetzt hat dieser Kampf, wie alle anerkennen, bereits eine genügende Einheit gesichert, die im Parteiprogramm und in den Parteiresolutionen über Fragen der Taktik formuliert worden ist; jetzt mussten wir den nächsten Schritt tun, und wir haben ihn, mit allgemeiner Zustimmung, getan: wir haben die Formen einer einheitlichen, alle Zirkel zu einem Ganzen zusammenfassenden Organisation ausgearbeitet. Man hat jetzt diese Formen zur Hälfte zerstört und8 uns zurückgeschleppt zum anarchistischen Verhalten, zur anarchistischen Phrase, zur Wiederherstellung eines Zirkels an Stelle der Parteiredaktion, und jetzt wird dieser Schritt zurück dadurch gerechtfertigt, dass das Abc die literarische Rede mehr fördere als die Kenntnis der Syntax.

Die Philosophie des Chwostismus, die vor drei Jahren in den Fragen der Taktik Blüten trieb, erlebt jetzt in der Anwendung auf Fragen der Organisation ihre Wiederauferstehung. Man betrachte folgende Erwägung der neuen Redaktion. „Die sozialdemokratische Kampfrichtung", sagt Genosse Axelrod, „muss in der Partei nicht nur durch den ideologischen Kampf, sondern auch durch bestimmte Formen der Organisation durchgeführt werden". Die Redaktion belehrt uns:

Nicht übel ist diese Gegenüberstellung des ideologischen Kampfes und der Formen der Organisation. Der ideologische Kampf ist ein Prozess, die Formen der Organisation aber sind nur … Formen (bei Gott, so steht es wörtlich gedruckt in Nr. 56, Beilage, S. 4, Spalte 1, unten!), die dem im Fluss befindlichen, sich entwickelnden Inhalt, der sich entwickelnden Parteiarbeit eine Hülle geben sollen."

Das ist schon ganz im Geiste der Anekdote, dass eine Kugel eine Kugel und eine Bombe eine Bombe ist. Der ideologische Kampf ist ein Prozess, die Formen der Organisation sind aber nur Formen, die dem Inhalt die Hülle geben! Worum es geht, ist, ob unser ideologischer Kampf sich in höhere Formen hüllen wird, in die Formen einer für alle bindenden Parteiorganisation, oder in die Formen der alten Zersplitterung und des alten Zirkelwesens. Man hat uns von höheren Formen zu primitiveren zurück geschleppt und rechtfertigt das damit, dass der ideologische Kampf ein Prozess sei, die Formen aber nur Formen seien. In genau derselben Weise schleppte uns einst Genosse Kritschewski von der „Taktik als Plan" zurück zur „Taktik als Prozess".

Man betrachte die anspruchsvollen Phrasen der neuen „Iskra" von der „Selbsterziehung des Proletariats", die denen entgegengehalten werden, die es angeblich fertig bringen, über der Form den Inhalt zu vergessen (Nr. 58, Leitartikel9). Ist das nicht eine zweite Auflage des Akimowismus? Die erste Auflage versuchte die Rückständigkeit eines gewissen Teiles der sozialdemokratischen Intelligenz in der Stellung der taktischen Aufgaben durch Hinweise auf den „tieferen" Inhalt des „proletarischen Kampfes", durch Hinweise auf die Selbsterziehung des Proletariats zu rechtfertigen. Die zweite Auflage des Akimowismus rechtfertigt die Rückständigkeit eines gewissen Teiles der sozialdemokratischen Intelligenz in Fragen der Theorie und der Praxis der Organisation durch ebenso tiefsinnige Hinweise darauf, dass die Organisation nur eine Form sei und dass es nur auf die Selbsterziehung des Proletariats ankomme. Das Proletariat fürchtet weder Organisation noch Disziplin, ihr Herren, die ihr euch um den jüngeren Bruder sorgt! Das Proletariat wird sich nicht dafür einsetzen, dass man die Herren Professoren und Gymnasiasten, die der Organisation nicht beitreten wollen, für ihre Arbeit unter der Kontrolle der Organisation als Parteimitglieder anerkenne. Das Proletariat wird durch sein ganzes Leben viel radikaler zur Organisation erzogen als viele Intelligenzler. Das Proletariat, das sich unser Programm und unsere Taktik auch nur einigermaßen zu eigen gemacht hat, wird die Rückständigkeit in Fragen der Organisation nicht durch Hinweise darauf rechtfertigen wollen, dass die Form weniger wichtig sei als der Inhalt. Nicht dem Proletariat, sondern manchen Intellektuellen in unserer Partei mangelt es an Selbsterziehung im Geiste der Organisation und der Disziplin, im Geiste der Feindschaft und der Verachtung für die anarchistische Phrase. Die Akimow der zweiten Auflage verleumden das Proletariat hinsichtlich der mangelnden Vorbereitung zur Organisation, ebenso wie die Akimow der ersten Auflage es hinsichtlich der mangelnden Vorbereitung zum politischen Kampf verleumdeten. Ein Proletarier, der ein bewusster Sozialdemokrat geworden ist und sich als Parteimitglied fühlt, wird den Chwostismus in Organisationsfragen mit derselben Verachtung ablehnen, mit der er ihn in den Fragen der Taktik abgelehnt hat.

Man betrachte schließlich den Scharfsinn des „Praktikers" der neuen „Iskra".

Die richtig verstandene Idee einer zentralistischen ,Kampforganisation"', sagt er, „die die Tätigkeit (eine die Sache vertiefende Sperrung) der Revolutionäre vereinigt und zentralisiert, kann natürlich nur, wenn eine solche Tätigkeit vorhanden ist, ins Leben umgesetzt werden (wie neu und wie klug); die Organisation selber kann als Form (hört, hört!) nur gleichzeitig (gesperrt, wie überall in diesem Zitat, vom Verfasser) mit dem Wachstum der revolutionären Arbeit, die ihr Inhalt ist, wachsen" (Nr. 57).

Erinnert das nicht wieder an jenen Helden im Volksepos, der beim Anblick eines Trauerzuges ausruft: Zu schleppen sollt ihr haben, dass ihr's nicht erschleppt!10 Sicherlich wird sich in unserer Partei kein einziger Praktiker (ohne Anführungsstriche) finden, der nicht verstehen würde, dass gerade die Form unserer Tätigkeit (d. h. die Organisation) seit sehr langer Zeit hinter dem Inhalt zurückbleibt, und zwar fürchterlich zurückbleibt, dass das an die zurückbleibenden Leute gerichtete Geschrei: geht im gleichen Schritt, eilt nicht voraus! – nur der Parteidummköpfe würdig ist. Man versuche z. B. unsere Partei mit dem „Bund" zu vergleichen. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass der InhaltD der Arbeit unserer Partei unermesslich viel reichhaltiger, vielseitiger, umfassender und tiefer ist als der der Arbeit des „Bund". Größer ist der theoretische Elan, entwickelter das Programm, umfassender und tiefer die Einwirkung auf die Arbeitermassen (und nicht nur ausschließlich auf die organisierten Handwerker), vielseitiger die Agitation und Propaganda, lebendiger der Puls der politischen Arbeit bei den vorgeschritteneren und bei den Durchschnittsarbeitern, machtvoller die Vоlksbewegungen bei Demonstrationen und Generalstreiks, energischer die Tätigkeit unter den nichtproletarischen Schichten. Und die „Form"? Die „Form" unserer Arbeit ist im Verhältnis zu der des „Bund" in ganz unzulässiger Weise so weit zurückgeblieben, dass es in die Augen sticht, dass es die Schamröte bei dem hervorruft, der den Angelegenheiten seiner Partei nicht gleichgültig gegenübersteht. Die Rückständigkeit der Organisation der Arbeit im Vergleich zu ihrem Inhalt – das ist unser wunder Punkt, und sie war der wunde Punkt schon lange vor dem Parteitag, lange vor der Bildung des Organisationskomitees. Die geringe Entwicklung und Dauerhaftigkeit der Form nimmt die Möglichkeit, weitere ernste Schritte in der Entwicklung des Inhalts zu machen, sie ruft einen beschämenden Stillstand hervor, führt zur Vergeudung der Kräfte, zu einem Missverhältnis zwischen Wort und Tat. Alle leiden maßlos unter diesem Missverhältnis – und da kommen die Axelrod und die „Praktiker" der neuen „Iskra" mit der tiefsinnigen Predigt: die Form muss in natürlicher Weise, nur gleichzeitig mit dem Inhalt emporwachsen!

Dahin führt ein kleiner Fehler in der Organisationsfrage (§1), wenn man den Unsinn vertiefen und die opportunistische Phrase philosophisch begründen will. Mit langsamem Schritt, im schüchternen Zickzackkurs11 – wir haben diese Weise in der Anwendung auf die Fragen der Taktik gehört; wir hören sie jetzt in der Anwendung auf die Fragen der Organisation. Der Chwostismus in organisatorischen Fragen ist das natürliche und unvermeidliche Produkt der Psychologie des anarchistischen Individualisten, wenn dieser seine (zunächst vielleicht zufälligen) anarchistischen Abweichungen zu einem System von Anschauungen, zu einer besonderen prinzipiellen Meinungsverschiedenheit erhebt. Auf dem Kongress der Liga haben wir den Anfang dieses Anarchismus gesehen, in der neuen „Iskra" sehen wir die Versuche, ihn zu einem System von Anschauungen zu erheben. Diese Versuche bestätigen in merkwürdiger Weise das schon auf dem Parteitag geäußerte Argument über die Verschiedenheit der Standpunkte des bürgerlichen Intellektuellen, der sich der Sozialdemokratie anschließt, und des Proletariers, der sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist. Derselbe „Praktiker" der neuen „Iskra" z. В., dessen Scharfsinn wir schon kennengelernt haben, wirft mir vor, ich stelle mir die Partei „als eine ungeheure Fabrik" vor, an deren Spitze ein Direktor, das Zentralkomitee, steht (Nr. 57, Beilage). Der „Praktiker" hat keine Ahnung, dass das von ihm gebrauchte furchtbare Wort sofort die Psychologie des bürgerlichen Intellektuellen verrät, der weder die Praxis noch die Theorie der proletarischen Organisation kennt. Gerade die Fabrik, die manchem nur als Schreckgespenst erscheint, ist die höchste Form der kapitalistischen Kooperation, die das Proletariat vereinigte und disziplinierte, die es lehrte, sich zu organisieren, die es an die Spitze aller übrigen Schichten der werktätigen und ausgebeuteten Bevölkerung stellte. Gerade der Marxismus als Ideologie des durch den Kapitalismus geschulten Proletariats belehrte und belehrt die wankelmütigen Intellektuellen über den Unterschied zwischen der ausbeuterischen Seite der Fabrik (der auf der Angst vor dem Hungertod aufgebauten Disziplin) und ihrer organisierenden Seite (der auf der gemeinsamen, durch die Bedingungen der technisch hoch entwickelten Produktion vereinigten Arbeit aufgebauten Disziplin). Disziplin und Organisation, die der bürgerliche Intellektuelle so schwer begreift, eignet sich das Proletariat gerade dank der „Schule", die die Fabrik für sie ist, besonders leicht an. Die tödliche Angst vor dieser Schule, das vollständige Nichtbegreifen ihrer organisierenden Bedeutung sind eben für Denkmethoden charakteristisch, die die kleinbürgerlichen Existenzbedingungen widerspiegeln und jene Art von Anarchismus erzeugen, die die deutschen Sozialdemokraten Edelanarchismus12 nennen, d. h. den Anarchismus des „edlen" Herrn, den Herrenanarchismus möchte ich sagen. Dem russischen Nihilisten ist dieser Edelanarchismus besonders eigen. Die Parteiorganisation betrachtet er als eine ungeheuerliche „Fabrik", die Unterordnung eines Teiles unter das Ganze und der Minderheit unter die Mehrheit nennt er „Knechtung" (siehe die Feuilletons Axelrods), die Teilung der Arbeit unter der Führung einer zentralen Körperschaft rufen bei ihm ein tragikomisches Gezeter über die Verwandlung der Menschen in „Rädchen und Schräubchen" (wobei als besonders tödliche Art dieser Verwandlung die Verwandlung von Redakteuren in Mitarbeiter betrachtet wird), die Erwähnung des Organisationsstatuts der Partei ruft eine verächtliche Grimasse und die (gegen die „Formalisten" gerichtete) geringschätzige Bemerkung hervor, dass es ja auch ganz ohne Statut gehe.

Das ist unglaublich, aber es ist eine Tatsache: gerade eine solche erbauliche Bemerkung richtet an mich Genosse Martow in Nr. 58 der „Iskra"13, wobei er sich zwecks größerer Überzeugungskraft auf meine eigenen Worte aus dem „Brief an einen Genossen" beruft. Ist das nicht „Edelanarchismus", ist das kein Chwostismus, wenn man in der Zeit, wo es schon eine Partei gibt, mit Beispielen aus der Zeit der Zerfahrenheit, aus der Zeit der Zirkel die Aufrechterhaltung und Anpreisung des Zirkelwesens und der Anarchie rechtfertigt?

Warum brauchten wir früher keine Statuten? Weil die Partei aus einzelnen Zirkeln bestand, die durch kein organisatorisches Band miteinander verbunden waren. Der Übergang von einem Zirkel in einen andern war nur Sache des „guten Willens" des einen oder anderen Individuums, das es mit keinem in einer bestimmten Form zum Ausdruck gebrachten Willen des Ganzen zu tun hatte. Die strittigen Fragen innerhalb der Zirkel wurden nicht „laut Statut" entschieden, „sondern durch Kampf und durch die Drohung, fortzugehen": so drückte ich mich in meinem „Brief an einen Genossen" aus, wobei ich mich auf die Erfahrung einer Reihe von Zirkeln im Allgemeinen und insbesondere unseres eigenen Redaktions-Sechserkollegiums stützte. In der Zeit der Zirkel war eine solche Erscheinung natürlich und unvermeidlich, aber niemand fiel es ein, sie anzupreisen, sie als Ideal zu betrachten, alle beschwerten sich über diese Zerfahrenheit, allen war sie lästig, und alle sehnten sich nach einer Verschmelzung der zersplitterten Zirkel zu einer fest geformten Parteiorganisation. Und jetzt, wo diese Verschmelzung zustande gekommen ist, schleppt man uns zurück, tischt man uns – als höchste organisatorische Auffassungen – eine anarchistische Phrase auf! Den Leuten, die sich an den weiten Schlafrock und die Pantoffeln des Oblomowschen Familienzirkels gewöhnt haben, erscheint das formale Statut eng, beschränkt, lästig, niedrig, bürokratisch, knechtend, den freien „Prozess" des ideologischen Kampfes beengend. Der Edelanarchismus versteht nicht, dass ein formales Statut gerade notwendig ist, um die engen Zirkelbindungen durch eine breite Parteibindung zu ersetzen. Es war nicht möglich, die Verbindung innerhalb des Zirkels oder zwischen den Zirkeln in eine feste Form zu bringen, und das brauchte sie auch nicht, denn diese Verbindung wurde durch Freundschaftsbeziehungen oder durch ein „Vertrauen", das keine Rechenschaft zu geben hatte und nicht motiviert war, aufrechterhalten. Die Parteiverbindung kann und darf sich weder auf das eine noch auf das andere stützen, sie muss ihre Grundlage in einem formalen, (vom Standpunkte des undisziplinierten Intellektuellen) „bürokratisch" redigierten Statut haben, dessen strenge Beachtung uns allein vor dem Zirkeldünkel, den Zirkellaunen, den Zirkelmethoden des Gezänks, das man den „freien Prozess des ideologischen Kampfes" nennt, bewahren kann.

Die Redaktion der neuen „Iskra" spielt gegen Alexandrow einen Trumpf aus, indem sie belehrend darauf hinweist, dass „das Vertrauen ein heikles Ding" sei, „das man weder in das Herz noch in den Kopf einhämmern" könne (Nr. 56, Beilage). Die Redaktion begreift nicht, dass eben diese Betonung der Kategorie des Vertrauens, des nackten Vertrauens immer wieder den Edelanarchismus und den organisatorischen Chwostismus vollkommen verrät. Als ich Mitglied nur eines Zirkels war, des Redaktionskollegiums oder der „Iskra"-Organisation, hatte ich das Recht, mich, wenn ich mit X nicht zusammenarbeiten wollte, zur Rechtfertigung nur auf mein Misstrauen zu berufen, über das ich keine Rechenschaft schuldig war und das nicht begründet zu werden brauchte. Seitdem ich Mitglied der Partei bin, habe ich kein Recht, mich nur auf mein unbestimmtes Misstrauen zu berufen, denn das würde nur allen möglichen Dummheiten und dem Dünkel des alten Zirkelwesens Tür und Tor öffnen; ich bin verpflichtet, mein „Vertrauen" oder „Misstrauen" mit formellen Argumenten zu begründen, d. h. mit dem Hinweis auf diese oder jene formell festgelegte Satzung unseres Programms, unserer Taktik, unseres Statuts, ich bin verpflichtet, mich nicht auf ein willkürliches „Vertrauen" oder „Misstrauen" zu beschränken, sondern ich muss anerkennen, dass über alle meine Beschlüsse und überhaupt über alle Beschlüsse eines Teiles der Partei vor der Gesamtpartei Rechenschaft abgelegt werden muss; ich bin verpflichtet, den formell vorgeschriebenen Weg zu gehen, um meinem „Misstrauen" Ausdruck zu geben, um die Ansichten und die Wünsche durchzusetzen, die sich aus diesem Misstrauen ergeben. Wir haben uns bereits vom Zirkelstandpunkt des willkürlichen „Vertrauens" zum Parteistandpunkt erhoben, der die Einhaltung der formell vorgeschriebenen Methoden verlangt, mit deren Hilfe das Vertrauen zum Ausdruck gebracht und überprüft wird, die Redaktion aber zerrt uns zurück und nennt ihren Chwostismus neue organisatorische Auffassungen!

Man sehe, wie unsere sogenannte Parteiredaktion über literarische Gruppen urteilt, die eine Vertretung in der Redaktion verlangen könnten. „Wir werden nicht empört sein, wir werden nicht über Disziplin zetern" – belehren uns die Edelanarchisten, die stets jede Disziplin von oben herab betrachtet haben. Wir werden uns entweder mit der Gruppe, wenn sie tüchtig ist, „verständigen", (sic!) oder ihre Forderungen verlachen.

Du lieber Himmel, welch erhabener Edelmut tritt hier gegen den vulgären „Fabrik"-Formalismus auf! In Wirklichkeit aber haben wir es mit einer neu aufpolierten Phraseologie des Zirkelwesens zu tun, die der Partei von der Redaktion aufgetischt wird, die fühlt, dass sie keine Parteikörperschaft ist, sondern der Scherben eines alten Zirkels. Das innerlich Falsche dieser Stellung führt unvermeidlich zu anarchistischem Tiefsinn, der die Zerfahrenheit, die heuchlerisch für überlebt erklärt wird, zum Prinzip der sozialdemokratischen Organisation erhebt. Überflüssig ist jede Hierarchie unterster und oberster Parteikollegien und Instanzen – in den Augen der Edelanarchisten ist eine solche Hierarchie eine Kanzleierfindung der Ämter, Departements usw. (siehe das Feuilleton Axelrods) – überflüssig ist jede Unterordnung des Teiles unter das Ganze, überflüssig jede „formell-bürokratische" Festlegung der Parteimethoden für „Verständigungen" oder Abgrenzungen – mag das alte Zirkelgezänk geheiligt werden durch das Phrasengedresch über die „wahrhaft-sozialdemokratischen" Methoden der Organisation.

Hier ist es, wo der Proletarier, der die Schule der „Fabrik" durchgemacht hat, dem anarchistischen Individualismus eine Lehre geben kann und muss. Der klassenbewusste Arbeiter hat längst jene Säuglingszeit überwunden, in der er dem Intellektuellen als solchen aus dem Wege ging. Der klassenbewusste Arbeiter versteht es, jenen reicheren Vorrat an Wissen, jenen breiteren politischen Gesichtskreis, den er bei den sozialdemokratischen Intellektuellen findet, zu schätzen. Aber in dem Maße, wie bei uns eine wirkliche Partei zustande kommt, muss der klassenbewusste Arbeiter lernen, die Psychologie eines Soldaten der proletarischen Armee von der Psychologie des bürgerlichen Intellektuellen zu unterscheiden, der mit der anarchistischen Phrase prunkt, er muss lernen, die Erfüllung der Pflichten eines Parteimitgliedes nicht nur von den einfachen Mitgliedern zu fordern, sondern auch von den „Leuten an der Spitze", er muss lernen, dem Chwostismus in organisatorischen Fragen mit derselben Verachtung zu begegnen, mit der er in vergangenen Jahren dem Chwostismus in Fragen der Taktik begegnet ist!

In untrennbarer Verbindung mit dem Girondismus und dem Edelanarchismus steht die letzte charakteristische Besonderheit in der Stellung der neuen „Iskra" zu den organisatorischen Fragen: die Verteidigung des Autonоmismus gegen den Zentralismus. Eben diesen prinzipiellen Sinn hatE (wenn es einen hat) das Geheul über Bürokratismus und Absolutismus, das Bedauern über „die unverdiente Missachtung der Nicht-Iskristen" (die auf dem Parteitag den Autonomismus verteidigten), das lächerliche Geschrei über die Forderung des „unbedingten Gehorsams", die bitteren Klagen über das „Pompadourentum" usw. usw. Der opportunistische Flügel jeder Partei verteidigt stets und rechtfertigt jede Rückständigkeit, die programmatische, die taktische und die organisatorische. Die Verteidigung der organisatorischen Rückständigkeit (des Chwostismus) der neuen „Iskra" ist eng verbunden mit der Verteidigung des Autonomismus. Allerdings ist der Autonomismus durch die dreijährige Propaganda der alten „Iskra", allgemein gesprochen, so sehr diskreditiert, dass die neue „Iskra" sich noch schämt, offen für ihn einzutreten. Sie versichert uns noch ihrer Sympathien für den Zentralismus, aber das wird nur dadurch bewiesen, dass man das Wort Zentralismus mit fetten Lettern druckt. In Wirklichkeit enthüllt die leiseste Berührung der Kritik mit den „Prinzipien" des „wahrhaft sozialdemokratischen" (und nicht anarchistischen?) quasi-Zentralismus der neuen „Iskra" auf jedem Schritt den Standpunkt des Autonomismus. Ist es denn jetzt nicht allen und jedem klar, dass Axelrod und Martow in organisatorischen Fragen zu Akimow umgeschwenkt sind? Haben sie das durch die bedeutsamen Worte von der „unverdienten Missachtung der Nicht-Iskristen" nicht selber feierlich zugegeben? Und war es nicht der Autonomismus, den auf unserm Parteitag Akimow und seine Freunde verteidigten?

Eben der Autonomismus war es (wenn nicht gar der Anarchismus), den Martow und Axelrod auf dem Kongress der Liga verteidigten, als sie mit komischem Eifer nachzuweisen versuchten, dass der Teil sich dem Ganzen nicht unterzuordnen brauche, dass der Teil in der Bestimmung seiner Beziehungen zum Ganzen autonom sei, dass das Statut der Auslandsliga, das diese Beziehungen formuliert, gegen den Willen der Parteimehrheit, gegen den Willen der Parteileitung in Kraft treten könne. Eben der Autonomismus ist es, den Genosse Martow jetzt auch auf den Seiten der neuen „Iskra" (Nr. 60) in der Frage der Ernennung der Mitglieder der Ortskomitees durch das Zentralkomitee offen verteidigt.14 Ich will nicht von den kindischen Sophismen reden mit deren Hilfe Genosse, Martow den Autonomismus auf dem Kongress der Liga verteidigte und jetzt in der neuen „Iskra" verteidigtF, – für mich ist es wichtig, hier die unzweifelhafte Tendenz, den Autonomismus gegen den Zentralismus zu verteidigen, festzustellen, als prinzipielles, dem Opportunismus in organisatorischen Fragen eigenes Merkmal.

Wohl der einzige Versuch einer Analyse des Begriffes des Bürokratismus ist die Gegenüberstellung des „formell-demokratischen" (gesperrt vom Verfasser) und des „formell-bürokratischen Prinzips" in der neuen „Iskra" (Nr. 53). Diese Gegenüberstellung (leider ebenso wenig entwickelt und auseinandergesetzt wie der Hinweis auf die Nicht-Iskristen) enthält ein Körnchen Wahrheit. Bürokratismus versus15 Demokratismus, d. h. eben Zentralismus versus Autonomismus, das ist das organisatorische Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie gegenüber dem organisatorischen Prinzip der Opportunisten der Sozialdemokratie. Das letztgenannte Prinzip ist bestrebt, von unten nach oben zu gehen, und darum verteidigt es überall, wo es möglich ist und soweit es möglich ist, den Autonomismus, den „Demokratismus", der (bei denen, die mehr eifrig als klug sind) bis zum Anarchismus geht. Das organisatorische Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie ist bestrebt, von oben auszugehen, und verteidigt die Erweiterung der Rechte und der Vollmachten der zentralen Körperschaft gegenüber dem Teil. In der Zeit der Zerfahrenheit und des Zirkelwesens war diese oberste Körperschaft, von der die revolutionäre Sozialdemokratie organisatorisch auszugehen bestrebt war, unvermeidlich einer der Zirkel, und zwar der Zirkel, der infolge seiner Tätigkeit und seiner revolutionären Konsequenz den größten Einfluss gewonnen hatte (in unserem Falle die „Iskra"-Organisation). In der Zeit der Wiederherstellung der tatsächlichen Parteieinheit und des Aufgehens der veralteten Zirkel in dieser Einheit ist eine solche oberste Körperschaft unbedingt der Parteitag, das oberste Organ der Partei. Der Parteitag vereinigt nach Möglichkeit alle Vertreter der aktiven Organisationen, er ernennt die zentralen Körperschaften (oft in einer Zusammensetzung, die mehr die vorgeschrittenen als die rückständigen Elemente der Partei befriedigt, die mehr ihrem revolutionären als ihrem opportunistischen Flügel gefällt) und macht sie zu der obersten Körperschaft – bis zum nächsten Parteitag. So ist es wenigstens bei der europäischen Sozialdemokratie, aber nach und nach, nicht ohne Schwierigkeit, nicht ohne Kampf und nicht ohne Gezänk beginnt diese den Anarchisten prinzipiell verhasste Gewohnheit sich auch auf die Asiaten der Sozialdemokratie zu erstrecken.

Es ist im höchsten Grade interessant, festzustellen, dass die von mir aufgezeigten prinzipiellen Züge des Opportunismus in organisatorischen Fragen (der Autonomismus, der Edel- oder Intellektuellenanarchismus, Chwostismus und Girondismus) mutatis mutandis (mit entsprechenden Änderungen) in allen sozialdemokratischen Parteien der Welt, wo es nur eine Teilung in einen revolutionären und einen opportunistischen Flügel gibt (und wo gibt es das nicht?), zu beobachten sind. Besonders deutlich ist das gerade in der allerletzten Zeit in der deutschen sozialdemokratischen Partei in Erscheinung getreten, als die Niederlage bei den Wahlen im 20. sächsischen Wahlkreis (der sogenannte Fall GöhreG) die Frage der Prinzipien der Parteiorganisation auf die Tagesordnung stellte. Besonders der Eifer der deutschen Opportunisten trug dazu bei, dass aus Anlass dieses Falles die Frage prinzipiell gestellt wurde. Göhre (ein ehemaliger Pfarrer, der Verfasser des nicht unbekannten Buches „Drei Monate Fabrikarbeiter" und einer der „Helden" des Dresdener Parteitages) – ist selbst ein eingefleischter Opportunist, und das Organ der konsequenten deutschen Opportunisten „Sozialistische Monatshefte" trat sofort für ihn ein.

Der Opportunismus im Programm ist natürlicherweise verbunden mit dem Opportunismus in der Taktik und dem Opportunismus in organisatorischen Fragen. Den „neuen" Standpunkt auseinanderzusetzen unternahm Genosse Wolfgang Heine. Um dem Leser das Angesicht dieses typischen Intellektuellen, der sich der Sozialdemokratie angeschlossen und opportunistische Denkgewohnheiten mit sich gebracht hat, zu charakterisieren, genügt es zu sagen, dass Genosse Wolfgang Heine etwas weniger ist als ein deutscher Genosse Akimow und etwas mehr als ein deutscher Genosse Jegorow.

Genosse Wolfgang Heine ist in den „Sozialistischen Monatsheften" mit nicht geringerem Pomp ins Feld gezogen als Genosse Axelrod in der neuen „Iskra". Was ist schon allein die Überschrift des Aufsatzes wert: „Demokratische Randbemerkungen zum Fall Göhre" (Nr. 4, April, „Sozialistische Monatshefte"). Und der Inhalt ist nicht weniger deklamatorisch. Genosse Wolfgang Heine wendet sich gegen die „Verletzung der Autonomie des Wahlkreises", er verteidigt das „demokratische Prinzip", er erhebt Protest gegen die Einmischung der „vorgesetzten Behörden" (d. h. des Parteivorstandes) in die freie Wahl der Abgeordneten durch das Volk. Es handelt sich hier nicht um einen Zufall, belehrt uns Genosse Wolfgang Heine, sondern um die allgemeine „Tendenz zur Bürokratisierung und Zentralisierung der Partei", eine Tendenz, die es auch früher gegeben habe, die aber jetzt besonders gefährlich werde. Man soll „grundsätzlich die lokalen Korporationen als die Träger des Lebens der Partei anerkennen" (ein Plagiat aus der Broschüre des Genossen Martow „Noch einmal in der Minderheit"). Man soll „sich nicht gewöhnen, alle wichtigen politischen Entscheidungen von einer Zentrale aus zu treffen", die Partei muss gewarnt werden vor der „doktrinären Politik, die den Zusammenhang mit dem Leben verliert" (entnommen der Rede des Genossen Martow auf dem Parteitag, in der er den Standpunkt vertrat, „das Leben wird sich das Seine nehmen").

„… Wenn man auf den Grund geht," vertieft seine Argumentation Genosse W. Heine, „und von den persönlichen Differenzen, die, wie überall, auch hierbei stark mitgewirkt haben, absieht, so steckt in dieser Erregung gegen die Revisionisten" (gesperrt vom Verfasser, der, wie anzunehmen ist, auf die Verschiedenheit der Begriffe anspielt: Kampf gegen den Revisionismus und Kampf gegen die Revisionisten) „doch hauptsächlich das Misstrauen gegen das Оutsidertum" (W. Heine hat anscheinend die Broschüre über den Kampf gegen den Belagerungszustand nicht gelesen und nimmt darum zu einem Anglizismus Zuflucht: Outsidertum), „der Tradition gegen das Ungewohnte, der unpersönlichen Institution gegen das Individuelle" (siehe die Resolution Axelrods auf der Konferenz der Liga über die Unterdrückung der individuellen Initiative)16, „kurz, dieselbe Tendenz, die vorher als Neigung zur Bürokratisierung und Zentralisierung der Partei nachgewiesen worden ist."

Der Begriff der „Disziplin" flößt Genossen Wolfgang Heine eine nicht weniger edle Empörung ein als dem Genossen Axelrod.

„… Man zieh", schreibt er, „die Revisionisten des Mangels an Disziplin, weil sie in den ,Sozialistischen Monatsheften'" schrieben, ein Organ, dem man, weil es nicht unter Kontrolle der Partei stünde, sogar den Charakter einer sozialdemokratischen Zeitschrift absprechen wollte. Schon der Versuch dieser Einengung des Begriffs Sozialdemokraten, diese Betonung der Disziplin auf dem Gebiete geistiger Produktion, auf dem doch unbedingt Freiheit herrschen muss" (man denke an das Wort: der ideologische Kampf ist ein Prozess, die Formen der Organisation aber nur Formen), „zeigt die Tendenz zur Bürokratisierung und zur Unterdrückung der Individualität".

Und noch lange, lange wettert W. Heine auf alle möglichen Arten gegen diese verhasste Tendenz „eine alles umfassende große Organisation, möglichst zentralisiert, eine Taktik, eine Theorie" zu schaffen; er wettert gegen die Forderung der „unbedingten Unterordnung", der „blinden Unterordnung", er wettert gegen den „vereinfachten Zentralismus" usw. usw., buchstäblich „nach Axelrod".

Die von W. Heine eröffnete Diskussion ging weiter, und da in der deutschen Partei kein Gezänk um eine Kooptation diese Diskussion verschüttete, da die deutschen Akimows ihre Stellung nicht nur auf Parteitagen, sondern ständig in einem besonderen Organ klarlegen, so lief der Streit sehr bald auf eine Analyse der prinzipiellen Tendenzen der Orthodoxie und des Revisionismus in der organisatorischen Frage hinaus. Als Vertreter der revolutionären Richtung (der selbstverständlich wie auch bei uns „Diktatorentum", „Inquisitorentum" und ähnliche schreckliche Dinge vorgeworfen wurden) trat Karl Kautsky auf („Neue Zeit", 1904, Nr. 28, Aufsatz „Wahlkreis und Partei"). Der Aufsatz W. Heines, sagt er, spricht „den Gedankengang der ganzen revisionistischen Richtung" aus. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und in Italien treten die Opportunisten mit ihrer ganzen Kraft für den Autonomismus ein, für die Schwächung der Parteidisziplin, für ihre vollständige Aufhebung, überall führen ihre Tendenzen zur Desorganisation, zur Entartung des „demokratischen Prinzips" zum Anarchismus.

Die Demokratie ist keineswegs Herrschaftslosigkeit", belehrt Karl Kautsky die Opportunisten über die organisatorische Frage, „die Demokratie ist nicht Anarchie, sondern sie ist die Herrschaft der Masse über die von ihr Beauftragten, im Gegensatz zu anderen Herrschaftsformen, in denen die angeblichen Diener des Volkes in Wirklichkeit seine Herren sind."

K. Kautsky untersucht eingehend die desorganisierende Rolle des opportunistischen Autonomismus in den verschiedenen Ländern; er weist nach, dass gerade der Anschluss einer „Menge bürgerlicher Elemente"H an die Sozialdemokratie den Opportunismus, den Autonomismus und die Tendenzen zur Verletzung der Disziplin stärkt; er erinnert immer und immer wieder daran, dass gerade die „Organisation die Waffe ist, die das Proletariat emanzipieren wird", dass „die Organisation die dem Proletariat eigentümliche Waffe des Klassenkampfes" ist.

In Deutschland, wo der Opportunismus schwächer ist als in Frankreich und Italien, haben es „die autonomistischen Tendenzen … noch nicht viel weiter gebracht als zu mehr oder weniger pathetischen Deklamationen über Diktatoren und Großinquisitoren, BannstrahlenI und Ketzerriechereien, zu endlosen Nörgeleien, die endlosen Zwist erzeugen würden, wenn sie von der Gegenseite beantwortet würden".

Kein Wunder, dass in Russland, wo der Opportunismus in der Partei noch schwächer ist als in Deutschland, die autonomistischen Tendenzen weniger Ideen und mehr „pathetische Deklamationen" und Gezänk gezeugt haben.

Kein Wunder, dass Kautsky zu dem Ergebnis kommt:

Ja, man kann sagen, dass vielleicht in keiner anderen Frage der Revisionismus aller Länder so einheitlich ist, trotz aller seiner Mannigfaltigkeit und Buntfarbigkeit, wie in der Organisationsfrage."

Die Grundtendenzen der Orthodoxie und des Revisionismus auf diesem Gebiet formuliert auch K. Kautsky mit Hilfe des „furchtbaren Wortes": Bürokratismus versus Demokratismus. Man sagt uns. schreibt Kautsky, es „soll die schnödeste Verletzung des demokratischen Prinzips in sich schließen, das da besagt, von unten herauf, durch die Selbständigkeit der Massen, nicht von oben herab auf bürokratischem Wege" – wenn die Parteileitung das Recht erhält, die Wahl der Kandidaten (für den Reichstag) durch die örtlichen Wahlkreise zu beeinflussen. „Wenn es aber einen demokratischen Grundsatz gibt, dann ist es der, dass die Majorität das Übergewicht haben soll über die Minorität, und nicht umgekehrt." … Die Wahl der Reichstagsabgeordneten von irgendeinem einzelnen Wahlkreis ist eine wichtige Frage für die Gesamtpartei, die wenigstens durch ihre Vertrauensmänner17 die Ernennung der Kandidaten beeinflussen muss.

Wem das zu ,bürokratisch' oder ,zentralistisch' erscheint, der möge vorschlagen, die Kandidaten sollen durch Urabstimmung sämtlicher Parteigenossen festgestellt werden. Wer das nicht für angängig hält, darf sich über den Mangel an Demokratie nicht beschweren, wenn diese Tätigkeit, wie manche andere, die der Gesamtpartei zufällt, von einer oder mehreren Parteiinstanzen besorgt wird."

Es war „seit jeher in der Partei üblich", dass die einzelnen Wahlkreise sich mit der Parteileitung über die Aufstellung dieses oder jenes Kandidaten „freundschaftlich verständigten".

Aber die Partei ist zu groß geworden, als dass dies stillschweigende Gewohnheitsrecht ausreichte. Das Gewohnheitsrecht hört auf, ein Recht zu sein, wenn es aufhört, als selbstverständlich anerkannt zu werden, wenn seine Bestimmungen, ja seine Existenz strittig werden. Dann muss es ausdrücklich festgesetzt, kodifiziert werden" … dann muss man zu einer „genauen statutarischen FestlegungJ und dadurch zu einer größeren Straffheit der Organisation übergehen."

Man sieht also in anderen Verhältnissen denselben Kampf des opportunistischen und des revolutionären Flügels der Partei in den organisatorischen Fragen, denselben Konflikt zwischen Autonomismus und Zentralismus, zwischen Demokratismus und „Bürokratismus", zwischen den Tendenzen zur Lockerung der Strenge und zur Stärkung der Strenge von Organisation und Disziplin, zwischen der Psychologie des wankelmütigen Intellektuellen und des standhaften Proletariers, zwischen dem intellektuellen Individualismus und der proletarischen Geschlossenheit. Es fragt sich, wie sich die bürgerliche Demokratie zu diesem Konflikt gestellt hat – nicht jene, die die zu Schabernacken aufgelegte Geschichte dem Genossen Axelrod irgendwann zu zeigen insgeheim versprochen hatte, sondern die wirkliche, die wahre bürgerliche Demokratie, die auch in Deutschland nicht weniger gelehrte und aufmerksame Vertreter hat, als es unsere Herren vom „Oswoboschdenije" sind. Die deutsche bürgerliche Demokratie ist sofort auf die neue Diskussion eingegangen und hat sich sofort mit allen Kräften – ebenso wie die russische, wie immer und überall – für den opportunistischen Flügel der Sozialdemokratischen Partei eingesetzt. Das hervorragende Organ des deutschen Börsenkapitals, die „Frankfurter Zeitung", trat mit einem donnernden Leitartikel auf den Plan („Frankfurter Zeitung", 7. April 1904, Nr. 97, Abendblatt), der zeigt, dass die skrupellosen Plagiate aus Axelrod geradezu eine Krankheit der deutschen Presse werden. Die gestrengen Demokraten der Frankfurter Börse geißeln den „Absolutismus" in der Sozialdemokratischen Partei, die „Parteidiktatur", die „autokratische Herrschaft der Parteibehörden", diese „Interdikte", mit denen man „zugleich den ganzen Revisionismus mit strafen" will (man denke an die „falsche Beschuldigung des Opportunismus"), diese Forderung des „blinden Gehorsams", der „starren Disziplin", die Forderung der Unterordnung, die die Parteimitglieder in politische „Kadaver" verwandelt (das ist noch viel schärfer als die Schräubchen und Rädchen!). „Jede persönliche Eigenart", – empören sich die Ritter der Börse beim Anblick der antidemokratischen Zustände in der Sozialdemokratie, „jede Individualität soll als verpönt gelten, weil man davon, wie der Referent über diese Frage (auf dem Parteitag der sächsischen Sozialdemokraten), Sindermann, offen erklärte, französische Zustände, Jaurèsismus und Millerandismus befürchtet."

Soweit also in den neuen Worten der neuen „Iskra" zur organisatorischen Frage ein prinzipieller Sinn enthalten ist, unterliegt es keinem Zweifel, dass dieser Sinn opportunistisch ist. Diese Schlussfolgerung wird bekräftigt durch die ganze Analyse unseres Parteitages, der sich in einen revolutionären und einen opportunistischen Flügel teilte, und durch das Beispiel aller europäischen sozialdemokratischen Parteien, in denen der Opportunismus in der organisatorischen Frage in denselben Tendenzen, denselben Anklagen und fast durchweg auch in denselben Worten zum Ausdruck kommt. Gewiss, die nationalen Besonderheiten der verschiedenen Parteien und die Ungleichartigkeit der politischen Verhältnisse in den verschiedenen Ländern drücken ihren Stempel auf, wodurch der deutsche Opportunismus dem französischen, der französische dem italienischen, der italienische dem russischen ganz unähnlich wird. Aber die Gleichartigkeit der Grundteilung aller dieser Parteien in einen revolutionären und einen opportunistischen Flügel, die Gleichartigkeit des Gedankenganges und der Tendenzen des Opportunismus in der organisatorischen Frage treten trotz der erwähnten Verschiedenheit der Verhältnisse deutlich hervor.K Der Überfluss an Vertretern der radikalen Intelligenz in den Reihen unserer Marxisten und unserer Sozialdemokraten machte und macht das Vorhandensein des durch ihre Psychologie erzeugten Opportunismus auf den verschiedensten Gebieten und in den verschiedensten Formen unvermeidlich. Wir bekämpften den Opportunismus in den Grundfragen unserer Weltanschauung, in den Programmfragen, und das vollständige Auseinandergehen in den Zielen führte unvermeidlich zur unwiderruflichen Abgrenzung zwischen den Liberalen, die unsern legalen Marxismus verdorben haben, und den Sozialdemokraten. Wir bekämpften den Opportunismus in den Fragen der Taktik, und das Auseinandergehen mit den Genossen Kritschewski und Akimow in diesen weniger wichtigen Fragen war natürlich nur vorübergehend und von keiner Bildung verschiedener Parteien begleitet. Wir müssen jetzt den Opportunismus Martows und Axelrods in Fragen der Organisation überwinden, die selbstverständlich noch weniger grundlegend sind als die Fragen des Programms und der Taktik, die aber in diesem Augenblick in den Vordergrund unseres Parteilebens getreten sind.

Wenn man vom Kampf gegen den Opportunismus spricht, so darf man nie das charakteristische Merkmal des ganzen heutigen Opportunismus auf allen Gebieten vergessen: seine Unklarheit, Verschwommenheit, Ungreifbarkeit. Seiner ganzen Natur nach geht der Opportunist stets einer klaren und unwiderruflichen Fragestellung aus dem Wege; er sucht eine Resultante, windet sich wie eine Schlange zwischen Standpunkten, die sich gegenseitig ausschließen, und bemüht sich, mit dem einen und mit dem andern „einverstanden zu sein", wobei er seine Meinungsverschiedenheiten auf kleine Verbesserungsanträge, Zweifel, gute und unschuldige Wünsche usw. beschränkt. Der Opportunist in Programmfragen, Genosse Eduard Bernstein, ist mit dem revolutionären Programm der Partei „einverstanden", und obgleich er sicherlich seine Umgestaltung von Grund auf wünscht, so hält er sie doch für unzeitgemäß, für unzweckmäßig, für nicht so wichtig wie die Klarlegung der „allgemeinen Grundsätze" der „Kritik" (die hauptsächlich in einer unkritischen Übernahme der Prinzipien und der Parolen der bürgerlichen Demokratie besteht). Der Opportunist in Fragen der Taktik, Genosse von Vollmar, ist ebenfalls mit der alten Taktik der revolutionären Sozialdemokratie einverstanden und beschränkt sich ebenfalls mehr auf Deklamationen, Verbesserungsanträge, kleine Verspottungen, ohne mit irgendeiner bestimmten „ministerialistischen" Taktik aufzutreten. Die Opportunisten in Organisationsfragen, die Genossen Martow und Axelrod, haben auch bisher – trotz der offenen Aufforderungen – keine bestimmten prinzipiellen Thesen aufgestellt, die „statutarisch festgelegt" werden könnten; auch sie hätten unbedingt eine Umgestaltung unseres Organisationsstatuts von Grund auf gewünscht („Iskra", Nr. 58, S. 2, Spalte 3), aber sie ziehen es vor, sich zunächst mit „allgemeinen Fragen der Organisation" zu befassen (denn eine wirklich grundlegende Umgestaltung unseres – trotz des § 1 – doch zentralistischen Statuts würde unvermeidlich, wollte man sie im Sinne der neuen „Iskra" vornehmen, zum Autonomismus führen, Genosse Martow möchte aber seine prinzipielle Tendenz zum Autonomismus sogar sich selber nicht eingestehen). Ihre „prinzipielle" Stellung in der organisatorischen Frage schillert darum in allen Regenbogenfarben: überwiegend sind es unschuldige pathetische Deklamationen über Selbstherrschertum und Bürokratismus, über blinden Gehorsam, über Schräubchen und Rädchen – Deklamationen, die so unschuldig sind, dass es noch sehr schwer fällt, in ihnen den wirklich prinzipiellen Sinn vom wirklichen Kooptationssinn zu trennen. Aber -– je weiter in den Wald, um so dichter die Bäume: die Versuche der Analyse und genauen Definierung des verhassten „Bürokratismus" führen unvermeidlich zum Autonomismus, die Versuche der „Vertiefung" und Begründung führen unweigerlich zur Rechtfertigung der Rückständigkeit, zum Chwostismus, zu girondistischen Phrasen. Schließlich erscheint das Prinzip des Anarchismus auf der Bildfläche, als das einzige wirklich bestimmte und in der Praxis darum besonders klar hervortretende Prinzip (die Praxis geht der Theorie immer voran). Verhöhnung der Disziplin – Autonomismus – Anarchismus, das ist die Stufenleiter, an der unser Organisationsopportunismus bald herauf, bald herunter klettert – von Stufe zu Stufe springend und jeder klaren Formulierung seiner Prinzipien aus dem Wege gehend.L Genau dieselbe Abstufung kann man auch am Opportunismus in Programm und Taktik beobachten: Verspottung der „Orthodoxie", der Rechtgläubigkeit, Beschränktheit und Unbeweglichkeit – revisionistische „Kritik" und Ministerialismus – bürgerliche Demokratie.

In engem psychologischen Zusammenhang mit dem Hass gegen die Disziplin steht die nicht abbrechende monotone Note des Gekränktseins, die in allen Schriften aller heutigen Opportunisten im Allgemeinen und unserer Minderheit im Besonderen erklingt. Sie werden verfolgt, bedrängt, verjagt, belagert, niedergetreten. In diesen Worten ist viel mehr psychologische und politische Wahrheit enthalten, als der Verfasser des netten und geistreichen Witzes über die Niedergetretenen und die Niedertretenden18 wahrscheinlich selber geahnt hat. Man betrachte in der Tat die Protokolle unseres Parteitages, und man wird sehen, dass die Minderheit durchweg Gekränkte sind, jene Leute, die die revolutionäre Sozialdemokratie irgendwann und mit irgend etwas gekränkt hat. Da sind die Bundisten und die „Rabotscheje Djelo"-Leute, die wir so „kränkten", dass sie den Parteitag verließen; da sind die Leute vom „Juschny Rabotschij", die sich tödlich gekränkt fühlen durch die Abdrosselung der Organisationen überhaupt und ihrer eigenen im Besonderen; da ist Genosse Machow, den man jedes Mal, wenn er das Wort nahm, kränkte (weil er sich pünktlich jedes Mal blamierte); da sind schließlich Genosse Martow und Genosse Axelrod, die man durch die „falsche Beschuldigung des Opportunismus" in der Frage des § 1 und durch die Niederlage bei den Wahlen kränkte. Und all diese bitteren Kränkungen waren nicht das zufällige Ergebnis unerlaubter Witze, scharfer Ausfälle, wütender Polemik, des Türewerfens und des Drohens mit der Faust, wie sehr viele Philister auch heute noch glauben, sondern das unvermeidliche politische Ergebnis der ganzen dreijährigen ideologischen Arbeit der „Iskra". Wenn wir im Verlaufe dieser drei Jahre nicht nur mit der Zunge lose Reden führten, sondern eine Überzeugung zum Ausdruck brachten, die in die Tat übergehen muss, so waren wir gezwungen, auf dem Parteitag die Anti-Iskristen und den „Sumpf" zu bekämpfen. Und als wir – zusammen mit Genossen Martow, der in den ersten Reihen mit offenem Visier kämpfte, eine so große Menge von Leuten gekränkt hatten, da war es notwendig, nur noch ein bisschen, ein ganz klein wenig Genossen Axelrod und Genossen Martow zu kränken, um den Becher zum Überlaufen zu bringen. Die Quantität schlug in die Qualität um. Die Negation ging vor sich. Alle Gekränkten vergaßen die gegenseitigen Kränkungen, sie fielen einander schluchzend in die Arme und erhoben das Banner des „Aufstandes gegen den Leninismus".M

Der Aufstand ist eine herrliche Sache, wenn sich fortgeschrittene Schichten gegen reaktionäre erheben. Wenn sich der revolutionäre Flügel gegen den opportunistischen erhebt, so ist es gut. Wenn sich der opportunistische Flügel gegen den revolutionären erhebt, so ist es schlecht.

Genosse Plechanow ist gezwungen, an dieser schlechten Sache sozusagen als Kriegsgefangener teilzunehmen. Er bemüht sich, seinen Ärger auszulassen, greift einzelne ungeschickte Sätze bei dem Verfasser der einen oder der anderen Resolution zugunsten der „Mehrheit" heraus und ruft dabei aus: „Armer Genosse Lenin! Schön sind seine orthodoxen Anhänger!" („Iskra", Nr. 63, Beilage19).

Nun, Genosse Plechanow, wenn ich arm bin, so ist die Redaktion der neuen „Iskra" ganz bettelarm. Wie arm ich auch sein mag, so bin ich doch nicht so bettelarm, um gezwungen zu sein, die Augen vor dem Parteitag zu verschließen und in den Resolutionen der Komiteemitglieder Material für meinen Witz zu suchen. Wie arm ich auch sein mag, so bin ich doch tausendmal reicher als die Leute, deren Anhänger nicht zufällig diesen oder jenen ungeschickten Satz aussprechen, sondern sich in allen Fragen, in den Fragen der Organisation, der Taktik, des Programms hartnäckig und beharrlich an Prinzipien halten, die den Prinzipien der revolutionären Sozialdemokratie entgegengesetzt sind. Wie arm ich auch sein mag, so ist es doch nicht so weit mit mir gekommen, dass ich gezwungen wäre, das mir von solchen Anhängern gespendete Lob vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Die Redaktion der neuen „Iskra" aber ist gezwungen, das zu tun.

Weißt du, Leser, was das Woronescher Komitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands ist? Wenn du das nicht weißt, dann lies die Parteitagsprotokolle. Du wirst daraus erfahren, dass die Richtung dieses Komitees vollkommen von Genossen Akimow und Genossen Bruker vertreten wird, die auf dem Parteitag auf der ganzen Linie den revolutionären Flügel der Partei bekämpft haben und die mehr als ein dutzendmal von allen – angefangen von Genossen Plechanow und bis zu Genossen Popow – zu den Opportunisten gezählt worden sind.

Dieses Woronescher Komitee erklärt nun in seinem Januarblatt (Nr. 12, 1904) folgendes:

In unserer ständig anwachsenden Partei hat sich im letzten Jahr ein großes und für die Partei wichtiges Ereignis vollzogen: der Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, der Vertreter ihrer Organisationen, hat stattgefunden. Die Einberufung eines Parteitages ist eine sehr komplizierte und unter dem monarchistischen Regime eine sehr riskante, schwierige Sache, daher ist es kein Wunder, dass die Einberufung des Parteitags viel zu wünschen übrig ließ und dass die Tagung selber, obgleich sie ohne Hindernis vonstatten ging, nicht alle Forderungen, die die Partei an sie gestellt hatte, befriedigte. Die Genossen, die die Konferenz (Beratung) im Jahre 1902 beauftragt hatte, den Parteitag einzuberufen, wurden verhaftet, und so veranstalteten den Parteitag Leute, die nur von einer Richtung in der russischen Sozialdemokratie, der iskristischen, dazu bestimmt wurden. Viele sozialdemokratische Organisationen, nicht aber iskristische, wurden zu den Arbeiten des Parteitages nicht herangezogen: zum Teil aus diesem Grunde ist die Aufgabe der Ausarbeitung eines Programms und eines Statuts der Partei äußerst unvollkommen durchgeführt worden; die großen Lücken im Statut, ,die zu gefährlichen Missverständnissen führen können', werden von den Parteitagsdelegierten selber anerkannt. Auf dem Parteitag haben sich die Iskristen selber gespalten, und viele bedeutende Führer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, die früher das Aktionsprogramm der ,Iskra' vollkommen angenommen zu haben schienen, haben jetzt zugegeben, dass viele ihrer Ansichten, die hauptsächlich von Lenin und Plechanow vertreten wurden, nicht lebensfähig sind. Obwohl Lenin und Plechanow auf dem Parteitag die Oberhand gewannen, so hat doch die Macht des praktischen Lebens, die Forderungen der wirklichen Arbeit, in deren Reihen auch alle Nicht-Iskristen stehen, rasch die Fehler der Theoretiker verbessert und nach dem Parteitag bereits ernste Verbesserungen vorgenommen.

Die ,Iskra' hat sich sehr geändert und verspricht, den Forderungen der Führer der Sozialdemokratie im allgemeinen Aufmerksamkeit zu schenken. Obwohl nun die Arbeiten des Parteitags vom nächsten Parteitag revidiert werden müssen und obwohl sie, wie die Parteitagsdelegierten selber einsehen, nicht befriedigend sind und darum nicht als unabänderliche Beschlüsse in die Partei eingehen können, so hat der Parteitag doch die Lage in der Partei geklärt und ein reichhaltiges Material für die weitere theoretische und organisatorische Tätigkeit der Partei und eine ungeheuer lehrreiche Erfahrung für die allgemeine Parteiarbeit geliefert. Die Parteitagsbeschlüsse und das vom Parteitag ausgearbeitete Statut werden von allen Organisationen berücksichtigt werden, aber viele werden davon absehen, sich ausschließlich von ihnen leiten zu lassen, angesichts ihrer offensichtlichen Unvollkommenheit.

Im Woronescher Komitee, das die große Wichtigkeit der allgemeinen Parteiarbeit begriffen hat, haben alle Fragen im Zusammenhang mit der Organisierung des Parteitags einen lebhaften Widerhall gefunden. Das Komitee ist sich der großen Bedeutung der Geschehnisse auf dem Parteitag bewusst, es begrüßt die in der ,Iskra' – die zum Zentralorgan (Hauptorgan) geworden ist – vollzogene Wendung. Obwohl die Lage der Dinge in der Partei und im Zentralkomitee uns noch nicht befriedigt, so glauben wir doch, dass die schwierige Arbeit der Organisierung der Partei mit gemeinsamen Anstrengungen vervollkommnet werden wird. Angesichts der falschen Gerüchte erklärt das Woronescher Komitee den Genossen, dass von einem Austritt des Woronescher Komitees aus der Partei keine Rede sein kann. Das Woronescher Komitee versteht sehr gut, ein wie gefährlicher Präzedenzfall (Beispiel) der Austritt einer Arbeiterorganisation, wie sie das Woronescher Komitee darstellt, aus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands sein würde, welch ein Vorwurf damit auf der Partei lasten und wie ungünstig das für die Arbeiterorganisationen sein würde, die einem solchen Beispiel folgen könnten. Wir dürfen keine neuen Spaltungen schaffen, sondern müssen hartnäckig nach der Vereinigung aller klassenbewussten Arbeiter und Sozialisten in einer Partei streben. Außerdem war der zweite Parteitag ein ordentlicher und nicht ein konstituierender Parteitag. Ausschlüsse aus der Partei können nur von einem Parteigericht vorgenommen werden, und keine einzige Organisation, auch nicht das Zentralkomitee, hat das Recht, irgendeine sozialdemokratische Organisation aus der Partei auszuschließen. Mehr als das. Auf dem zweiten Parteitag ist der § 8 des Statuts angenommen worden, auf Grund dessen jede Organisation in ihren örtlichen Angelegenheiten autonom (selbständig) ist, und darum steht dem Woronescher Komitee das volle Recht zu, seine organisatorischen Auffassungen im Leben und in der Partei durchzusetzen."

Die Redaktion der neuen „Iskra", die sich in Nr. 61 auf dieses Blatt beruft, hat den zweiten, kursiv gedruckten Teil der angeführten Tirade abgedruckt; den ersten, petit gedruckten Teil hat die Redaktion wegzulassen vorgezogen.

Sie hat sich geschämt.

A Diese Feuilletons sind im Sammelbuch „Zwei Jahre ,Iskra"', II. Teil, S. 122 u. folg. erschienen (St. Petersburg 1906). (Fußnote zur Ausgabe von 1908. Die Red.)

B Diese „konkrete Bedeutung" bezieht sich auf den Kampf während des Parteitags und nachher um die personelle Zusammensetzung der zentralen Körperschaften, dessen Schilderung in dieser Ausgäbe weggelassen ist. (Fußnote zur Ausgabe von 1908. Die Red.)

1 Ein Zitat aus dem Artikel Axelrods „Die Vereinigung der russischen Sozialdemokratie und ihre Aufgaben" („Iskra" Nr. 57 vom 15. Januar 1904; der Anfang des Artikels war in „Iskra" Nr. 55 vom 15. Dezember 1903 veröffentlicht) .

Mit dem „Führer der Liberalen" meinte Axelrod Peter Struve; indem er vom „Führer der revolutionären bürgerlichen Demokratie" sprach, spielte er auf Lenin an.

2 Im September 1894 waren die „Kritischen Notizen" Struves erschienen, der zu jener Zeit als Marxist galt. Lenin unterzog schon damals, im Herbst 1894, das Buch Struves einer scharfen kritischen Analyse, und zwar im Referat „Die Widerspiegelung des Marxismus in der bürgerlichen Literatur". Dieses Referat legte Lenin später seinem Artikel „Der ökonomische Inhalt des Narodnikitums und seine Kritik im Buch des Herrn Struve" (der Artikel wurde Ende 1894 geschrieben und in dem von der Zensur vernichteten Sammelbuch „Materialien zur Charakteristik unserer wirtschaftlichen Entwicklung", 1895 gedruckt) zugrunde.

3 Die Worte „tausendmal in der Literatur widerlegt" sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen, wahrscheinlich infolge eines Versehens der Druckerei. Die Red.

4 Lenin meint den Artikel „Bereiten wir uns so vor?" in Nr. 62 der „Iskra" vom 15. März 1904. In der Polemik gegen die Vertreter von drei Uraler Komitees, die Anhänger der Mehrheit waren und die Notwendigkeit einer „streng konspirativen Organisation" vertraten, die imstande wäre, „den gesamtrussischen Aufstand vorzubereiten", schrieb der Verfasser des Artikels (Martow): „Von welcher .Vorbereitung des Aufstandes' kann überhaupt in unserer Partei die Rede sein? Mit tiefem Bedauern muss man feststellen, dass sich bei unseren Genossen rein utopische Anschauungen über diese Frage bemerkbar zu machen beginnen, die sie sehr weit vom proletarischen Klassenkampf wegzubringen drohen. Man spricht von der ,Vorbereitung des Aufstandes' im Sinne der direkten Verschwörung, die von einer ,streng konspirativen Organisation' angezettelt werden soll, ungefähr so wie sie einst die französischen Revolutionäre der 40er und 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts anzettelten. Je enger im Bewusstsein mancher Genossen die Vorstellung von den laufenden politischen Aufgaben unserer Partei werden, je mehr sie in der Praxis die Neigung zeigen, sich passiv abzufinden mit der ,Armut' und ,Unvollkommenheit' unserer täglichen Arbeit und mit ihrer außerordentlichen – keineswegs geringeren als zu Zeiten des Ökonomismus – Rückständigkeit im Vergleich zu den Forderungen, die die sich spontan erhebenden Massen stellen, – um so stärker konzentrieren sich ihre Gedanken auf den leuchtenden Punkt, den sie in dem von der ,streng konspirativen Organisation' illegal angezettelten und auf Befehl einer ,machtvollen Zentralstelle' durchgeführten Aufstand sehen … Die Sozialdemokratie kann den ,Aufstand' nur in einem Sinne , vorbereiten': indem sie ihre eigenen Kräfte für den möglichen Aufstand der Massen vorbereitet."

5 Lenin meint den (in der Form eines Briefes an die Redaktion veröffentlichten) Artikel „Die agitatorischen Aufgaben unserer Partei" in Nr. 43 der „Iskra" vom 1. Juli 1903. In der Ausgabe der „Iskra", die im Jahre 1928 vom Institut zum Studium der Parteigeschichte herausgegeben wurde, wird ein gewisser Fainberg als Verfasser des Artikels genannt.

C Siehe den Artikel Plechanows über den Ökonomismus in Nr. 53 der „Iskra". In dem Untertitel dieses Artikels hat sich anscheinend ein kleiner Druckfehler eingeschlichen. Anstatt: „Laute Gedanken über den Zweiten; Parteitag" muss es augenscheinlich heißen: „Über den Kongress der Liga" oder vielleicht „über die Kooptation". So sehr unter bestimmten Bedingungen die Nachgiebigkeit in persönlichen Ansprüchen am Platze sein kann, so sehr ist es (vom Partei- und nicht vom spießbürgerlichen Standpunkt) unzulässig, dass die die Partei beschäftigenden Fragen durcheinander geworfen werden, dass die Frage des neuen Fehlers Martows und Axelrods, die begonnen haben, von der Orthodoxie zum Opportunismus abzuschwenken, ersetzt wird durch die Frage des alten Fehlers (an die außer der neuen „Iskra" niemand jetzt erinnert) der Martynow und Akimow, die vielleicht heute bereit sind, in vielen Fragen des Programms und der Taktik vom Opportunismus zur Orthodoxie umzuschwenken.

6 Die Worte in den Klammern sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

7 Ein Zitat aus der Antwort der „Iskra"-Redaktion („Von der Redaktion") auf den Artikel (Brief an die Redaktion) Alexandrows (Pseudonym) „Organisationsfragen" in der Beilage zu Nr. 56 der „Iskra" vom 1. Januar 1904. Der Artikel Alexandrows war der Verteidigung der Organisationsgrundsätze der Mehrheit gewidmet.

8 Die Worte „jetzt diese … zerstört und" sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

9 Lenin meint den Artikel (Martows) „Das Erwachen der Demokratie und unsere Aufgaben" („Iskra" Nr. 58 vom 25. Januar 1904), der im Zusammenhang mit dem Anwachsen der oppositionellen Stimmungen in der bürgerlichen Demokratie geschrieben wurde, die sich besonders stark auf dem Kongress für technische Ausbildung äußerten (durch Verfügung der Regierung wurde der Kongress aufgelöst). Martow, der das (bolschewistische) Petersburger Komitee angriff, weil es angeblich die Aufmerksamkeit der Arbeitermassen nicht genügend auf solche Tatsachen des politischen Lebens lenkte, wie es der genannte Kongress gewesen ist, schrieb, das Ziel der Sozialdemokratie müsse „die systematische Selbsterziehung des Proletariats" durch seine Teilnahme am politischen Leben des Staates sein. „Die sozialdemokratische Politik der Arbeiterklasse ist nicht identisch mit der politischen Bewegung des Proletariats, die von Leuten mit sozialdemokratischen Überzeugungen geführt wird. Daran muss jeder denken, der die Pflicht eines Ideologen des Proletariats tatsächlich erfüllen will. Das niemals vergessen, heißt die für einen Sozialdemokraten ganz ungeeignete glückliche Fähigkeit verlieren – die Fähigkeit, um der Form willen den Inhalt zu übersehen, vor Bäumen den Wald nicht zu sehen, um der Frage der Zentralisierung um eine leere Stelle willen die ernste Frage der Organisierung des spontanen proletarischen Kampfes zum zielbewussten politischen Kampf des Proletariats zu vergessen."

10 Lenin meint hier die Volkserzählung vom „Hans dem Dummkopf" (Iwan Duratschok), dem seine Mutter lehrt, höflich zu sein, z. B. einem Bauer, der seine Ernte einfährt, zu wünschen, er möge so viel zu schleppen haben, dass er's nicht erschleppen kann. Hans aber sagt das den Trägern eines ihm begegnenden Leichenzuges. Hier als Beispiel für einen unangebrachtem Wunsch zitiert. Die Red.

D Ich sehe schon ganz davon ab, dass der Inhalt unserer Parteiarbeit auf dem Parteitag (im Programm usw.) nur nach einem Kampf im Sinne der revolutionären Sozialdemokratie festgelegt werden konnte, nach einem Kampf gegen dieselben Anti-Iskristen und denselben Sumpf, deren Vertreter in unserer „Minderheit" zahlenmäßig überwiegen. (Der weitere Teil der Fußnote ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.) Es wäre auch interessant, zur Frage des Inhalts, sagen wir zum Beispiel, sechs Nummern der alten „Iskra" (Nr. 46–51) und zwölf Nummern der neuen „Iskra" (Nr. 52–63) mit einander zu vergleichen. Aber das ein anderes Mal.

11 Parodie auf das revolutionäre Lied: Auf die Barrikaden! Diese Parodie war eine Verhöhnung der vorsichtigen Politik der Ökonomisten. Die Red.

12 „Edelanarchismus" bei Lenin deutsch. Die Red.

13 Lenin meint hier und auf Seite 426 den Artikel Martows „An der Tagesordnung" in Nr. 58 der „Iskra" vom 25. Januar 1904. Der Artikel enthält eine Kritik des Vorworts und Nachworts Lenins zu der Broschüre „Brief an einen Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben".

E Ich lasse hier, wie überhaupt in diesem Paragraphen, den „Kooptations"-Sinn dieses Geheuls beiseite. (Diese Fußnote ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.)

14 In einer seiner Sitzungen zu Beginn des Jahres 1904 nahm das Moskauer Komitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, das auf dem Boden der Mehrheit stand, eine Resolution an, in der das Moskauer Komitee erklärte, dass es sich in der Frage seiner personellen Zusammensetzung, der Zahl seiner Mitglieder, der Einführung neuer und der Umgruppierung alter Mitglieder des Moskauer Komitees – gemäß § 9 des Statuts (siehe vorliegenden Band, S. 525) allen Verfügungen des Zentralkomitees unterordnen werde. Die Anhänger der Minderheit erhoben gegen diesen Beschluss Einspruch und verteidigten die Autonomie des Komitees in der Frage seiner Zusammensetzung (entgegen dem § 6 des Statuts, in dem es heißt, dass das Zentralkomitee die Kräfte der Partei verteilt). In seinem Artikel „An der Tagesordnung" („Iskra" Nr. 60 vom 25. Februar 1904) trat Martow natürlich für die „Autonomie" ein, die er unter anderem mit folgendem Argument verteidigte: „Wenn man annehmen sollte, dass das Zentralkomitee die personelle Zusammensetzung der Komitees bestimmt, so würde es sich erweisen, dass das Zentralkomitee auf dem folgenden Parteitag den Bericht an Delegierte von Organisationen erstatten würde, deren Zusammensetzung es selber bestimmt hat."

F Genosse Martow hat, als er die verschiedenen Paragraphen des Statuts untersuchte, gerade den Paragraphen weggelassen, der von dem Verhältnis des Teiles zum Ganzen handelt: das Zentralkomitee verteilt die Parteikräfte" (§ 6). Kann man Kräfte verteilen, ohne die Genossen aus einem Komitee in ein anderes zu versetzen? Es wäre wirklich peinlich, auf diese Binsenwahrheit eingehen zu müssen. (Diese Fußnote ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.)

15 gegenüber. Die Red.

G Göhre war am 16. Juni 1903 im 15. sächsischen Wahlkreis in den Reichstag gewählt worden, legte aber nach dem Dresdener Parteitag sein Mandat nieder; die Wähler des 20. Wahlkreises wollten nach dem Tode des Abgeordneten Rosenow wieder Göhre als ihren Kandidaten vorschlagen. Der Parteivorstand und der sächsische Landes-Parteivorstand wandten sich dagegen. Sie hatten zwar nicht das Recht, die Kandidatur Göhres formell zu verbieten, erreichten aber, dass Göhre auf die Kandidatur verzichtete. Bei den Wahlen erlitten die Sozialdemokraten eine Niederlage.

16 Die in Klammern stehenden Worte sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.

H Als Beispiel nennt K. Kautsky Jaurès. Je mehr diese Leute zum Opportunismus neigen, um so mehr „musste ihnen die Parteidisziplin als eine ungehörige Einengung ihrer freien Persönlichkeit erscheinen".

I Der Bannstrahl ist das deutsche Äquivalent für den russischen „Belagerungszustand" und die „Ausnahmegesetze". Das ist das „furchtbare Wort" der deutschen Opportunisten.

17 „Vertrauensmänner" bei Lenin deutsch. Die Red.

J Es ist im höchsten Grade lehrreich, diese Bemerkungen K. Kautskys über die Ablösung des stillschweigend anerkannten Gewohnheitsrechtes durch ein statutarisch festgelegtes Recht mit all der „Ablösung" zu vergleichen, die in unserer Partei im Allgemeinen, und in der Redaktion im Besonderen seit dem Parteitag vor sich geht. Vergleiche die Rede der V. I. Sassulitsch (auf dem Kongress der Liga, S. 66 u. folg.), die sich kaum im Klaren ist über die ganze Bedeutung der vor sich gehenden Ablösung. {In ihrer Rede in der dritten Sitzung der Liga (28. Oktober) bestritt V. Sassulitsch, als sie die Frage der Wahl der Redaktion auf dem Parteitag anschnitt, die Notwendigkeit, durch den Parteitag eine Änderung in der Redaktion vorzunehmen, selbst wenn innerhalb der Redaktion Meinungsverschiedenheiten bestehen sollten. Ihren Standpunkt begründete V. Sassulitsch unter anderem folgendermaßen: „Für manche Leute (Sassulitsch meinte damit Lenin. Die Red.) ändern sich im Moment der Meinungsverschiedenheiten die Persönlichkeiten der Gegner so sehr, dass sie den Wunsch empfinden, sich von ihnen ganz freizumachen; wenn das aber sehr schwer ist, wenn man öffentlich Anklage erheben und auf ihr bestehen muss, so geht der Wunsch nicht in die Tat über, der Konflikt wird beigelegt, die Arbeit ist möglich, das gegenseitige Vertrauen wird trotz der Meinungsverschiedenheiten nicht verletzt. Wenn aber die Methode aufkommen sollte, die Leute, die eine andere Meinung haben, auf leichte Art loszuwerden, so würde jeder kleinste Zusammenstoß ein unwiderruflicher Bruch zu werden drohen" („Protokoll des 2. ordentlichen Kongresses der Auslandsliga der Russischen Revolutionären Sozialdemokratie", 1904).} (Die Fußnote ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.)

K Niemand wird heute daran zweifeln, dass die alte Teilung der russischen Sozialdemokraten in den Fragen der Taktik in Ökonomisten und Politiker von der gleichen Art war wie die Teilung der gesamten internationalen Sozialdemokratie in Opportunisten und Revolutionäre, obgleich der Unterschied zwischen den Genossen Martynow und Akimow einerseits und den Genossen von Vollmer und von Elm oder Jaurès und Millerand anderseits sehr groß ist. Genau so besteht zweifellos auch eine Gleichartigkeit der Grundteilungen in der organisatorischen Frage, trotz des ungeheuren Unterschieds der Verhältnisse zwischen politisch rechtlosen und politisch freien Ländern. Es ist äußerst charakteristisch, dass die grundsatzfeste Redaktion der neuen „Iskra", die die Diskussion zwischen Kautsky und Heine flüchtig gestreift hat (Nr. 64), die Frage der prinzipiellen Tendenzen jedes Opportunismus und jeder Orthodoxie in der organisatorischen Frage ängstlich vermied. {Lenin meint den Artikel „Der Zentralismus in der deutschen Sozialdemokratischen Partei" in Nr. 64 der „Iskra" vom 18. April 1904 (Rubrik: „Auswärtige Rundschau").}

L Wer sich an die Debatten über den § 1 erinnert, der wird jetzt klar sehen, dass der Fehler der Genossen Martow und Axelrod in der Frage des § I bei der Entwicklung und Vertiefung dieses Fehlers unvermeidlich zum Organisationsopportunismus führt. Der Grundgedanke des Genossen Martow – sich selbst zur Partei zu zählen – ist eben ein falscher „Demokratismus", der Gedanke des Aufbaues der Partei von unten nach oben. Meine Idee ist dagegen in dem Sinne „bürokratisch", dass die Partei von oben nach unten aufgebaut werden soll, vom Parteitag zu den einzelnen Parteiorganisationen. Die Psychologie des bürgerlichen Intellektuellen, die anarchistischen Phrasen, der opportunistische, chwostische Tiefsinn – all das ist schon in der Debatte über den § 1 in Erscheinung getreten. Genosse Martow spricht im „Belagerungszustand" (S. 20) (die Worte „im Belagerungszustand' [S. 20]" sind in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.) von der „begonnenen Denkarbeit" in der neuen „Iskra". Das ist soweit richtig, als er und Axelrod, mit § 1 beginnend, tatsächlich ihren Gedanken eine neue Richtung geben. Schlimm ist nur, dass diese Richtung opportunistisch ist. Je weiter sie in dieser Richtung „arbeiten" werden, je reiner diese Arbeit vom Kooptationsgezänk sein wird (der Satz „je reiner … sein wird" ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.), um so tiefer werden sie im Sumpf stecken bleiben. (Der weitere Teil der Fußnote ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.) Genosse Plechanow hat das schon auf dem Parteitag klar gesehen, und im Artikel „Was sollen wir nicht tun?" hat er sie zum zweiten Mal gewarnt: ich bin bereit, euch sogar zu kooptieren, nur geht nicht diesen Weg, der ausschließlich zum Opportunismus und Anarchismus führt. – Martow und Axelrod haben den guten Rat nicht befolgt: wie? nicht gehen? sich mit Lenin einverstanden erklären, dass die Kooptation nur ein Gezänk sei? Niemals! Wir wollen ihm zeigen, dass wir Leute mit Grundsätzen sind! – Und sie haben es gezeigt. Sie haben allen anschaulich gezeigt, dass ihre neuen Grundsätze, soweit sie sie haben, die Grundsätze des Opportunismus sind.

18 Als humoristische Beilage zu seinem Artikel „An der Tagesordnung" („Iskra" Nr. 58 vom 25. Januar 1904) veröffentlichte Martow eine „Kurze Verfassung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Maximalstatut der ,Felsenfesten')". Hier einige Paragraphen dieses scherzhaften „Statuts", das in der Form einer Karikatur die organisatorischen Ansichten der Mehrheit verspottete: § 1. Die Partei ist eingeteilt in solche, die andere zurückdrängen, und solche, die zurückgedrängt werden. § 3. Im Interesse des Zentralismus genießen diejenigen,. die zurückdrängen, ein abgestuftes Vertrauen. Die Zurückgedrängten sind gleichberechtigt. § 6. Das Zentralorgan drängt mit Maßnahmen geistiger Beeinflussung zurück. Wer sich nicht überzeugen lässt, wird in die Hände des Zentralkomitees gegeben. § 7. Dann handelt das Zentralkomitee usw.

M Dieser merkwürdige Ausdruck stammt vom Genossen Martow. (Der zweite Teil der Fußnote ist in der Ausgabe von 1908 weggelassen. Die Red.) („Belagerungszustand", S. 68.) Genosse Martow hat die Zeit abgewartet, wo sie zu fünf waren, um gegen mich allein einen „Aufstand" zu erheben. Genosse Martow polemisiert ungeschickt: er will seinen Gegner dadurch vernichten, dass er ihm die größten Komplimente sagt.

19 In der Beilage zu Nr. 63 der „Iskra" vom 1. April 1904 wurde die „Antwort der Vertreter der Komitees von Ufa, Mittelural und Perm auf den Brief des Zentralorgans" veröffentlicht. Die Vertreter dieser Komitees standen auf dem Boden der Mehrheit (das Zentralorgan, d. h. die menschewistische „Iskra", hatte in ihrem Brief die Komitees aufgefordert, sich über die Lage in der Partei zu äußern). In ihrer „Antwort" übten diese Bolschewiki sehr scharf und ausführlich Kritik an dem „neuen Kurs" der „Iskra", der eingeschlagen wurde, nachdem Lenin die Redaktion verlassen hatte („mit dem Austritt Lenins machte die ,Iskra' sofort eine Schwenkung. Die Feder war noch nicht getrocknet, mit der Lenin schrieb und lehrte, welchen großen Schaden der Partei ihre inneren Feinde – die Revisionisten, Opportunisten und Ökonomisten – zufügen, als man in der ,Iskra' begann, von einem taktvollen Verhalten gegenüber diesen inneren Feinden zu schreiben"); sie wiesen die Notwendigkeit nach, die Partei nach einem streng zentralistischen Grundsatz aufzubauen. Im Namen der Redaktion antwortete Plechanow auf diesen Brief, wobei er sich an einzelne Ungenauigkeiten im Brief klammerte, insbesondere an folgenden „unglücklich formulierten Satz" (Ausdruck Lenins), den die Verfasser des Briefes geschrieben hatten: „Die Intelligenz, d. h. die revolutionäre Sozialdemokratie" (eine falsche Identifizierung der revolutionären Sozialdemokratie mit ihrem intellektuellen Teil). Dieser Satz war es, der den von Lenin angeführten Ausruf Plechanows hervorgerufen hatte.

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