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Wladimir I. Lenin 19070203 Die Wahlkampagne der Sozialdemokratie in Petersburg

Wladimir I. Lenin: Die Wahlkampagne der Sozialdemokratie in Petersburg

[Prostyje Rjetschi“ Nr. 2, 3. Februar (21. Januar) 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 387-396]

Petersburg, 31. (18.) Januar 1907

Die Wahlkampagne in Petersburg ist in vollem Gange. Es naht der entscheidende Augenblick: – erstens muss sich in diesen Tagen herausstellen, wie sich die Parteien bei den Wahlen endgültig gruppieren, wer mit wem zusammengeht und wer gegen wen ist. Zweitens stehen auch die Wahlen selbst schon vor der Tür.

Die Wahlen in der Hauptstadt haben eine ungeheure Bedeutung. Ganz Russland schaut jetzt auf Petersburg. Hier pulst das lebendigste politische Leben, hier ist die Regierung am stärksten. Hier befinden sich die Zentralen aller Parteien, die besten Blätter aller Richtungen und Schattierungen, die besten Wahlredner.

Jetzt kann man schon mit voller Bestimmtheit und Entschiedenheit feststellen: Petersburg hält, was es versprach. Die Wahlkampagne in Petersburg hat bereits eine erstaunliche Menge von politischem Aufklärungsstoff geliefert und liefert mit jedem Tag neuen. Dieser Stoff muss studiert und immer wieder studiert werden. Er muss systematisch gesammelt werden und muss dazu dienen, die Klassengrundlagen der verschiedensten Parteien so deutlich als möglich aufzuzeigen und dies lebendige Wissen, das unmittelbaren Geschehnissen entspringt, das jedermann interessiert und erregt, in die breitesten Arbeitermassen, in die entlegensten Nester zu tragen.

Versuchen wir einmal den Stoff zusammenzustellen – in groben Umrissen natürlich. Möge der Leser zurückblicken und den ganzen Verlauf der Wahlkampagne in St. Petersburg überdenken, um eine einheitliche und klare Vorstellung von der Rolle der Sozialdemokratie zu erhalten und sich nicht durch die Kleinigkeiten des Alltags und das Kaleidoskop des lärmenden Treibens der Politikaster ablenken zu lassen.

Die erste Etappe. Die Sozialdemokraten rüsten theoretisch zu den Wahlen. Die hervorragendsten Vertreter des rechten und des linken Flügels nehmen Stellung. Bei den Menschewiki herrscht im Anfang allgemeines Schwanken: 1. Tscherewanin ist für ein Abkommen mit den Kadetten; 2. die Kadettenpresse jubelt und trägt die Kunde in alle Ecken und Enden Russlands; 3. Martow protestiert im „Towarischtsch" und tritt für reine sozialdemokratische Listen ein, wobei er den Bolschewiki (Nr. 1 des „Proletarij") sogar zum Vorwurf macht, dass sie Abkommen mit den Trudowiki gegen die Kadetten im allgeineinen für zulässig erklärt haben; 4. die Bolschewiki sprechen sich für reine sozialdemokratische Listen aus, ohne Abkommen mit der revolutionären Demokratie abzulehnen; 5. Plechanow tritt in der bürgerlichen Presse für Blocks mit den Kadetten ein; 6. bei den Menschewiki herrscht allgemeines Schwanken: Larin verurteilt zornig Blocks mit den Kadetten als Schmach für die Sozialdemokratie. Nik. I-ski hält Blocks mit den Kadetten für zulässig, zieht jedoch einen Block mit den Trudowiki gegen die Kadetten vor; 7. Martow und sämtliche Menschewiki machen kehrt und wechseln auf die Seite Plechanows über.

Auf der Reichskonferenz der SDAPR bilden sich zwei Richtungen heraus: die Menschewiki und die Bundisten treten für Blocks mit den Kadetten ein, die Bolschewiki, die Polen und die Letten sind unbedingt gegen Blocks mit den Kadetten, halten aber Abkommen mit der revolutionären Demokratie für zulässig.

Die zweite Etappe. Die Entwicklung des Gedankens eines Blocks mit den Kadetten in der Presse. Plechanow landet bei der Losung „souveräne Duma". Hierdurch konnte er den Menschewismus ad absurdum führen. Er wünschte Menschewiki und Kadetten einander näher zu bringen und erzielte (durch völliges Nichtverstehen der politischen Lage) das Gegenteil: die Entfernung zwischen Menschewiki und Kadetten wird größer. Anderseits lehnt die Partei der Kadetten offiziell und feierlich die „souveräne Duma" als revolutionäre Illusion ab und verspottet Plechanow. Es wird klar, dass die Kadetten einen ideologischen Block, die Unterordnung der Linken unter die Führung der Kadetten, unter die gegenrevolutionäre Kompromisstaktik der Kadetten wollen und fordern. Anderseits trägt der Eifer Plechanows, der in umgekehrtem Verhältnis zu seinem Verstand steht, Verwirrung in die Reihen der Menschewiki: sowohl die Bundisten als auch die kaukasischen Menschewiki verurteilen öffentlich in der Presse das Auftreten Plechanows. Das ZK, in dem die Menschewiki das Übergewicht haben, schweigt verwirrt und betroffen. Plechanow ist isoliert und hüllt sich auch in Schweigen.

Die dritte Etappe. Beginn der Massenaktion. Wahlversammlungen in Moskau und Petersburg. In die muffige Luft des intelligenzlerischen Politikantentums dringt plötzlich ein frischer Luftzug von der Straße. Mit einem Schlage stellt sich heraus, dass das Gerede von der Schwarzhundert-Gefahr ein Märchen ist: die Straße bestätigt die bolschewistische Behauptung, dass die Kadetten die Opportunisten an der Nase herumführen, indem sie über die Schwarzhundert-Gefahr schreien und hierdurch die Linksgefahr von sich ablenken. Der Kampf in den Wahlversammlungen entfaltet sich in beiden Hauptstädten im Wesentlichen zwischen den Kadetten und den Sozialdemokraten, und zwar hauptsächlich den bolschewistischen Sozialdemokraten. Die Kadetten schleppen alle, die Straße, die Volksmenge, die Massen nach rechts, kämpfen gegen die revolutionären Forderungen und rühmen unter dem Aushängeschild des „friedlichen parlamentarischen Weges" den Kuhhandel mit der Reaktion. Die bolschewistischen Sozialdemokraten rufen die Massen nach links und entlarven die ganze Verlogenheit der Märchen vom friedlichen Weg, die ganze Klassenselbstsucht, die sich in ihnen ausspricht. Die Menschewiki verschwinden von der Bildfläche (wie die in sie verliebte Kadettenpresse selbst zugibt); schüchtern kritisieren sie die Kadetten, nicht als Sozialisten, sondern als linke Kadetten, und reden ebenso schüchtern von der Notwendigkeit eines Abkommens mit den Kadetten.

Die vierte Etappe. Die Konferenz der Petersburger sozialdemokratischen Organisationen tritt zusammen. Diese Konferenz war von allen Mitgliedern der sozialdemokratischen Partei auf Grund einer Diskussion gewählt worden, in der sämtliche Parteimitglieder über ein Abkommen mit den Kadetten befragt worden waren. Auf dieser Konferenz hatten die Bolschewiki unbestreitbar das Übergewicht, – gleichviel, ob man die Stimmen, die von der einen oder der andern Seite angefochten wurden, zählt oder nicht zählt oder nach einer besonderen Norm verrechnet. Die Menschewiki verlassen die Konferenz und beginnen die Spaltung. Formell verstecken sie sich hinter lächerlichen und erbärmlichen organisatorischen Vorwänden (die Bolschewiki hätten angeblich die Mandate nicht richtig bestätigt – in Wirklichkeit hatten die Bolschewiki das Übergewicht, wie immer man auch die Mandate verrechnen mag –, Weigerung der Konferenz, sich in eine Stadt- und eine Gouvernementskonferenz zu teilen – tatsächlich konnte das ZK nach dem Statut keine solche Forderung aufstellen und hatte eine derartige Teilung weder von Wilna noch von Odessa oder von irgendwelchen anderen Städten verlangt).

In Wirklichkeit ist die Ursache der von den Menschewiki ins Werk gesetzten Spaltung für jedermann klar: die Opportunisten in der Sozialdemokratie laufen vom Proletariat zur liberalen Bourgeoisie, von den sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen zu den formlosen, parteilosen Wahlkollektiven über.

Die Konferenz schenkt dem Fortgang der Menschewiki gar keine Beachtung und setzt ihre Arbeit fort. In Petersburg gab es auch unter den Bolschewiki Meinungsverschiedenheiten: die sogenannten reinen Bolschewiki lehnen alle Abkommen mit irgendwelchen anderen Parteien ab. Die sogenannten Dissidenten treten für ein Abkommen mit der revolutionären Demokratie, mit den Trudowiki ein, um in der Hauptstadt Russlands die Hegemonie der Kadetten über die unaufgeklärten werktätigen Massen zu stürzen. Dieser Streit zwischen den „Reinen" und den „Dissidenten" verschärfte sich in einzelnen Fällen, im wesentlichen aber begriffen alle Bolschewiki ausgezeichnet, dass diese Meinungsverschiedenheit keine grundsätzliche Bedeutung hat, sondern nur dazu beiträgt, gründlich und sachlich alle Wahlaussichten abzuwägen.

Das sozialistische Proletariat kann der nichtsozialistischen, kleinbürgerlichen Masse nicht verwehren, ihm Gefolgschaft zu leisten, wenn es die kleinbürgerliche Masse von dem Einfluss der Kadetten befreien will. Die Konferenz fasst nach eingehender Erörterung den Beschluss, den Sozialrevolutionären und dem Komitee der Trudowikigruppe ein Abkommen auf folgender Grundlage vorzuschlagen: zwei Dumasitze für die Arbeiterkurie, zwei für die Sozialdemokraten, zwei für die Trudowiki.

Das war in Petersburg der einzig richtige und der einzig mögliche Beschluss: die Aufgabe der Zertrümmerung der Kadetten darf nicht auf die leichte Achsel genommen werden; bei zwei linken Wahllisten gibt es keine Schwarzhundert-Gefahr, bei einer weiteren Zersplitterung der Linken jedoch könnte die Gefahr eines Schwarzhundertsieges entstehen, und es würde unmöglich sein, die Massen der Wähler zusammenzufassen. Der Vorschlag der Konferenz aber hielt unbedingt an der Vorherrschaft der Sozialdemokraten fest, die geistige und die politische Hegemonie der Sozialdemokratie wurde gestärkt, ihre Prinzipienreinheit wurde in vollem Umfange aufrechterhalten.

Die Konferenz beschloss, die Partei der Volkssozialisten als eine halbkadettische Partei, die in den Grundfragen des außerparlamentarischen Kampfes eine ausweichende Haltung einnimmt, nicht in das Wahlabkommen einzubeziehen. Bekanntlich hat sich diese Partei nach der Auflösung der Duma vom revolutionären Kleinbürgertum getrennt und in der legalen Presse Vorsicht und Mäßigung zu predigen begonnen.

Selbstverständlich war die revolutionäre Sozialdemokratie verpflichtet, von den Sozialrevolutionären eine eindeutige Stellung gegenüber einer solchen Partei zu verlangen und entweder darauf zu dringen, dass diese Partei nicht in das Wahlabkommen einbezogen werde (wahrscheinlich wäre das durchaus möglich gewesen, wenn die Menschewiki nicht im entscheidenden Augenblick von den Sozialisten zu den Kadetten übergelaufen wären), oder zumindest jede Verantwortung für solche „Trudowiki" abzulehnen.

Die fünfte Etappe. Die von den Menschewiki ins Werk gesetzte Spaltung beflügelt die Hoffnungen der gesamten liberalen Bourgeoisie. Die ganze Kadettenpresse frohlockt über die „Isolierung" der verhassten Bolschewiki, über das „mannhafte" Überlaufen der Menschewiki von der Revolution zum „oppositionellen Block". Die „Rjetsch", die diesen Ausdruck geprägt hat, nennt die Menschewiki und die Volkssozialisten bereits offen „gemäßigt-sozialistische Parteien". Man erhält wirklich den Eindruck, dass die Kadetten das ganze Kleinbürgertum (d. h. alle Trudowiki einschließlich der Sozialrevolutionäre) und den gesamten kleinbürgerlichen Teil der Arbeiterpartei, d. h. die Menschewiki, mit sich fortreißen.

Die Bolschewiki setzen ruhig ihre selbständige Arbeit fort. Wir sind froh – erklären sie –, dass wir uns von einer schmutzigen Sache, vom Verrat und der Wankelmütigkeit des Kleinbürgertums isolieren. Wir ordnen unsere Taktik nicht der Jagd nach Dumasitzen unter. Wir erklären, in Petersburg wird es in jedem Falle drei Listen geben: die Schwarzhundertliste, die Liste der Kadetten und die Liste der Sozialdemokraten.

Die sechste Etappe. Wahlen in der Arbeiterkurie und Entlarvung der ganzen Heuchelei der Trudowiki.

In der Arbeiterkurie siegen die Sozialdemokraten, aber es stellt sich heraus, dass die Sozialrevolutionäre eine bedeutend größere Stimmenzahl erhalten, als wir erwartet hatten. Es stellt sich heraus, dass die Sozialrevolutionäre in der Arbeiterkurie hauptsächlich die Menschewiki geschlagen hatten. In dem Wiborger Bezirk, dieser Festung des Menschewismus, kommen – wie berichtet wird – mehr Sozialrevolutionäre als Sozialdemokraten durch!

Es bestätigt sich also bei uns dieselbe Erscheinung, die schon seit langem in andern Ländern zu verzeichnen war. Der Opportunismus in der Sozialdemokratie stößt die Arbeitermasse so von sich, dass sie sich der revolutionären Bourgeoisie in die Arme wirft. Die völlig haltlose und schwankende Politik der Menschewiki schwächt die Sozialdemokratie ungeheuer und kommt in der städtischen Kurie den Kadetten, in der Arbeiterkurie den Sozialrevolutionären zugute.

Nur die revolutionäre Sozialdemokratie vermag die Bedürfnisse der proletarischen Masse zu befriedigen und sie gründlich von allen kleinbürgerlichen Parteien zu trennen.

Anderseits aber decken auch die Ereignisse die ganze Doppelzüngigkeit der Trudowiki auf. In der Arbeiterkurie schlagen sie (die Sozialrevolutionäre) uns dadurch, dass sie über die Menschewiki losziehen, die sich auf einen Block mit den Kadetten einlassen. Gleichzeitig treiben sie in der Wahlkampagne ein ganz grundsatzloses Spiel. Sie geben keine die Partei bindenden Erklärungen ab, veröffentlichen selbständig keine organisatorischen Beschlüsse, die Frage der Blocks mit den Kadetten wird offen nicht erörtert. Es sieht so aus, als ob sie absichtlich alle Lichter auslöschten, – wie Leute, die in der Dunkelheit dunkle Machenschaften erledigen wollen.

Man sagt, dass die Sozialrevolutionäre im Block mit den Volkssozialisten stehen. Niemand kennt die Bedingungen und die Beschaffenheit dieses Blocks. Es wird blind gespielt. Man sagt (siehe „Rodnaja Semlja" vom 28. [15.] Januar –- an dieser Zeitung arbeitet aber Herr Tan mit), dass die Sozialrevolutionäre für einen Block mit den Kadetten sind. Niemand weiß, was daran Wahres ist. Es wird blind gespielt. In den Wahlversammlungen herrscht dasselbe Durcheinander: ein Sozialrevolutionär fordert zusammen mit den Volkssozialisten zum Block mit den Kadetten auf, ein anderer bringt eine Resolution gegen den Block mit den Kadetten und für einen Block aller Linken gegen die Kadetten zur Annahme.

Die völlige Haltlosigkeit und Doppelzüngigkeit des gesamten, sogar des allerrevolutionärsten Kleinbürgertums tritt offen vor den Massen in Erscheinung.

Wenn wir keinen kleinbürgerlichen, opportunistischen Teil der Sozialdemokratie hätten, dann hätten wir eine glänzende Möglichkeit, der ganzen Arbeitermasse klarzumachen, warum nur die Sozialdemokratie fähig ist, ehrlich und konsequent ihre Interessen zu verteidigen.

Die Bolschewiki führen ihre Agitation auf dieser Grundlage. Die Bolschewiki verfolgen unbeirrt ihre Linie: in Petersburg wird es eine Kadetten- und eine sozialdemokratische Liste geben. Unser Entschluss hängt nicht von den Schwankungen des Kleinbürgertums ab: wenn es unserem Ruf Folge leistet und mit dem Proletariat zusammen gegen die Liberalen geht, wird es um so besser dabei abschneiden. Wenn es das nicht will, dann wird es selbst der Leidtragende sein, wir aber werden auf jeden Fall den sozialdemokratischen Weg gehen.

Die siebente Etappe. Zerfall. Die Kadetten verwickeln sich in Verhandlungen mit den Schwarzhundertern. Die Opportunisten des Kleinbürgertums verwickeln sich in Verhandlungen mit den Kadetten. Die Bolschewiki halten unbeirrt ihre Linie inne.

Die Zeitungen teilen mit: 1. dass Herr Miljukow bei Herrn Stolypin vorgelassen wird; 2. dass nach Meldungen der ausländischen Zeitungen die Regierung bereit ist, die Kadettenpartei zu legalisieren unter der Bedingung, dass sie keinem Linksblock beitritt.

In die Machenschaften, die die Partei der liberalen Verräter hinter den Kulissen betreiben, dringt ein Lichtstrahl. Die Kadetten fürchten sich, das Angebot der Schwarzhunderter abzulehnen, weil diese mit der Auflösung der Duma drohen.

Hier liegt die wirkliche Ursache, warum die Kadetten in der Frage der Abkommen zum Schrecken der Opportunisten des Kleinbürgertums plötzlich „steinhart" werden.

Die Kadetten sind unnachgiebig. Der gesamten Linken mehr als zwei Dumasitze? Um keinen Preis! Jede Nummer der Kadetten-„Rjetsch" stellt mit vollster Deutlichkeit und Eindringlichkeit fest, dass sie bereit ist, die gemäßigten Sozialisten (zwei von sechs Sitzen) zum Kampf gegen die „revolutionären Illusionen", zum Kampf gegen die Revolution ins Schlepptau zu nehmen. Mit der Revolution zusammenzugehen aber – niemals!

Die Opportunisten sind verzweifelt. Der Ton der Artikel des „Towarischtsch" gegen die „Rjetsch" wird geradezu hysterisch. Der Renegat der Sozialdemokratie, Herr Bogutscharski, dreht sich und windet sich, redet der „Rjetsch" zu und lädt – zusammen mit anderen Schriftstellern des „Towarischtsch" – die „Rjetsch" ein, es sich zu überlegen1 usw. Wenn noch vor kurzem „Rjetsch" und „Towarischtsch" gemeinsam darüber frohlockten, dass die Bolschewiki isoliert waren und dass die gemäßigten Sozialisten sich den Liberalen untergeordnet hatten, so ist jetzt die Prügelei und die Schimpferei zwischen ihnen in vollem Gange. Am 20. (7.) Januar erfuhr Petersburg von dem Beschluss der Petersburger sozialdemokratischen Konferenz. Heute ist der 31. (18.) Januar, und bis jetzt sind die Kadetten und die Opportunisten zu keinem Entschluss gekommen! Heute ist der Ton der „Rjetsch" gegenüber dem „Towarischtsch" besonders unversöhnlich, heute ist der Ton, den der „Towarischtsch" in seinen Notizen gegen die „Rjetsch" anschlägt, besonders scharf und verworren.

Die Bolschewiki verfolgen unbeirrt ihre Linie. In Petersburg wird es drei Listen geben. Wo die Kleinbürger stehen werden, ist ihre Sache. Das revolutionäre Proletariat aber wird auf jeden Fall seine Pflicht erfüllen.

Wie sich die achte Etappe gestalten wird, wissen wir nicht. Das hängt letzten Endes von den Verhandlungen, von den Beziehungen zwischen den Kadetten und der Schwarzhundert-Regierung ab. Ob sie sich auf der Grundlage einer sofortigen Legalisierung der Kadetten oder auf einer andern Grundlage „miteinander" versöhnen, – isoliert werden die Kleinbürger sein. Werden die Kadetten und die Schwarzhunderter einstweilen nicht handelseinig, dann werden die Kadetten den Kleinbürgern vielleicht auch drei Sitze geben. Das wird jedoch für die Politik der Sozialdemokratie nicht bestimmend sein.

Der Gang der Ereignisse in der Petersburger Wahlkampagne gibt uns ein kleines, aber vortreffliches Bild von den Beziehungen zwischen den Schwarzhundertern, den Kadetten und dem revolutionären Proletariat, und es ist geradezu bemerkenswert, wie dieser Gang der Ereignisse die Richtigkeit der erprobten, alten, unversöhnlichen Taktik der revolutionären Sozialdemokratie bestätigt.

Gerade Politik ist die beste Politik. Grundsatzfeste Politik ist die praktischste Politik. Nur sie vermag wirklich und fest die Sympathien und das Vertrauen zur Sozialdemokratie in den Massen zu verankern, nur sie kann die Arbeiterpartei von der Verantwortung für die Verhandlungen Stolypins mit Miljukow, Miljukows mit Annenski, Dan oder Tschernow befreien.

Die Opportunisten der Sozialdemokratie aber und der „Tru-dowiki“-Parteien werden diese Verantwortung von nun an f ü r immer tragen.

Nicht umsonst versuchen die schwankenden Menschewiki, sich zu retten, und greifen dabei schon zur Heuchelei. Wir sind entweder für den Kampf gegen die Schwarzhundert-Gefahr oder für reine sozialdemokratische Listen, erklären dieselben Sozialdemokraten, die die Konferenz verlassen haben2 (wenn man den heutigen Zeitungen glauben darf). Eine ergötzliche Ausflucht, der nur ganz naive Leute Glauben schenken können! Es ist bewiesen, dass bei zwei linken Listen in Petersburg keine Schwarzhundert-Gefahr besteht – besteht sie aber bei drei Listen? Wollen sich die Menschewiki etwa darüber Gewissheit verschaffen?! Nein, sie klammern sich nur an einen Strohhalm, denn der Gang der Ereignisse hat sie vor die Wahl gestellt: entweder zu den Kadetten überzulaufen und sich der geistigen und politischen Hegemonie der Kadetten völlig unterzuordnen oder den Bolschewiki zu folgen und sich den sozialdemokratischen Listen anzuschließen, in die auch die Trudowiki aufgenommen werden.

Solche Listen würden in Petersburg sicherlich sowohl die Schwarzhunderter als auch die Kadetten besiegen. Und die revolutionäre Sozialdemokratie, die von vornherein eine richtige Linie eingeschlagen hat, wird diese Linie unbeirrt verfolgen – ohne Furcht vor zeitweiligen Niederlagen, die eintreten können, falls die Kleinbürger zu den Liberalen übergehen –, sie wird dabei neue Kraft und Festigkeit aus den Schwankungen und der Wankelmütigkeit des Opportunismus schöpfen.

In St. Petersburg wird es drei Listen geben: die Liste des Schwarzen Hunderts, die Kadettenliste und die sozialdemokratische Liste.

Bürger, wählt!

1 Lenin bezieht sich auf den Artikel W. Bogutscharskis: „Besinnt euch – solange es noch nicht zu spät ist!" („Towarischtsch" Nr. 177 vom 30. [17.] Januar 1907), geschrieben aus Anlass des Beschlusses der Petersburger Parteileitung der konstitutionell-demokratischen Partei über die folgende Verteilung der Abgeordnetenmandate: 1 Mandat für die Arbeiterkurie, 1 für den Linksblock und 4 für die konstitutionellen Demokraten. „Die konstitutionellen Demokraten – schrieb W. Bogutscharski – sollten den Forderungen der linken Parteien und der progressiven Wähler nach Abtretung eines der 5 Abgeordnetenmandate (das sechste sollte unbedingt der Arbeiterkurie abgetreten werden) an die volkssozialistische Richtung und eines Mandates an die sozialdemokratische Richtung entgegenkommen. Die Starrköpfigkeit der konstitutionellen Demokraten wird die überaus unerwünschte Organisierung des sozialistischen Blocks als Wahlkonkurrenten zur Folge haben, und dann wird die Zukunft in einer Beziehung außerordentlich dunkel, in anderer Beziehung dagegen sehr klar werden (dunkel im Sinne der Ungewissheit, und klar – im Sinne des günstigen Ausganges für die Regierung)."

2 Lenin zitiert den Aufruf des Vollzugsorgans des abgespaltenen Teils der Januarkonferenz 1907 der Petersburger SDAPR (31 Menschewiki) an die Arbeiter und sozialdemokratischen Wähler. Das Vollzugsorgan der 31 Menschewiki gab eine kurze Darstellung der Haltung der Bolschewiki nach der Spaltung und erklärte, unter Anführung der Resolution der Konferenz über den Linksblock, folgendes: „Das ist eine direkte und grobe Verletzung der Beschlüsse der Allrussischen Parteikonferenz, die den sozialdemokratischen Organisationen Wahlabkommen im ersten Stadium nur bei Bestehen einer Schwarzhundert-Gefahr und nur zum Kampf gegen die Schwarzhunderter gestattete. In allen übrigen Fällen ist die Sozialdemokratie verpflichtet, selbständig aufzutreten. Wenn die Beratung wirklich der Meinung war, dass in Petersburg eine Schwarzhundert-Gefahr nicht besteht, so hatte sie kein Recht, die Selbständigkeit des Auftretens der Sozialdemokratie bei den Wahlen um irgendwelcher anderen Ziele willen zu beschränken." In seinem vollen Wortlaut war der Aufruf abgedruckt in Nr. 170 des „Towarischtsch" vom 2. Februar (20. Januar) 1907.

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