Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19051031 Brief an G. V. Plechanow

Wladimir I. Lenin: Brief an G. V. Plechanow1

[Geschrieben Ende Oktober 1905 Zum ersten Mal veröffentlicht 1926 im „Leninski Sbornik", Nr. 5. Nach Sämtliche Werke, Band 8, S. 467-471]

Sehr geehrter Georg Walentinowitsch!

Ich wende mich an Sie mit diesem Briefe, weil ich überzeugt bin, dass die Frage der Notwendigkeit des Zusammenschlusses der Sozialdemokratie endgültig reif geworden und die Möglichkeit hierzu gerade jetzt besonders groß ist. Zwei Anlässe zwangen mich, mich ohne Aufschub an Sie direkt zu wenden: 1. die Gründung der legalen Zeitung der SozialdemokratieNowaja Schisn" in Petersburg und 2. die Ereignisse der letzten Tage. Selbst wenn diese Ereignisse nicht sehr schnell zu unserer Rückkehr nach Russland führen werden, so ist diese Rückkehr jetzt jedenfalls ganz, ganz nahe, und die sozialdemokratische Zeitung liefert die sofortige Grundlage für eine sehr ernste gemeinsame Arbeit.

Dass wir Bolschewiki den heißen Wunsch hegen, mit Ihnen gemeinsam zu arbeiten, brauche ich Ihnen wohl nicht zu wiederholen. Ich habe nach Petersburg geschrieben, dass alle Redakteure der neuen Zeitung (bis jetzt sind es sieben: Bogdanow, Rumjanzew, Basarow, Lunatscharski, Orlowski, Olminski und ich) sich mit einer kollektiven, offiziellen Bitte an Sie wenden sollen, dem Redaktionskollegium beizutreten. Aber die Ereignisse warten nicht. Die Postverbindung ist unterbrochen, und ich halte mich nicht für berechtigt, den notwendigen Schritt wegen einer bloßen Formalität hinauszuschieben. Ich bin wirklich völlig und unbedingt davon überzeugt, dass ein solcher Vorschlag an und für sich allgemeine Zustimmung und Freude auslösen wird. Ich weiß sehr gut, dass alle Bolschewiki das Auseinandergehen mit Ihnen stets als etwas Vorübergehendes, durch außerordentliche Umstände Hervorgerufenes angesehen haben. Kein Zweifel, der Kampf hat uns oft zu solchen Schritten, Deklarationen und Äußerungen hingerissen, die eine künftige Vereinigung erschweren mussten, aber die Bereitschaft, sich zu vereinigen, das Bewusstsein der äußersten Unnatürlichkeit der Erscheinung, dass die beste Kraft der russischen Sozialdemokraten abseits von der Arbeit steht, das Bewusstsein der dringenden Notwendigkeit Ihrer führenden, engeren und unmittelbaren Teilnahme für die ganze Bewegung – alles das war bei uns immer vorhanden. Und wir sind alle fest davon überzeugt, dass unsere Vereinigung mit Ihnen, wenn nicht heute, so doch morgen, wenn nicht morgen, so doch jedenfalls übermorgen trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse dennoch zustande kommen wird.

Aber besser, es geschieht heute als morgen. Die Situation hat jetzt eine solche Wendung genommen, dass man zu spät kommen könnte, und wir sind gewillt, alle Kräfte aufzubieten, um nicht zu spät zu kommen.

Werden Sie zusammen mit uns arbeiten wollen? Ich würde mich außerordentlich freuen, wenn Sie damit einverstanden wären, dass wir beide zusammentreffen und über dieses Thema sprechen. Ich bin überzeugt, dass durch eine persönliche Zusammenkunft viele Missverständnisse beseitigt, viele scheinbaren Schwierigkeiten auf dem Wege der Vereinigung plötzlich fortfallen würden. Aber für den Fall, dass Sie überhaupt oder in diesem Augenblick nicht bereit sein sollten, erlaube ich mir, im Vorhinein einige dieser Schwierigkeiten zu berühren.

Die Schwierigkeiten sind folgende: 1. Ihre Meinungsverschiedenheiten mit vielen Mitgliedern der neuen Redaktion. 2. Ihre Weigerung, einer der beiden Hälften der Sozialdemokratie beizutreten. Die erste Schwierigkeit ist, scheint mir, vollkommen zu beseitigen. Unsere Übereinstimmung mit Ihnen berührt annähernd neun Zehntel aller Fragen der Theorie und der Taktik; wegen des einen Zehntels aber auseinanderzugehen, hat keinen Zweck. Sie wollten und wollen einige, nach Ihrer Auffassung fehlerhafte Behauptungen in meinen Schriften korrigieren. Aber ich habe nirgends und niemals versucht, irgend jemand von den Sozialdemokraten speziell an meine Ansichten zu binden, und in der neuen Redaktion hat sich niemand, buchstäblich niemand in irgendeiner Weise als „Leninist" verpflichtet. Die Rede Barsows auf dem 3. Parteitag bringt in dieser Hinsicht die allgemeine Auffassung zum Ausdruck.2 Sie halten die philosophischen Ansichten von drei der genannten sieben Personen für fehlerhaft. Aber auch diese drei haben weder versucht noch versuchen sie. diese ihre Ansichten mit irgendeiner offiziellen Parteiangelegenheit zu verknüpfen. Und diese drei – ich spreche nicht in den Wind, sondern auf Grund mir genau bekannter Tatsachen –, würden sich über die gemeinsame Arbeit mit Ihnen außerordentlich freuen. Jetzt politisch auseinanderzugehen, zu einer Zeit, wo Ihre allgemeine Sympathie für die Ansichten der Mehrheit sowohl aus Ihrem Referat als auch aus Ihren letzten Werken bekannt und indirekt auch aus der Stellung des mit Ihnen vielleicht am meisten solidarischen Parvus ersichtlich ist – jetzt politisch auseinanderzugehen, wäre durchaus nicht wünschenswert, durchaus nicht am Platze und für die Sozialdemokratie äußerst schädlich.

Die neue legale Zeitung, die eine Leserschaft von Zehntausenden, wenn nicht gar Hunderttausenden von Arbeitern haben wird, und auch die ganze bevorstehende Arbeit in Russland in einem solchen Augenblick, wo Ihre ungeheuren Kenntnisse und Ihre ungeheure politische Erfahrung dem russischen Proletariat furchtbar notwendig sind – das alles wird einen neuen Boden schaffen, auf dem das Alte am ehesten vergessen werden und eine Einigung in der lebendigen Arbeit zu erzielen sein wird. Der Übergang von der Genfer Arbeit zur Petersburger ist psychologisch und in Hinsicht auf die Partei ein ungemein günstiger Übergang von der Spaltung zur Einheit, und ich hoffe stark, dass wir uns einen Augenblick, wie wir ihn seit dem 2. Parteitag nicht gehabt haben und wie er sich wahrscheinlich nicht so bald wiederholen wird, nicht entgehen lassen werden.

Aber nun die zweite Schwierigkeit. Sie werden vielleicht die Vereinigung mit der einen Hälfte der Partei nicht wünschen. Sie werden für ihre Teilnahme an der Sache als conditio sine qua non3 den Zusammenschluss der ganzen Partei fordern. Dass ein solcher Zusammenschluss wünschenswert und notwendig ist, darin haben Sie ganz recht. Aber ist er jetzt möglich? Sie selbst neigen zu einer negativen Beantwortung dieser Frage, denn Sie haben erst kürzlich eine Föderation vorgeschlagen. Jetzt ist die Petersburger Tageszeitung die breiteste Tribüne für unsere Einwirkung auf das Proletariat (wir sind imstande, die Auflage in hunderttausend Exemplaren und den Preis auf 1 Kopeke zu bringen). Ist jetzt eine gemeinsame Redaktion mit den Menschewiki denkbar? Wir meinen: nein. Auch die Menschewiki meinen: nein. Und nach Ihrem Vorschlag der Föderation zu urteilen, denken auch Sie: nein. Sollten wirklich drei Zeitungen notwendig sein? Sollte es wirklich unmöglich sein, dass wir uns für die Herausgabe eines politischen Organs der revolutionären Sozialdemokratie zusammenschließen, da wir doch eigentlich keinerlei organisatorische Meinungsverschiedenheiten haben und der bevorstehende Übergang der Partei zu offener Tätigkeit alle Reste von Befürchtungen wegen des Verschwörertums beseitigen wird? Die taktischen Meinungsverschiedenheiten aber beseitigt unsere Revolution selbst mit erstaunlicher Geschwindigkeit. Überdies haben Sie gegen die Resolutionen des 3. Parteitags keinerlei Meinungsverschiedenheiten geltend gemacht und diese Resolutionen sind doch die einzige uns alle, die Bolschewiki, bindende Direktive der Partei.

Unter solchen Umständen erscheint mir Ihr Übergang zu uns durchaus möglich, und die Sache der künftigen Vereinigung wird er nicht erschweren, sondern erleichtern und beschleunigen. Anstelle des gegenwärtigen, infolge Ihres Fernbleibens sich in die Länge ziehenden Kampfes wird sich eine festere Situation der gesamten revolutionären Sozialdemokratie ergeben. Dadurch wird auch der Kampf ruhiger, disziplinierter werden, dadurch wird die ganze breite Masse der Sozialdemokraten sich plötzlich sicher, zuversichtlich fühlen, es wird plötzlich ein anderer Geist wehen und die neue Zeitung wird sich Stunde um Stunde die erste Stellung in der Sozialdemokratie erkämpfen; sie wird nicht rückwärts blicken, nicht die Einzelheiten der Vergangenheit untersuchen, sondern die Arbeiterklasse auf dem heutigen Kampffelde entschieden und konsequent führen.

Ich schließe mit der Wiederholung der Bitte, auf eine Zusammenkunft zwischen uns einzugehen, und mit dem Ausdruck unserer, der Bolschewiki, gemeinsamen Überzeugung von dem Nutzen, der Wichtigkeit und der Notwendigkeit der gemeinsamen Arbeit mit Ihnen.

Ihr Sie aufrichtig achtender

W. Uljanow

1 Am 14./27. Oktober 1905 schrieb Lenin von Genf aus an das Zentralkomitee in Petersburg: „Schreibt mir, bitte, sofort, ob Ihr es mir überlasst, Plechanow zum Eintritt in unser erweitertes Redaktionskomitee (sieben Mann) und in die Redaktion der ,Nowaja Schisn' einzuladen. Telegraphiert ja oder nein. Ich mache noch einen Versuch, mich ihm zu nähern, obwohl nicht viel Hoffnung besteht …" Es konnte nicht festgestellt werden, was das ZK und Plechanow auf die Briefe Lenins geantwortet haben. Am wahrscheinlichsten ist, dass das ZK zustimmend antwortete und Plechanow abwartete, wie sich die Ereignisse in Russland gestalten würden. In Nr. 310/12 der „Nowaja Schisn" vom 22. Oktober/4. November 1905 erschien eine Bezugseinladung auf das Blatt und dabei war ein Verzeichnis der Mitarbeiter, darunter N. Minski und Z. Wengerowa, angeführt. Das veranlasste Plechanow, in einer scharf polemischen Form aufzutreten. In Nr. 3 seines „Tagebuchs des Sozialdemokraten" schrieb er in einer der „Nowaja Schisn" gewidmeten Notiz: „Lenin ertrinkt wie eine Fliege in der Milch in einer Masse von Empiriomonisten und vollendeten Dekadenten…" Worowski antwortete ihm im „Proletarij" Nr. 26 vom 12./25. November 1905. So endete der Versuch Lenins, Plechanow „in den Tagen der Freiheit" zur Mitarbeit mit den Bolschewiki heranzuziehen.

2 Barsow (Parteitags-Deckname M. Zchakaja) sagte in der 6. Sitzung des 3. Parteitags der SDAPB am 15./28. April 1905: „Ich höre hier bei der Behandlung dieser oder jener Frage schon einige Male von ,Leninismus', ,Geist des Leninschen Statuts' u.ä. Ein Redner drohte sogar Lenin, er werde gegen ihn im Namen des ,Geistes des Leninismus' kämpfen, als wenn er diesen besser verstände als Gen. Lenin!… In freien Ländern, wie z.B. Deutschland, gibt es, so hoffe ich, Genossen, die nicht schlechter sind als Gen. Lenin, wie z.B. Kautsky, Bebel und sogar einer unserer Lehrer, Engels. Aber man hat an ihre Namen keinen ,ismus' angehängt, und sie genießen eine große Popularität und haben eine große Bedeutung. Wir sind nur Sozialdemokraten, revolutionäre Sozialdemokraten, wissenschaftliche Sozialisten, Marxisten, so wie auch der verehrte Gen. Lenin."

3 Unerlässliche Vorbedingung. D. Red.

Kommentare