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Wladimir I. Lenin 19080303 Neutralität der Gewerkschaften

Wladimir I. Lenin: Neutralität der Gewerkschaften1

[Proletarij" Nr. 22, 3. März (19. Februar) 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 171-181]

In der vorigen Nummer des „Proletarij" veröffentlichten wir eine Resolution des ZK unserer Partei über die Gewerkschaften. „Nasch Wjek" schloss an die Mitteilung über diese Resolution die Bemerkung, sie sei vom ZK einstimmig angenommen worden, da die Menschewiki mit Rücksicht auf die Zugeständnisse, die sie im Vergleich mit dem ursprünglichen bolschewistischen Entwurf aufweist, für sie gestimmt hätten.2 Ist diese Mitteilung richtig (die verblichene Zeitung „Nasch Wjek" war meist über alles, was den Menschewismus betrifft, ausgezeichnet unterrichtet), so bleibt uns nur übrig, diesen großen Schritt zum Zusammenschluss der sozialdemokratischen Arbeit auf einem so wichtigen Gebiet, wie es die Gewerkschaften sind, von ganzem Herzen zu begrüßen. Die Zugeständnisse, von denen „Nasch Wjek" sprach, sind ganz unbedeutend und ändern nichts an den grundlegenden Prinzipien des bolschewistischen Entwurfs (der übrigens in Nr. 17 des „Proletarij" vom 20. Oktober 1907 abgedruckt ist, nebst einem umfangreichen, ihn näher begründenden Aufsatz „Gewerkschaften und sozialdemokratische Partei").

Unsere ganze Partei hat folglich nunmehr anerkannt, dass die Arbeit in den Gewerkschaften nicht im Geiste einer Neutralität derselben, sondern im Geiste ihrer möglichst innigen Beziehungen zur sozialdemokratischen Partei zu leisten ist. Ebenso wurde auch anerkannt, dass diese Fühlung ausschließlich durch Arbeit der Sozialdemokraten innerhalb der Gewerkschaften erreicht werden müsse, dass die Sozialdemokraten festgefügte Zellen in den Gewerkschaften zu bilden haben und dass illegale Gewerkschaften gegründet werden sollen, falls legale unmöglich sind.

Der Einfluss des Stuttgarter Kongresses auf diese Annäherung beider Fraktionen unserer Partei in der Frage des Charakters der Gewerkschaften steht außer Zweifel. Wie auch Kautsky in seinem Referat vor den Leipziger Arbeitern hervorgehoben hat, bereitet die Resolution des Stuttgarter Kongresses der prinzipiellen Anerkennung der Neutralität ein Ende. Der hohe Entwicklungsgrad der Klassengegensätze, ihre in letzter Zeit in allen Ländern zutage tretende Verschärfung, die langjährigen Erfahrungen Deutschlands – wo die Neutralitätspolitik ein Erstarken des Opportunismus in den Gewerkschaften zur Folge gehabt, die Entstehung besonderer christlicher und liberaler Gewerkschaftsverbände aber in keiner Weise verhindert hat – die Erweiterung jenes besonderen Gebiets des proletarischen Kampfes, das gemeinsames und einmütiges Vorgehen von Gewerkschaften und politischer Partei verlangt (Massenstreik und bewaffneter Aufstand in der russischen Revolution als Vorbild der wahrscheinlichen Formen der proletarischen Revolution im Westen) – dies alles hat der Neutralitätstheorie endgültig den Boden entzogen.

Unter den proletarischen Parteien dürfte die Neutralitätsfrage nunmehr keine besonders umfassenden Debatten hervorrufen. Anders steht es mit den nichtproletarischen quasi-sozialistischen Parteien vom Schlage unserer Sozialrevolutionäre, die in Wirklichkeit nichts anderes sind als der äußerste linke Flügel einer revolutionär-bürgerlichen Partei von Intellektuellen und fortschrittlichen Bauern.

Es ist außerordentlich charakteristisch, dass bei uns nach dem Stuttgarter Kongress nur die Sozialrevolutionäre und Plechanow als Verfechter des Gedankens der Neutralität aufgetreten sind. Sie taten es mit wenig Glück.

In der letzten Nummer des Zentralorgans der Partei der Sozialrevolutionäre „Snamja Truda" (Nr. 8, Dezember 1907) finden wir zwei Aufsätze über die Gewerkschaftsbewegung.3 Dort versuchen die Sozialrevolutionäre zunächst, sich über die Erklärung der sozialdemokratischen Zeitung „Wperjod", die Stuttgarter Resolution habe die Frage der Beziehungen zwischen Partei und Gewerkschaften in dem Geiste, wie es schon die Londoner Resolution andeutete, im Geiste des Bolschewismus, gelöst, lustig zu machen.4 Wir erwidern darauf, dass die Sozialrevolutionäre selber in der gleichen Nummer des „Snamja Truda" Tatsachen anführen, die die Richtigkeit gerade einer solchen Einschätzung unwiderleglich beweisen.

In derselben Zeit – schreibt das „Snamja Truda" über den Herbst 1905 und das ist eine charakteristische Tatsache – treten die drei russischen sozialistischen Fraktionen: die menschewistischen Sozialdemokraten, die bolschewistischen Sozialdemokraten und die Sozialrevolutionäre, zum ersten mal offen einander gegenüber mit der Darlegung ihrer Ansichten über die Gewerkschaftsbewegung. Das Moskauer Büro, das beauftragt war, aus seiner Mitte auch ein Zentralbüro für die Einberufung des Kongresses (der Gewerkschaften) einzusetzen, organisierte im Theater „Olympia" eine große Versammlung gewerkschaftlich organisierter Arbeiter.A Die Menschewiki vertraten den Standpunkt einer klassisch-marxistischen, streng orthodoxen Scheidung der Ziele von Partei und Gewerkschaften. ,Aufgabe der sozialdemokratischen Partei ist die Aufrichtung der sozialistischen Ordnung und Vernichtung der kapitalistischen Beziehungen; Aufgabe der Gewerkschaften ist dagegen die Verbesserung der Arbeitsbedingungen innerhalb der kapitalistischen Ordnung, um für die Interessen der Arbeiter vorteilhafte Bedingungen für den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu erreichen'; hieraus wurde die Forderung der Neutralität der Gewerkschaften und der Erfassung aller Arbeiter des betreffenden Berufs durch die Gewerkschaften abgeleitet.B

Die Bolschewiki führten aus, es könne heute keine strenge Scheidung von Politik und Berufsleben durchgeführt werden, und folgerten daraus, es ,müssten zwischen der sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften innige Beziehungen herrschen, und die Partei habe die Gewerkschaften anzuleiten.' Die Sozialrevolutionäre endlich verlangten strenge Neutralität der Gewerkschaften zur Vermeidung einer Spaltung des Proletariats, lehnten jedoch jede Beschränkung der Aufgaben und der Tätigkeit der Gewerkschaften auf irgendein enges Gebiet ab und formulierten diese Aufgabe als Kampf gegen das Kapital in seinem ganzen Umfange, folglich sowohl als wirtschaftlichen wie als politischen Kampf."

So schildert das „Snamja Truda" selber die Tatsachen! Nur ein blinder oder total denkunfähiger Mensch kann in Abrede stellen, dass gerade derjenige dieser drei Standpunkte, der innige Beziehungen zwischen sozialdemokratischer Partei und Gewerkschaften verlangt, von der Stuttgarter Resolution bestätigt wird, die „innige Beziehungen zwischen Partei und Gewerkschaften" empfiehlt.C

Um in dieser überaus klaren Frage Unklarheit zu schaffen, haben die Sozialrevolutionäre in lächerlicher Weise die Selbständigkeit der Gewerkschaften im Wirtschaftskampf mit ihrer Unabhängigkeit von Parteien verwechselt.

Der Stuttgarter Kongress – so schreiben sie – sprach sich mit aller Bestimmtheit auch für die Selbständigkeit (Parteilosigkeit) der Gewerkschaften aus, d. h. er lehnte sowohl den Standpunkt der Bolschewiki als auch denjenigen der Menschewiki ab."

Dies wird aus folgenden Worten der Stuttgarter Resolution gefolgert:

Jede der beiden Organisationen hat ein durch ihre Natur bestimmtes, eigentümliches Gebiet, auf dem sie ihre Aktion vollständig selbständig zu bestimmen hat. Daneben aber gibt es ein stets wachsendes Gebiet" –

usw., wie oben angeführt.5

Da haben sich also richtig Käuze gefunden, die diese Forderung der „Selbständigkeit" der Gewerkschaften auf dem „durch ihre Natur bestimmten eigentümlichen Gebiet" mit der Frage: Neutralität der Gewerkschaften oder innige Beziehungen zur Partei auf dem Gebiete der Politik und der Aufgaben der sozialistischen Revolution verwechselt haben!

Auf diese Weise haben unsere Sozialrevolutionäre die grundlegende prinzipielle Frage gänzlich vertuscht, wie nämlich die Theorie der „Neutralität", die in Wirklichkeit der Festigung des bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat dient, zu beurteilen, ist. Statt von dieser prinzipiellen Frage, zogen sie es vor, nur von den spezifischen Verhältnissen in Russland, wo es mehrere sozialistische Parteien gibt, zu reden und dabei die Vorgänge in Stuttgart in ein falsches Licht zu rücken.

Man kann sich hier nicht auf die Unklarheit der Stuttgarter Resolution berufen – schreibt das „Snamja Truda" – , denn jede etwaige Unklarheit und jeder Zweifel ist von Herrn Plechanow zerstört worden, der auf dem Internationalen Kongress als offizieller Vertreter der Partei sprach; vorläufig liegt noch keine Erklärung des sozialdemokratischen Zentralkomitees darüber vor, dass ein solches Auftreten des Genossen Plechanow die Reihen der einigen Partei desorganisiert!" ...

Ihr Herren Sozialrevolutionäre! Natürlich steht euch das Recht zu, darüber zu witzeln, dass unser ZK Plechanow zur Ordnung gerufen hat. Ihr habt das Recht zu glauben, man könne zum Beispiel eine Partei achten, die die Kadettenliebe des Herrn Gerschuni offiziell nicht verurteilt. Aber wozu direkte Unwahrheiten? Plechanow war auf dem Stuttgarter Kongress nicht Vertreter der sozialdemokratischen Partei, sondern nur einer ihrer 33 Delegierten. Und er vertrat nicht die Auffassung der sozialdemokratischen Partei, sondern die der heutigen menschewistischen Opposition gegen die sozialdemokratische Partei und ihre Londoner Beschlüsse. Die Sozialrevolutionäre müssen dies wissen, und was sie sagen, ist daher wissentliche Unwahrheit.

In der Kommission, die die Frage der Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und den politischen Parteien erörterte, sagte er (Plechanow) buchstäblich folgendes: ,In Russland gibt es 11 revolutionäre Organisationen – mit welcher sollen die Gewerkschaften in Verbindung treten? ... Das Hineintragen von politischen Differenzen [in die Gewerkschaften6] würde nicht förderlich sein.' Darauf erklärten alle Kommissionsmitglieder einstimmig, dass die Kongressresolution nicht in diesem Sinne aufzufassen sei, dass damit nicht die Verpflichtung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ausgesprochen sein solle, der Sozialdemokratie anzugehören', d. h. sie verlangten, wie es auch in der Resolution heißt, ,volle Selbständigkeit' der Gewerkschaften"(Sperrungen vom „Snamja Truda").

Nein, so war es nicht, ihr Herren vom „Snamja Truda"! In der Kommission fragte ein belgischer Genosse, ob man Gewerkschaftsmitglieder zum Eintritt in die sozialdemokratische Partei verpflichten könne, und alle antworteten ihm, dass man das nicht dürfe. Anderseits aber stellte Plechanow einen Abänderungsantrag: „Dabei ist die Einheit der Gewerkschaftsorganisation im Auge zu behalten."7 Dieser Antrag wurde angenommen, aber nicht einstimmig (Genosse Woinow, der die Auffassung der SDÄPR vertrat, stimmte für diesen Antrag – und das war unserer Meinung nach richtig). So lagen die Dinge in Wirklichkeit.

Die Sozialdemokraten müssen die Einheitlichkeit der Gewerkschaftsorganisation stets im Auge behalten. Sehr richtig. Dies gilt aber auch für die Sozialrevolutionäre, und wir fordern sie auf, über diese „Einheitlichkeit der Gewerkschaftsorganisation" nachzudenken, wenn diese ihre enge Fühlung mit der Sozialdemokratie proklamieren wird! Niemand hat je daran gedacht, die Gewerkschaftsmitglieder zum Beitritt zur Sozialdemokratie zu „verpflichten": das haben die Sozialrevolutionäre vor lauter Angst geträumt. Es ist aber ein Märchen, wenn es heißt, der Stuttgarter Kongress habe den Gewerkschaften verboten, ihre innigen Beziehungen zur sozialdemokratischen Partei zu erklären oder solche Beziehungen zu verwirklichen.

Die russischen Sozialdemokraten – schreibt das „Snamja Truda" – entfalten eine überaus energische und unermüdliche Kampagne für die Eroberung der Gewerkschaften, für ihre Unterordnung unter ihre Führung als Partei. Die Bolschewiki tun es offen und unverhohlen ... , die Menschewiki mehr auf Umwegen ..."

Sehr richtig, ihr Herren Sozialrevolutionäre! Um des Ansehens der Arbeiterinternationale willen seid ihr berechtigt, von uns zu verlangen, dass wir diese Kampagne taktvoll und klug durchführen und dabei „die Einheitlichkeit der Gewerkschaftsorganisationen im Auge behalten". Das wollen wir gerne anerkennen und verlangen von euch die gleiche Anerkennung, doch auf die Kampagne verzichten wir nicht!

Aber Plechanow hat ja gesagt, es wäre nicht förderlich, politische Differenzen in die Gewerkschaften hinein zutragen. Jawohl, Plechanow hat diese Dummheit gesagt, und natürlich mussten sich die Sozialrevolutionäre an sie klammern, wie sie sich stets an alles klammern, was am wenigsten Nachahmung verdient. Maßgebend sind aber nicht die Worte Plechanows, sondern die Kongressresolution, deren Anwendung ohne „Hineintragen politischer Differenzen" unmöglich ist. Hier ein kleines Beispiel. Die Kongressresolution besagt, die Gewerkschaften dürfen sich nicht „von der Theorie der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit" leiten lassen. Wir Sozialdemokraten behaupten, dass ein Agrarprogramm, das Gleichmäßigkeit der Bodenverteilung im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft verlangt, auf der Theorie der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit fußt.D Wir werden uns stets dagegen aussprechen, dass wegen einer solchen Differenz (oder selbst wegen einer Differenz mit monarchistisch gesinnten Arbeitern) die Geschlossenheit eines Streiks usw. verletzt werden soll, doch wir werden „diese Differenzen" stets in die Reihen der Arbeiterschaft überhaupt und in alle Gewerkschaften insbesondere „hinein tragen".

Ebenso unklug ist die Berufung Plechanows auf 11 Parteien. Erstens gibt es nicht allein in Russland verschiedene sozialistische Parteien, zweitens aber kommen in Russland nur zwei sozialistische Parteien – Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre – als ernstliche Konkurrenten in Betracht, denn die nationalen Parteien mit ihnen in einen Topf zu werfen, ist ganz widersinnig. Drittens aber ist der Zusammenschluss wahrhaft sozialistischer Parteien eine Frage für sich; dadurch, dass er sie heranzieht, schafft Plechanow nur Unklarheit. Wir müssen immer und überall die Annäherung zwischen den Gewerkschaften und der sozialistischen Partei der Arbeiterklasse verfechten; welche Partei aber in dem einen oder anderen Lande, bei der einen oder anderen Nation, eine wirkliche sozialistische und eine wirkliche Partei der Arbeiterklasse ist – das ist eine Frage für sich, die nicht durch Resolutionen internationaler Kongresse, sondern durch den Verlauf des Kampfes zwischen den nationalen Parteien entschieden wird.

Wie falsch die Argumentation des Genossen Plechanow in dieser Frage ist, zeigt mit besonderer Sinnfälligkeit sein Aufsatz im Heft 12 des „Sowremenny Mir", Jahrgang 19078. Auf Seite 55 zitiert Plechanow den Hinweis Lunatscharskis, dass die deutschen Revisionisten die Neutralität der Gewerkschaften verfechten.9 Er erwidert darauf:

Die Revisionisten sagen: die Gewerkschaften müssen neutral sein, meinen aber damit: die Gewerkschaften müssen zum Kampf gegen den orthodoxen Marxismus ausgenutzt werden."

Und er schließt:

Die Beseitigung der Neutralität der Gewerkschaften wird hier nichts nutzen. Selbst wenn wir die Gewerkschaften in enge formelle Abhängigkeit von der Partei bringen, in der Partei aber die revisionistische ,Ideologie' zum Sieg gelangt, so wird die Aufhebung der Neutralität der Gewerkschaften nur ein neuer Sieg der ,Marx-Kritiker' sein."

Diese Argumentation ist ein Musterbeispiel des bei Plechanow so beliebten Kniffes, der Frage auszuweichen und den Kern des Streites zu vertuschen. Triumphiert in einer Partei tatsächlich die revisionistische Ideologie, so ist es keine sozialistische Partei der Arbeiterklasse mehr. Es handelt sich gar nicht darum, wie eine solche Partei entsteht, zu welchen Kämpfen und Spaltungen es dabei kommt. Es handelt sich vielmehr darum, dass es in jedem kapitalistischen Land eine sozialistische Partei und Gewerkschaften gibt: unsere Aufgabe ist dabei, die grundlegenden Beziehungen zwischen ihnen zu bestimmen. Die Klasseninteressen der Bourgeoisie erzeugen unvermeidlich das Bestreben, die Gewerkschaften auf die Kleinarbeit auf dem Boden der bestehenden Ordnung zu beschränken, sie von jedem Zusammenhang mit dem Sozialismus fernzuhalten, und die Neutralitätstheorie ist das ideelle Gewand dieser bürgerlichen Bestrebungen. Die Revisionisten in den sozialdemokratischen Parteien werden es immer verstehen, sich in der kapitalistischen Gesellschaft auf irgendeine Art einen Weg zu bahnen.

In den Anfängen der politischen und der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung in Europa konnte man natürlich für die Neutralität der Gewerkschaften eintreten, als ein Mittel zur Erweiterung der ursprünglichen Basis des proletarischen Kampfes in einer Zeit, wo er verhältnismäßig noch wenig entwickelt war und wo eine systematische bürgerliche Beeinflussung der Gewerkschaften noch nicht vorhanden war. Heute aber ist es, vom Standpunkt der internationalen Sozialdemokratie, gänzlich unangebracht, die Neutralität der Gewerkschaften zu verfechten. Man kann nur lächeln, wenn man die Beteuerung Plechanows liest, „Marx würde sich auch heute für die Neutralität dei Gewerkschaften in Deutschland aussprechen", besonders wenn ein solches Argument auf der einseitigen Auslegung eines Marx-Zitats", unter völliger Ignorierung der Gesamtheit seiner Erklärungen und des ganzen Geistes seiner Lehre, beruht.

Ich bin für die Neutralität im Bebelschen, nicht im revisionistischen Sinne" – schreibt Plechanow. So reden, heißt auf Bebel schwören und zugleich in den Sumpf hinein waten Das steht ja außer Zweifel, Bebel ist eine so große Autorität in der internationalen proletarischen Bewegung, ein so erfahrener praktischer Führer, ein Sozialist von so feinem Gefühl für die Erfordernisse des revolutionären Kampfes, dass er in 99 Fällen von 100 sich selber aus dem Sumpf zu helfen vermochte, wenn er hie und da einen falschen Schritt getan hatte, und dass er auch andere, die ihm folgten, aus dem Morast zog. Bebel irrte sowohl in Breslau (1895), wo er zusammen mit Vollmar das revisionistische Agrarprogramm verfocht, als auch in Essen, wo auf der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg bestand, und er irrte auch, als er bereit war, die „Neutralität" der Gewerkschaften zum Prinzip zu erheben. Wir glauben gern, dass, wenn Plechanow nur in Bebels Gesellschaft in den Sumpf geraten wird, dies nicht oft und nicht für lange geschehen wird. Immerhin glauben wir, man solle Bebel nicht gerade dann nacheifern, wenn er Fehler begeht.

Man sagt – und Plechanow betont es ganz besonders – Neutralität sei notwendig, um alle Arbeiter zusammenzuschließen, die zu der Einsicht gelangten, dass es notwendig ist, ihre materielle Lage zu verbessern. Die so reden, vergessen jedoch, dass die gegenwärtige Entwicklungsstufe der Klassengegensätze selbst in die Frage, wie diese Verbesserung im Rahmen der modernen Gesellschaft angestrebt werden soll, unvermeidlich und unabwendbar „politische Differenzen" hinein trägt Eine unausbleibliche Folge der Neutralitätstheorie, zum Unterschied von der Theorie der Notwendigkeit inniger Beziehungen zwischen Gewerkschaften und revolutionärer Sozialdemokratie, ist, dass man zu dieser Verbesserung Mittel bevorzugt, die eine Abschwächung des Klassenkampfes des Proletariats bedeuten. Ein anschauliches Beispiel dafür (übrigens in Verbindung mit der Würdigung einer der interessantesten Episoden der Arbeiterbewegung aus jüngster Zeit) gibt dasselbe Heft des „Sowremenny Mir", in dem Plechanow die Neutralität verficht. Neben Plechanow sehen wir hier Herrn E. P., der den bekannten englischen Eisenbahnerführer Richard Bell preist10, der dem Konflikt zwischen den Arbeitern und den Direktoren der Eisenbahngesellschaften durch ein Kompromiss ein Ende bereitet hat. Bell wird zur „Seele der ganzen Arbeiterbewegung der Eisenbahner" erklärt.

Es steht außer jedem Zweifel – schreibt E. P. – dass Bell dank seiner ruhigen, wohlüberlegten und konsequenten Taktik das unbedingte Vertrauen des Eisenbahnerverbandes erworben hat, dessen Mitglieder ohne Zögern bereit sind, ihm überallhin zu folgen" („Sowremenny Mir" Nr. 12, Seite 75).

Dieser Standpunkt ist kein Zufall, sondern hängt im Wesen der Sache mit dem Neutralismus zusammen, der den Zusammenschluss der Arbeiter zur Verbesserung ihrer Lage, nicht aber den Zusammenschluss zu einem Kampfe, der der Befreiung des Proletariats dienlich sein könnte, in den Vordergrund stellt.

Doch dieser Standpunkt entspricht in keiner Weise den Auffassungen der englischen Sozialisten, die sicherlich sehr erstaunt wären, wenn sie erführen, dass die Lobsänger Bells, ohne auf Widerspruch zu stoßen, für die gleiche Zeitschrift schreiben wie prominente Menschewiki vom Schlage Plechanows, Jordanski und Co.

Die englische sozialdemokratische Zeitung „Justice" schrieb am 16. November in ihrem Leitartikel über das Abkommen Bells mit den Eisenbahngesellschaften:

Mit der fast allgemeinen trade-unionistischen Verurteilung dieses sogenannten Friedensabkommens sind wir vollständig einverstanden ... Es zerstört ganz und gar den eigentlichen Sinn des Bestehens der Gewerkschaft ... Dieses absurde Abkommen ... kann die Arbeiter nicht binden, und sie werden gut daran tun, es abzulehnen."11

In der nächsten Nummer vom 23. November schrieb Burnet über dieses Abkommen in einem Artikel mit der Überschrift „Wieder verraten!":

Vor drei Wochen war der Vereinigte Eisenbahnerverband eine der mächtigsten Gewerkschaften Englands: jetzt aber ist er auf das Niveau eines Unterstützungsvereins hinab gedrückt Diese Änderung wurde nicht etwa dadurch herbeigeführt, dass die Eisenbahner gekämpft und eine Niederlage erlitten haben, sondern dadurch, dass ihre Führer, bewusst oder aus Beschränktheit, sie an die Kapitalisten verkauft haben, noch ehe es zum Kampf gekommen ist."

Und die Redaktion der Zeitung bemerkt, sie habe von einem „Lohnsklaven der Eisenbahngesellschaft Midland" einen Brief ähnlichen Inhalts erhalten.

Vielleicht ist dies aber eine „Übertreibung" „allzu revolutionärer" Sozialdemokraten? Nein. Der „Labour Leader", das Organ einer gemäßigten Partei, der „Unabhängigen Arbeiterpartei" (ILP), die sich nicht einmal als sozialistische bezeichnen will, veröffentlichte am 15. November den Brief eines gewerkschaftlich organisierten Eisenbahners, der gegenüber dem von der ganzen kapitalistischen Presse (vom radikalen „Reynolds Newspaper" bis zu den konservativen „Times") dem Führer Bell freigebig gespendeten Lob erklärt, das von ihm durchgesetzte Abkommen sei das „verächtlichste, das die ganze Geschichte des Trade-Unionismus kennt". Er nennt Richard Bell den „Marschall Bazaine der trade-unionistischen Bewegung".

Ein anderer Eisenbahner verlangt, man solle Bell für dieses unglückselige Abkommen, „das die Arbeiter zu siebenjähriger Zwangsarbeit verurteilt", „zur Verantwortung ziehen". Im Leitartikel der gleichen Nummer bezeichnet die Redaktion des gemäßigten Organs das Abkommen als „Sedan der britischen trade-unionistischen Bewegung". „Noch niemals hat es eine so günstige Gelegenheit gegeben, die Macht der organisierten Arbeiterschaft im nationalen Maßstabe zu zeigen" – in der Arbeiterschaft herrschte eine „nie dagewesene Begeisterung" und Kampflust. Der Artikel schließt mit einer beißenden Gegenüberstellung: hier Arbeiternot, dort Triumphe und „Bankettvorbereitungen der Herren Lloyd George (der Minister, der als Lakai der Kapitalisten fungierte) und Bell".

Nur die extremsten Opportunisten, die Fabier, eine reine Intellektuellenorganisation, billigten dieses Abkommen und trieben dadurch selbst der mit den Fabiern sympathisierenden Zeitschrift „The New Age" die Schamröte ins Gesicht: sie war genötigt zuzugeben, dass, wenn die bürgerlich-konservativen „Times" die diesbezügliche Erklärung des ZK der Fabier im Wortlaut veröffentlicht haben, außer diesen Herrschaften „sich keine einzige sozialistische Organisation, keine einzige Gewerkschaft, kein prominenter Arbeiterführer" für das Abkommen ausgesprochen hat (Nummer vom 7. Dezember, Seite 101).

Da habt ihr ein Beispiel der Anwendung der Neutralität durch einen Arbeitsgenossen Plechanows, den Herrn E. P. Es handelte sich nicht um „politische Differenzen", sondern um die Verbesserung der Lage der Arbeiter in der heutigen Gesellschaft. Für die „Verbesserung" um den Preis des Kampfverzichts, um den Preis der Kapitulation vor dem Kapital auf Gnade und Ungnade, sprach sich die ganze Bourgeoisie Englands, sprachen sich die Fabier und Herr E. P. aus; für den kollektiven Kampf der Arbeiter alle Sozialisten und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter. Wird Plechanow noch weiter „Neutralität" predigen, nicht aber enge Annäherung zwischen Gewerkschaften und sozialistischer Partei?

1 Dieser Artikel von Lenin wurde mit kleinen Kürzungen auch in dem Sammelband „Strömungen unserer Zeit", Petersburg 1907, (russ.), abgedruckt.

2 Die von Lenin zitierte Mitteilung befindet sich in Nr. 967 vom 22. (9.) Januar 1908.

3 Hier und weiter zitiert Lenin folgende Artikel aus Nr. 8 des „Snamja Truda", Zentralorgan der Partei der Sozialrevolutionäre (Dezember 1907): „Die SDAPR und die Gewerkschaften", „Der Gewerkschaftskongress und das Zentralbüro."

4Snamja Truda" zitiert den Artikel „Die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und politischer Partei" aus Nr. 14 der Zeitung „Wperjod" vom 10. (23.) September 1907.

A Die Versammlung war von etwa 1500 Personen besucht. Bericht siehe im „Bulletin des Museums für Förderung der Arbeit" Nr. 2 vom 26. November 1905 (Zitat des „Snamja Truda").

B Man muss jedoch feststellen, dass diese „Neutralität" von den Herren Menschewiki ziemlich eigenartig aufgefasst wurde: so illustrierte z. B. ihr Referent seine Thesen folgendermaßen: „Eine richtige Lösung der Frage des Parteicharakters der Gewerkschaften wurde im Moskauer Buchdruckerverband gefunden: dieser schlug den Genossen vor, einzeln der sozialdemokratischen Partei beizutreten." (Anm. des „Snamja Truda").

C Die Menschewiki vertraten November 1905 nicht eine orthodoxe, sondern eine vulgäre Auffassung der Neutralität – das mögen sich die Herren Sozialrevolutionäre merken!

5 d. h.: „des Proletarischen Klassenkampfes, auf dem Erfolge nur erzielt werden können bei einmütigem Zusammenwirken zwischen Partei- und Gewerkschaftsorganisation." Die Red.

6 Zusatz des „Snamja Truda".Die Red.

7 Aus dem Russischen übersetzt. Die Red.

D Selbst einige Sozialrevolutionäre haben dies nunmehr begriffen und somit einen entscheidenden Schritt zum Marxismus getan. Siehe das sehr interessante neue Buch der Herren Firsow und Jakobij, über das wir uns nächstens mit den Lesern des „Proletarij" eingehend unterhalten werden. {Der genaue Titel des von Lenin erwähnten Buches heißt „Zur Revision des Agrarprogramms und seiner Begründung" von D. Firsow (D. Rosenblum) und M. Jakobij (M. Hendelman), Moskau, Verlag „Ära", 1908 (das Buch wurde beschlagnahmt). Die in Aussicht gestellte Besprechung dieses Buches erschien im „Proletarij" nicht}

8 Im „Sowremenny Mir'' Nr. 12, Jahrg. 1907, wurde ein Artikel von G. W. Plechanow veröffentlicht („Kritik der Theorie und der Praxis des Syndikalismus"), verfasst anlässlich des Erscheinens des Buches von A. Labriola „Reformismus und Syndikalismus", mit einem Vorwort des Verfassers zur russischen Ausgabe, aus dem Italienischen von G. Kirdezow, Redaktion und Nachwort von A. Lunatscharski, Verlag „Schipownik", St. Petersburg 1907. Den Anfang des Artikels siehe im „Sowremenny Mir" Nr. 11, 1907. Das gleiche Thema behandelt Plechanow in „Sowremenny Mir" Nr. 2 und 4 1908 (siehe Plechanow, Sämtliche Werke, Bd. XVI).

9 Lunatscharski beruft sich auf zwei Erklärungen von Marx über die Gewerkschaften aus der Adresse an die Sektionen der Internationale – veröffentlicht in „Die Internationale" von Jaeckh. Diesen offiziellen Erklärungen stellte Plechanow ein Zitat aus einem Gespräch von Marx mit einem deutschen Gewerkschafter der sechziger Jahre entgegen. Dieses Gespräch wurde im sozialdemokratischen „Volksstaat" 1869 veröffentlicht (siehe Plechanow, Sämtliche Werke [russ.], Bd. XVI, S. 60).

10 Lenin meint hier den Artikel von E. P. (E. Pimenowa) „Über Leben und Politik des Auslands", veröffentlicht im „Sowremenny Mir" 1907, Heft 12.

11 Lenin spricht hier von dem Leitartikel der „Justice" vom 16. November 1907.

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