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Wladimir I. Lenin 19061013 Ein Versuch zur Klassifizierung der russischen politischen Parteien

Wladimir I. Lenin: Ein Versuch zur Klassifizierung der russischen politischen Parteien

[Proletarij, Nr. 5, 13. Oktober (30. September) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 127-134]

Der Vereinigungsparteitag der SDAPR hat sich bekanntlich der Aufgabe entzogen, eine klassenmäßige Analyse der politischen Parteien in Russland zu geben und das Verhältnis des Proletariats zu ihnen zu bestimmen. Die allgemeine Bestätigung der Amsterdamer Resolution ist nichts anderes als eine Form des Ausweichens. Die Revolution verlangt jedoch immer dringender die Anwendung der Marxschen Methode und der Marxschen Lehre bei der Untersuchung des tiefen und außerordentlich interessanten Prozesses der Bildung von Parteien, der in Russland aus begreiflichen Gründen rascher und stürmischer vor sich geht als in irgendeinem anderen Lande.

Natürlich ist dieser Prozess bei weitem noch nicht zum Abschluss gekommen und hat noch keine ganz festen Ergebnisse gezeitigt. Indes kann ja dieser Prozess auch in der kapitalistischen Gesellschaft niemals zum Abschluss kommen, „feste" Ergebnisse könnten sich nur im Falle der Stagnation der Revolution ergeben, die die jähe Zertrümmerung des ganzen alten politischen Überbaus bedeutet. Wir dürfen es daher keinesfalls verschieben, die Aufgabe der Analyse der bürgerlichen Parteien in Angriff zu nehmen, um so mehr, als einerseits die Periode der Oktoberfreiheiten und andererseits die Periode der ersten Duma zweifellos schon wichtige Ergebnisse gezeitigt haben, denen man unbedingt Rechnung tragen muss. Der offene revolutionäre Kampf in der Form des Streiks, des Aufstandes usw. und die neue Wahlkampagne erfordern, dass unsere Partei klar und deutlich ihr Verhältnis zu den verschiedenen Parteien bestimme. Das aber kann nur auf der Grundlage der wissenschaftlichen Untersuchung, d. h. der Untersuchung des Klassencharakters dieser Parteien geschehen.

Beginnen wir mit der Aufzählung aller nur irgendwie bedeutsamen politischen Parteien (oder, besser Typen* von Parteien), von den „Rechten" bis zu den „Linken". 1. Bund des russischen Volkes, Monarchisten u. dgl. mehr, 2. Die Partei der Rechtsordnung, 3. Oktobristen, 4. friedliche Erneuerer, 5. Partei demokratischer Reformen, 6. Kadetten, 7. Freidenker, Radikale, Gruppe der Zeitschrift „Bes Saglawia" u. dgl. mehr, 8. Werktätige Volkssozialisten, 9. Sozialrevolutionäre, 10. Maximalisten, 11. Sozialdemokraten, Menschewiki und Bolschewiki. Die Anarchisten zählen wir nicht mit, denn es wäre zu gewagt, sie (eigentlich wohl auch die Maximalisten) als politische Partei zu bezeichnen.

In diesem bunten Reigen treten fünf Grundtypen unserer politischen Parteien deutlich hervor: 1. die Schwarzhunderter, 2. die Oktobristen, 3. die Kadetten, 4. die Trudowiki und 5. die Sozialdemokraten. Die Richtigkeit einer solchen Gruppierung wird durch die Untersuchung der Klassennatur der einen oder andern Partei bewiesen.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Sozialdemokratie einen besonderen Typus bildet. Es ist ein europäischer Typus. Es ist die einzige Arbeiterpartei in Russland, die Partei des Proletariats sowohl ihrer Zusammensetzung als auch ihrem streng proletarischen Standpunkte nach.

Nicht weniger augenscheinlich ist ferner die Notwendigkeit, die Trudowiki als besonderen Typus zu behandeln. Zu ihnen gehören: die „Werktätige volkssozialistische Partei", die eigentlichen Sozialrevolutionäre und schließlich die Maximalisten. Sie alle stehen auf dem prinzipiellen Standpunkt „Werktätigkeit als Grundlage". Ihnen allen ist das Bestreben eigen, Proletarier und Kleinproduzenten zu einer „werktätigen Gruppe" zu vereinigen und zu verschmelzen. Sie wollen sich vorwiegend auf die Bauernschaft stützen. Und die Reichsduma, in der sich die Mehrheit der Bauernabgeordneten zu einer werktätigen Gruppe zusammengeschlossen hat, hat tatsächlich bewiesen, dass es den genannten Richtungen wirklich gelungen ist (in dem einen oder andern Grade) den Grund zur politischen Organisation der Bauernschaft zu legen.

Freilich haben sich die politischen Parteien dieses Typs noch lange nicht so weit herausgebildet, haben noch nicht eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht, wie die Sozialdemokratie. Nominell besteht die Partei der Maximalisten nicht, obwohl ihre Abspaltung von den Sozialrevolutionären eine vollendete Tatsache ist, die durch die Selbständigkeit sowohl ihres literarischen als auch ihres terroristischen Auftretens bewiesen wird. In der Reichsduma haben die Sozialrevolutionäre keine Fraktion gebildet und handeln hinter dem Rücken eines Teiles der Trudowiki. Die „Werktätige Volkssozialistische Partei" trifft gleichfalls erst Anstalten, geboren zu werden, obwohl sie literarisch bereits nicht mehr nur im Block mit den reinen Sozialrevolutionären, sondern auch völlig selbständig auftritt; in der Duma sind ihre Führer auch teils gemeinsam mit den Sozialrevolutionären, teils unabhängig von ihnen vorgegangen. Die „Protokolle des ersten Parteitages der Sozialrevolutionäre" (Paris 1906) deuten ebenfalls auf ein Auftreten dieser werktätigen Volkssozialisten als einer „besonderen Gruppe" hin, die unabhängig von der Partei der Sozialrevolutionäre vorgeht. Mit einem Wort, wir sehen in diesem Lager

1. eine konspirative Partei (die Sozialrevolutionäre), die durchaus nicht imstande ist, eine einigermaßen feste und irgendwelche Massen umfassende Organisation zu schaffen, und weder in der Reichsduma noch in der Literatur der Periode der Freiheiten selbständig unter ihrem eigenen Banner aufzutreten vermag;

2. eine in Entstehung begriffene legale Partei (die werktätigen Volkssozialisten), die auf dem Parteitag der Sozialrevolutionäre (Dezember 1905) als Gruppe aufgetreten ist, bisher aber nicht imstande war, zur Schaffung einer Massenorganisation zu schreiten, und in der Literatur und der Reichsduma größtenteils im Block mit den Sozialrevolutionären vorgeht.

Die Tatsache, dass sich die Trudowiki nach den beiden Perioden einer relativen Freiheit (der „Oktober"-Periode und der ,,Duma"-Periode) noch immer nicht zu einer politischen Partei herausbilden, kann natürlich nicht aus einem Zufall erklärt werden. Zweifellos wirkt sich hierin der Umstand aus, dass das Kleinbürgertum (besonders in den Dörfern) weniger organisationsfähig ist als das Proletariat. Zweifellos spiegelt der ideologische Wirrwarr der Trudowiki auch die äußerst unbeständige Lage des Kleinproduzenten in der heutigen Gesellschaft wider: der äußerste rechte Flügel der Trudowiki (die „Werktätige Volkssozialistische Partei" mit den Pjeschechonowleuten an der Spitze) unterscheidet sich sehr wenig von den Kadetten, da er aus seinem Programm sowohl die Republik als auch die Forderung der Übergabe des ganzen Bodens an die Bauern streicht; der äußerste linke Flügel der Trudowiki, die Maximalisten, unterscheiden sich sehr wenig von den Anarchisten.

Diese beiden äußersten Gruppen deuten sozusagen das Ausmaß der politischen Schwankungen des werktätigen Kleinbürgertums an. Ökonomisch ist es durchaus erklärlich, dass gerade das Kleinbürgertum eine solche Unbeständigkeit bekundet. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die nächste Zukunft der russischen Revolution diese Unbeständigkeit eher steigern als mildern wird. Indem wir jedoch diese Tatsache feststellen und erklären, dürfen wir selbstverständlich nicht die ungeheure politische Bedeutung der Parteien vom Typus der Trudowiki vergessen. Die wirkliche politische Freiheit wird vor allem gerade diese Parteien stärken. Wenn nämlich keine politische Freiheit vorhanden ist, verfügen sie über eine geringere Organisationsfähigkeit als die Bourgeoisie, ja sogar als das Proletariat. Anderseits ist in einem solchen vorwiegend kleinbürgerlichen und bäuerlichen Lande, wie Russland, die Bildung von ideologisch und politisch unbeständigen, aber überaus großen kleinbürgerlichen oder „Trudowiki"-Parteien absolut unvermeidlich.

In einem Lande, wie Russland, hängt der Ausgang der bürgerlichen Revolution vor allem von dem politischen Verhalten der Kleinproduzenten ab. Dass die Großbourgeoisie Verrat übt, das unterliegt keinem Zweifel (sie hat schon zu zwei Dritteln Verrat geübt). Dass das Proletariat der treueste Kämpfer sein wird, das braucht man nach dem Oktober und nach dem Dezember den russischen Arbeitern nicht erst zu beweisen. Das Kleinbürgertum aber ist eben die veränderliche Größe, die den Ausgang bestimmen wird. Sein jetziges politisches Schwanken zwischen der loyalen Krüppelhaftigkeit der Kadetten und dem kühnen, erbarmungslosen revolutionären Kampf müssen die Sozialdemokraten daher ganz besonders aufmerksam verfolgen. Und sie müssen diesen Prozess ganz natürlich nicht nur verfolgen, sondern auch nach Kräften im proletarischen Geiste beeinflussen.

Gehen wir weiter. Dass die Kadetten als besonderer Typus behandelt werden müssen, unterliegt keinem Zweifel. Die rechts von ihnen stehende Partei der demokratischen Reformen und die Freidenker, Radikalen u. dgl. mehr zu ihrer Linken sind nichts weiter als völlig bedeutungslose Abzweigungen. Für die gegenwärtige politische Epoche sind die Kadetten ein selbständiger politischer Typus. Der Unterschied zwischen ihm und den Trudowiki ist augenscheinlich. Der typische Trudowik, das ist der bewusste Bauer. Ihm sind Bestrebungen zu einem Kompromiss mit der Monarchie nicht fremd, er ist nicht abgeneigt, sich auf seiner Scholle im Rahmen der bürgerlichen Ordnung zu beruhigen, gegenwärtig aber nimmt der Kampf, den er mit den Gutsbesitzern um das Land, mit dem feudalen Staat um die Demokratie führt, den größten Teil seiner Kraft in Anspruch. Sein Ideal ist die Vernichtung der Ausbeutung; nur stellt er sich diese Vernichtung kleinbürgerlich vor, und deshalb ergibt sich aus seinen Bestrebungen in Wirklichkeit nicht der Kampf gegen jede Ausbeutung, sondern nur der Kampf gegen die Ausbeutung durch die Grundbesitzer und die große Finanzbourgeoisie. Der Kadett ist der typische bürgerliche Intellektuelle und – häufig sogar – der liberale Grundbesitzer. Kompromiss mit der Monarchie, Abbruch der Revolution, das ist sein Hauptstreben. Der Kadett ist völlig unfähig zu kämpfen, er ist der echte Makler.

Sein Ideal ist die Verewigung der bürgerlichen Ausbeutung in geregelten, zivilisierten, parlamentarischen Formen. Seine politische Stärke sind die um ihn vereinigten ungeheuren Massen von bürgerlichen Intellektuellen, die in jeder kapitalistischen Gesellschaft benötigt werden, aber natürlich ganz unfähig sind, auf eine wirkliche Veränderung der Ordnung dieser Gesellschaft entschieden hinzuwirken.

Der typische Oktobrist ist nicht der bürgerliche Intellektuelle, sondern der Großbürger. Er ist nicht der Ideologe der bürgerlichen Gesellschaft, sondern ihr unmittelbarer Herr. Er ist aufs Unmittelbarste an der kapitalistischen Ausbeutung interessiert und verachtet jede Theorie, er spuckt auf die Intelligenz und verwirft jedwede den Kadetten eigene Prätensionen auf „Demokratismus". Er ist der praktische Bourgeois. Er erstrebt, ebenso wie der Kadett, einen Kompromiss mit der Monarchie, aber er versteht unter diesem Kompromiss nicht dieses oder jenes politische System, nicht den Parlamentarismus, sondern ein Abkommen von einigen Leuten oder Führern mit der Hofkamarilla, das den schwerfälligen, bornierten und asiatisch bestechlichen russischen Tschinownik unmittelbar der herrschenden Bourgeoisie unterordnen soll. Der Oktobrist, das ist der Kadett, der im geschäftlichen Leben seine bürgerüchen Theorien anwendet. Der Kadett, das ist der Oktobrist, der in den Stunden, in denen er nicht mit der Ausplünderung von Arbeitern und Bauern beschäftigt ist, von einer idealen bürgerlichen Gesellschaft träumt. Der Oktobrist wird noch ein bisschen parlamentarischen Umgang und politische Heuchelei mit dem Demokratie-Spielen lernen. Der Kadett wird noch ein bisschen tüchtige bürgerliche Geschäftsmacherei lernen, – und sie werden sich verschmelzen, sie werden sich unweigerlich und unbedingt verschmelzen, ganz unabhängig davon, ob es gerade im jetzigen Augenblick, und zwar gerade den jetzigen „friedlichen Erneuerern" gelingt, diese Verschmelzung zu verwirklichen.

Aber wir werden nicht von der Zukunft sprechen. Unsere Aufgabe ist es, die Gegenwart verstehen zu lernen. Wenn das Hofgesindel seine Macht im vollen Umfange aufrechtzuerhalten vermag, so ist es ganz natürlich, dass allein schon die demokratischen Redensarten der Kadetten und ihre „parlamentarische" Opposition in Wirklichkeit bedeutend mehr den Elementen zugute kamen, die links von den Kadetten stehen. Natürlich ist auch, dass der Oktobrist, der diesen Elementen unmittelbar feindlich gegenübersteht, zornig die Kadetten beiseite schiebt und (bei den Wahlen zur ersten Duma) die Schwarzhunderter von der Regierung unterstützt.

Die Schwarzhunderter sind der letzte Typus unserer politischen Parteien. Sie wollen nicht die „Konstitution des 17. Oktober", wie die Herren Gutschkow, sondern die Erhaltung und die förmliche Wiederherstellung des Absolutismus. Ihnen bekommen der ganze Schmutz, die Unwissenheit und die Bestechlichkeit, die unter der Allmacht des vergötterten Monarchen gedeihen. Die Schwarzhunderter schweißt der wütende Kampf für die Privilegien der Kamarilla, für die Möglichkeit, nach wie vor zu rauben, Gewalttaten zu verüben und ganz Russland den Mund zu stopfen, zusammen. Sie verteidigen um jeden Preis die jetzige Zarenregierung, und das schweißt sie auf Schritt und Tritt mit den Oktobristen zusammen, und deswegen lässt sich von manchen Rechtsordnungsleuten so schwer sagen, wo der Schwarzhunderter aufhört und der Oktobrist anfängt.

Die russische Revolution hat so in kürzester Zeit scharf ausgeprägte Typen von politischen Parteien hervorgebracht, die den Hauptklassen der russischen Gesellschaft entsprechen. Wir haben eine Partei des bewussten sozialistischen Proletariats, Parteien des radikalen oder radikal tuenden Kleinbürgertums, und zwar in erster Linie des dörflichen Kleinbürgertums, d. h. der Bauernschaft, liberal-bürgerliche Parteien, reaktionäre bürgerliche Parteien. Das Missverhältnis zwischen den politischen Gebilden und den ökonomischen, klassenmäßigen Scheidungen besteht nur darin, dass den beiden letzten Gruppen nicht zwei, sondern drei Gruppen von politischen Parteien gegenüberstehen: die Kadetten, die Oktobristen und die Schwarzhunderter. Dies Missverhältnis erklärt sich jedoch ganz aus den zeitweiligen Besonderheiten der gegenwärtigen Lage, in der der revolutionäre Kampf sich außerordentlich verschärft hat, in der es praktisch äußerst schwer ist, die Verteidigung des Absolutismus zu trennen von der Verteidigung der Monarchie um jeden Preis, in der die Gruppierung nach dem ökonomischen Kennzeichen (für den progressiven und für den reaktionären Kapitalismus) sich natürlich mit der politischen Gruppierung (für die jetzige Regierung und gegen sie) kreuzt. Indessen ist die Verwandtschaft der Kadetten und der Oktobristen zu augenscheinlich, und es kann wohl kaum jemand bestreiten, dass die Herausbildung einer großen „praktischen" liberal-bürgerlichen Partei unvermeidlich ist.

Schlussfolgerung: der Prozess der Herausbildung von politischen Parteien in Russland liefert die glänzendste Bestätigung für die Marxsche Lehre.

P. S. Der Aufsatz wurde vor der Spaltung des „Bundes vom 17. Oktober" geschrieben. Jetzt versprechen der Austritt Schipows und die bevorstehende Gründung einer gemäßigt liberalen Partei (linke Oktobristen, friedliche Erneuerer und rechte Kadetten) endgültig alle russischen politischen Parteien in die vier Grundtypen jedes kapitalistischen Landes einzugliedern.

* Wir sprechen von Typen von Parteien, erstens, weil es unmöglich ist, die Entwicklung aller kleinen Splitterparteien zu verfolgen – sie sind ja auch unwichtig (z. B. besteht nur ein ganz unwesentlicher Unterschied zwischen irgendeiner progressiv-industrielle Partei oder dem Diskus und der Partei der Rechtsordnung), zweitens, weil es verkehrt wäre, nur mit Parteien zu rechnen, die sich vollends herausgebildet haben, und politische Richtungen außer acht zu lassen, die schon ganz deutlich in Erscheinung treten. Es genügt eine ganz kleine Veränderung der politischen Umwelt und diese Richtungen nehmen im Laufe von einigen Wochen die Form von Parteien an.

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