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Wladimir I. Lenin 19081126 Über zwei Briefe

Wladimir I. Lenin: Über zwei Briefe

[Proletarij“ Nr. 39 26. (13.) November 1908. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 484-502]

In der vorliegenden Nummer des „Proletarij" bringen wir erstens den Brief eines otsowistischen Arbeiters, den „Rabotscheje Snamja" in Nr. 5 mit der Anmerkung gebracht hat, die Redaktion teile diese Auffassungen nicht und betrachte den Brief als Diskussionsbeitrag, zweitens einen erst vor wenigen Tagen an unsere Redaktion gelangten Brief eines Petersburger Arbeiters, des Genossen Michael Tomski. Beide Briefe geben wir im Wortlaut wieder. Wir wissen sehr wohl, dass sich übelwollende Kritiker finden können, die fähig sind, einzelne Stellen oder Sätze des einen oder anderen Briefes aus dem Zusammenhang zu reißen, sie schief und krumm auszulegen, aus ihnen Schlüsse zu ziehen, die den Absichten beider Verfasser, die ihre Briefe in Hast, unter den ungünstigsten konspirativen Bedingungen geschrieben haben, absolut fern liegen. Doch diese Kritiker zu beachten, verlohnt sich nicht. Wer aber für den Stand der Arbeiterbewegung und die gegenwärtige Lage der Sozialdemokratie in Russland ernstes Interesse hat, der wird uns zweifellos zustimmen, wenn wir erklären, dass beide Briefe für die Charakteristik zweier Strömungen unter unseren klassenbewussten Arbeitern höchst bezeichnend sind. Diese beiden Strömungen äußern sich auf Schritt und Tritt im Leben aller Moskauer und Petersburger sozialdemokratischen Organisationen. Und da die dritte Strömung, die menschewistische, die offen und unverhohlen oder auch insgeheim und mit vielen Grimassen die Partei zu Grabe tragen möchte, in den Ortsorganisationen fast gar nicht vertreten ist, so können wir sagen, dass der Zusammenstoß obiger Tendenzen die brennende Tagesfrage unserer Partei ist. Daher müssen wir uns mit diesen beiden Briefen aufs eingehendste beschäftigen.

Beide Verfasser geben zu, dass unsere Partei nicht nur eine organisatorische, sondern auch eine ideell-politische Krise durchmacht. Es ist dies eine Tatsache, und es wäre sinnlos, sie verheimlichen zu wollen. Man muss sich vielmehr über ihre Ursachen und die Mittel ihrer Bekämpfung klare Rechenschaft geben.

Beginnen wir mit dem Petersburger. Aus seinem ganzen Brief geht klar hervor, dass die Ursachen der Krise, nach seiner Meinung, zweierlei Art sind. Einerseits hat der Mangel sozialdemokratischer Leiter aus den Reihen der Arbeiterschaft zur Folge gehabt, dass die fast ausnahmslose Flucht der Intellektuellen aus der Partei in vielen Fällen den Zerfall der Organisation, die Unfähigkeit bedeutet hat, die durch schwere Verfolgungen, durch Apathie und Erschöpfung der Massen gelichteten Reihen zu sammeln und zusammenzuschließen. Andererseits wurden Agitation und Propaganda bei uns, wie der Schreiber des Briefes meint, mit einer ungeheuren Übertreibung „der gegenwärtigen Lage" betrieben, d. h. sie konzentrierten sich auf Fragen der revolutionären Taktik des Tages, nicht aber auf die Propaganda des Sozialismus, nicht auf die Vertiefung des sozialdemokratischen Bewusstseins des Proletariats. „Die Arbeiter wurden zu Revolutionären, zu Demokraten, nur nicht zu Sozialisten", und bei der Ebbe der allgemein-demokratischen, d. h. bürgerlich-demokratischen Bewegung verließen sie in sehr, sehr großer Anzahl die Reihen der sozialdemokratischen Partei. Der Petersburger Briefschreiber verbindet diese Auffassung mit einer scharfen Kritik des „unbegründeten" „Erfindens" von Losungen und mit der Forderung einer ernsteren propagandistischen Arbeit.

Wir sind der Meinung, dass der Verfasser in seiner Polemik gegen das eine Extrem manchmal in das andere verfällt, aber im Großen und Ganzen steht er zweifellos auf einem ganz richtigen Standpunkt. Man kann nicht sagen, es sei „verfehlt" gewesen, aus Fragen der gegenwärtigen Situation „ganze Kampagnen zu machen". Das ist übertrieben. Das bedeutet nichts anderes, als vom Standpunkt der heutigen Verhältnisse die gestrigen vergessen, und der Verfasser verbessert eigentlich sich selbst, wenn er zugibt, dass „der Moment unmittelbarer Aktionen des Proletariats natürlich eine Ausnahmefrage" ist. Betrachten wir zwei solche Aktionen, die voneinander möglichst verschieden sind und zeitlich denkbar weit auseinanderliegen: den Boykott der Bulyginschen Duma in Herbst 1905 und die Wahlen zur II. Duma Anfang 1907. Konnte eine einigermaßen lebendige und im Leben verankerte proletarische Partei in einer solchen Zeit ihre Hauptaufmerksamkeit und Hauptagitation nicht auf die Losungen des Tages richten? Durfte die sozialdemokratische Partei, die zu beiden Zeitpunkten an der Spitze der proletarischen Massen stand, ihren inneren Kampf nicht auf die Losungen konzentrieren, die die unmittelbare Haltung der Massen bestimmen? Sollen wir in die Bulyginsche Duma gehen oder sie sprengen? Soll man zur II. Duma im Block mit den Kadetten oder gegen die Kadetten wählen? Es genügt, die Frage klar zu stellen und sich die Verhältnisse dieser jüngsten Vergangenheit zu vergegenwärtigen, um an der Antwort nicht zu zweifeln. Der erbitterte Kampf für die eine oder andere Losung war damals nicht von einer „Verfehlung" der Partei bedingt, nein – er entsprang der objektiven Notwendigkeit eines raschen und einheitlichen Entschlusses in einer Situation, wo die Partei uneinig war, wo es in ihr zwei Taktiken, zwei ideologische Strömungen – eine kleinbürgerlich-opportunistische und eine proletarisch-revolutionäre – gab.

Ebenso darf man die Sache nicht so hinstellen, als sei zu jener Zeit für die Propaganda des Sozialismus, für die Verbreitung des Marxismus in den Massen nicht genügend gearbeitet worden. Das würde nicht stimmen. Gerade zu jener Zeit, 1905–1907, wurde in Russland eine Menge ernster theoretischer sozialdemokratischer Literatur, hauptsächlich Übersetzungen, verbreitet, die noch ihre Früchte tragen wird. Seien wir nicht kleinmütig, zwingen wir unsere eigene Ungeduld nicht den Massen auf! Solche Mengen theoretischer Literatur, in so kurzer Zeit in die jungfräulichen, von sozialistischen Büchern noch fast unberührten Massen geworfen, können nicht mit einem Schlag verdaut werden. Die sozialdemokratische Literatur ist nicht verloren. Sie ist gesät. Sie wächst und wird ihre Früchte tragen – vielleicht nicht morgen, auch nicht übermorgen, sondern etwas später, wir sind nicht imstande, die objektiven Verhältnisse des Heranwachsens der neuen Krise zu ändern, aber sie wird Früchte tragen.

Trotzdem liegt dem Hauptgedanken des Verfassers tiefste Wahrheit zu Grunde. Diese Wahrheit besteht darin, dass in der bürgerlich-demokratischen Revolution eine gewisse Verflechtung proletarisch-sozialistischer und kleinbürgerlich-demokratischer auch opportunistisch-demokratischer und revolutionär-demokratischer) Elemente und Tendenzen unvermeidlich ist. Die erste Periode der bürgerlichen Revolution eines sich kapitalistisch entwickelnden „bäuerlichen" Landes konnte nicht vorübergehen, ohne dass sich der objektive Zusammenhang gewisser proletarischer Schichten mit bestimmten kleinbürgerlichen Schichten fühlbar machte. Und wir stehen jetzt mitten im Prozess eines notwendigen Auseinandersetzens, der Scheidung, der neuen Herausbildung wirklich proletarisch-sozialistischer Elemente, mitten im Prozess ihrer Säuberung von Mitläufern1, die sich der Bewegung nur wegen der „schönen" Losungen einerseits, oder aber wegen des mit den Kadetten gemeinsamen Kampfes für die „mit Machtvollkommenheit ausgestattete Duma" andererseits angeschlossen haben.

In verschiedenem Grade vollzieht sich dieser Prozess in beiden sozialdemokratischen Fraktionen. Es ist ja Tatsache, dass sowohl bei den Menschewiki als auch bei den Bolschewiki die Reihen sich gelichtet haben! Scheuen wir uns nicht, es auszusprechen! Es unterliegt natürlich nicht dem geringsten Zweifel, dass der linke Parteiflügel von einem solchen Zerfall, von einer solchen Demoralisierung, wie wir ihn auf dem rechten Flügel sehen, verschont geblieben ist. Das ist kein Zufall: prinzipielle Inkonsequenz musste notwendig den Zerfall fördern. Die Ereignisse werden endgültig und in Wirklichkeit zeigen, wo und wie größere organisatorische Geschlossenheit, proletarische Treue, marxistische Konsequenz erhalten geblieben ist. In solchen Streitfragen entscheidet das Leben, nicht aber Worte, Versprechungen und Gelöbnisse. Zerfall und Schwanken können nicht geleugnet werden und heischen Erklärung. Und es kann keine andere Erklärung dafür geben, als nur die Notwendigkeit einer neuen Scheidung.

Illustrieren wir unseren Gedanken durch einige kleine Beispiele: z. B. durch die Zusammensetzung der „Gefängnisbevölkerung" (wie die Advokaten sagen), d. h. der politischen Gefangenen, der Verschickten, zu Zwangsarbeit Verurteilten und politischen Emigranten. Diese Zusammensetzung gibt uns ein richtiges Bild der Wirklichkeit des gestrigen Tages. Kann es aber einen Zweifel darüber geben, dass die Zusammensetzung der „Politiker", die heute die „mehr und minder entlegenen Orte" bevölkern, sich heute durch größte Buntheit der politischen Auffassungen und Stimmungen, durch Formlosigkeit und Konfusion auszeichnet? Die Revolution hat so tiefe Schichten des Volkes zu politischem Leben aufgerüttelt, hat so viel zufällige Elemente, so viel vorübergehende Größen, so viel Neulinge an die Oberfläche emporgetragen, dass bei sehr vielen von ihnen das Fehlen einer irgendwie geschlossenen Weltanschauung absolut unvermeidlich ist. Wenige Monate fieberhafter Erregung genügen nicht, um sich zu einer solchen Weltanschauung durchzuringen – die durchschnittliche „Lebensdauer" der meisten Revolutionäre der ersten Periode unserer Revolution ist aber sicherlich nicht länger als einige Monate. Daher ist eine Neugruppierung der von der Revolution aufgerüttelten neuen Schichten, neuen Gruppen, neuen Revolutionäre absolut unvermeidlich, und sie vollzieht sich eben. So z. B. bedeutet der Grabgesang, der von einer Reihe von Menschewiki über die sozialdemokratische Partei angestimmt wird, eigentlich nichts anderes, als dass diese ehrenwerten Herrschaften sich selbst als Sozialdemokraten begraben. Wir brauchen diese Umgruppierung absolut nicht zu fürchten. Wir müssen sie begrüßen, müssen sie fördern. Mögen da und dort sentimentale Leute lamentieren und rufen: Wieder Kampf! Wieder innere Reibungen! Wieder Polemik! Wir antworten darauf: ohne neuen und immer wieder neuen Kampf hat sich niemals und nirgends eine wirklich proletarische, revolutionäre Sozialdemokratie herausgebildet. Bei uns in Russland tut sie es selbst in der gegenwärtigen schweren Situation, und sie wird sich herausbilden. Dafür bürgt uns sowohl die ganze kapitalistische Entwicklung Russlands als auch der Einfluss des internationalen Sozialismus auf uns und die revolutionäre Tendenz der ersten Periode, der Jahre 1905 – 1907.

Im Interesse dieser neuen Umgruppierung ist eine angestrengte theoretische Arbeit vonnöten. Die „gegenwärtige Lage" in Russland ist eine derartige, dass theoretische marxistische Arbeit, ihre Vertiefung und Erweiterung nicht von der Stimmung der einen oder anderen Personen, nicht von dem Eifer einzelner Gruppen, ja auch nicht von den äußerlichen polizeilichen Verhältnissen, die viele von der „Praxis" fernhalten, – sondern von der ganzen objektiven Lage der Dinge im Lande vorgeschrieben werden. In einer Zeit, wo die Massen die neuen und überaus reichen Erfahrungen eines unmittelbar revolutionären Kampfes innerlich verarbeiten, wird der theoretische Kampf für die revolutionäre Weltanschauung, d. h. für den revolutionären Marxismus, zur Losung des Tages. Daher hat der Petersburger Briefschreiber tausendmal recht, wenn er die Notwendigkeit einer vertieften sozialistischen Propaganda und der Durcharbeitung der neuentstandenen Fragen, die Notwendigkeit jeglicher Förderung und Entwicklung der Zirkel betont, in denen Arbeiter zu wirklichen Sozialdemokraten, zu sozialdemokratischen Führern der Masse herangebildet werden. Hier ist die Rolle der Parteizellen – bei deren bloßer Erwähnung Dan und Co. epileptische Anfälle kriegen – besonders groß, und die den opportunistischen Intelligenzlern so verhassten „Berufsrevolutionäre" sind hier zu einer neuen dankbaren Rolle berufen.

Doch auch hier verfällt Genosse Michael Tomski, der einen an sich durchaus richtigen Gedanken vertritt, zum Teil in das entgegengesetzte Extrem. So z. B. hat er nicht recht, wenn er die Zusammenfassung der revolutionären Erfahrungen der letzten drei Jahre und der praktischen Lehren des unmittelbaren Massenkampfes, die Zusammenfassung der Ergebnisse der revolutionär-politischen Agitation usw. aus der Liste der „ernsten Fragen" streicht. Wahrscheinlich handelt es sich hier um eine bloße Lücke in der Darlegung der Gedankengänge des Verfassers oder um einzelne Fehler, die eine Folge der in aller Eile geleisteten Arbeit sind. Diese Zusammenfassung, dieses Aufstellen einer Bilanz vor möglichst breiten Arbeitermassen ist ungleich wichtiger als die Fragen der „Lokalgerichtsbarkeit", der „lokalen Selbstverwaltung" und anderer ähnlicher „Reformen" im Stolypinschen Russland, von denen Beamte und Liberale so gerne schwatzen. Unter der Schwarzhunderter-Duma und dem Schwarzhunderter-Absolutismus bleiben solche „Reformen" immer nur eine Komödie.

Dafür hat aber Genosse Michael Tomski absolut recht, wenn er sich entschieden gegen das „Erfinden von Losungen" überhaupt und insbesondere solcher Losungen, wie „Nieder mit der Duma" oder „Nieder mit der Fraktion", wendet. Tausendmal recht hat er, wenn er dieser „Kopflosigkeit" konsequente sozialdemokratische Organisations-, Propaganda- und Agitationsarbeit zur Festigung der sozialdemokratischen Partei und ihrer den Opportunisten so verhassten Traditionen entgegenstellt, die Bemühungen um die Förderung der Kontinuität der Arbeit, um die Erweiterung und Festigung des Einflusses dieser Partei, der alten Partei (entrüstet euch, Redakteure des „Golos" der Opportunisten!2) auf die proletarischen Massen.

Hier kommen wir zum Moskauer Brief und zur Kritik am Zentralpunkt dieses Briefes, dem berühmten „Otsowismus". Wir haben uns im „Proletarij" bereits mehrfach gegen den Otsowismus ausgesprochen, schon von der Zeit an, wo die Minderheit der Bolschewiki auf der Moskauer Konferenz ihre bekannte Resolution zu dieser Frage vorgelegt hat (siehe Nr. 31 des „Proletarij"). Jetzt liegt der erste Versuch einer systematischen Begründung des Otsowismus, ebenfalls im Namen einer Minderheit der Moskauer Bolschewiki, vor uns. Betrachten wir diese Begründung etwas näher.

Der otsowistische Genosse geht von der richtigen Prämisse aus, die objektiven Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution in Russland seien noch nicht gelöst, die „Revolution sei nicht liquidiert". Doch aus dieser richtigen Prämisse zieht er falsche Schlüsse.

Worauf soll sich unsere Partei einstellen – fragt er –, auf Jahre des Stillstands, oder auf einen neuen Aufschwung des öffentlichen Lebens?"

Hier beginnt schon der Fehler. Daraus, dass die Revolution noch nicht liquidiert ist, folgt nur die Unvermeidlichkeit eines neuen bürgerlich-demokratischen Aufschwungs, nichts weiter. Weder folgt daraus, dass sich in diesem Aufschwung die alte Gruppierung der bürgerlich-demokratischen Elemente vollkommen wiederholen wird (die Umgruppierung kann möglicherweise mehr Zeit erfordern, als es uns beiden, meinem Opponenten und mir, angenehm wäre), noch dass ein „Aufschwung des öffentlichen Lebens" (man müsste sagen: revolutionärer Aufschwung), z. B. nach, sagen wir, einem Jahr Stagnation unmöglich ist. Wir haben mindestens ein Jahr Stagnation hinter uns, wir sind auch jetzt noch mitten darin. Der otsowistische Genosse gibt selber zu, es sei „schwer und fast unmöglich zu sagen, welches der äußere Anlass sein wird, der die … Massen in Bewegung setzen wird". Mehr als das. Der Verfasser, der die Partei auffordert, „unsere Taktik und Organisation auf die Revolution (d. h. den revolutionären Aufschwung), nicht aber auf den heutigen Augenblick politischer Verwesung einzustellen", schlägt selber vor, dass die Organisation gerade im Hinblick auf diese Lage, auf die erbitterten polizeilichen Verfolgungen, auf die Unmöglichkeit eines direkten und unmittelbaren Verkehrs der Parteikomitees mit den Arbeitermassen umgestaltet werde. Kein Zweifel, dass der Verfasser einen solchen Organisationsplan nicht vorschlagen, ihn nicht in den Vordergrund rücken würde, wenn wir heute in einer Zeit revolutionären Aufschwungs stünden. Das bedeutet, dass er seine eigene Fragestellung in Wirklichkeit umstößt, seine Theorie durch seine eigene Praxis korrigiert. Das ist eine Folge der falschen Darlegung seiner theoretischen Prämisse. Aus der Unausbleiblichkeit eines neuen Aufschwungs folgt die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung sowohl des alten Programms als auch der alten revolutionären Losungen unserer ganzen Arbeit in den Massen, die Notwendigkeit einer systematischen Vorbereitung der Partei und der Massen auf neue revolutionäre Kämpfe. Hieraus folgt aber nicht, ob der Aufschwung bereits eingesetzt hat oder noch nicht, ob man sich auf seinen Anfang oder auf seinen Höhepunkt „einstellen" soll. Sowohl im Jahre 1897 als auch 1901 und Anfang 1905 war die Behauptung absolut richtig, dass ein neuer revolutionärer Aufschwung (nach dem schwachen Aufschwung Anfang der 60-er und später Ende der 70-er Jahre) unausbleiblich ist, doch in diesen drei Situationen hat es die revolutionäre Sozialdemokratie verstanden, ihre Taktik auf die verschiedenen Bedingungen des Heranwachsens der Krise anzuwenden. Im Jahre 1897 lehnten wir den „Plan" eines allgemeinen Streik ab, da wir ihn als bloße Phrase betrachteten – und wir hatten recht. Im Jahre 1901 stellten wir die Losung des Aufstandes nicht auf die Tagesordnung. Nach dem 9. Januar 1905 wurden sowohl diese Losung als auch der Massenstreik von der revolutionären Sozialdemokratie in vollkommen richtiger Weise auf die Tagesordnung gestellt. Wir wollen damit gar nicht gesagt haben, dass sich der neue Aufschwung unbedingt (oder auch nur „wahrscheinlich") ebenso langsam entwickeln wird. Im Gegenteil, alle Tatsachen und die ganzen Erfahrungen der europäischen Revolution lassen uns ein ungleich rascheres Tempo erwarten als das von 1897 bis 1905. Doch die Tatsache, dass die revolutionären Sozialdemokraten in verschiedenen Augenblicken des Aufschwungs stets verschiedene Tageslosungen in den Vordergrund gerückt haben, bleibt bestehen. Der Fehler des otsowistischen Genossen besteht darin, dass er diese Erfahrung der revolutionären Sozialdemokratie vergisst.

Des weiteren geht der otsowistische Genosse zur Dumafraktion über und beginnt mit der Prämisse: „Die natürliche Krönung unserer Partei, ihre, sozusagen diplomatische Vertretung, ist die Dumafraktion". Das ist nicht richtig. Der Verfasser übertreibt Rolle und Bedeutung der Fraktion. In menschewistischer Art und Weise hebt er diese Rolle ins Maßlose – nicht umsonst heißt es wohl, dass Extreme sich berühren. Aus der Auffassung, dass die Fraktion die „Krönung" der Partei ist, deduzieren die Menschewiki die Notwendigkeit, die Partei der Fraktion anzupassen. Aus der gleichen Auffassung deduzieren aber die Otsowisten die Verderblichkeit einer so schlechten „Krönung" für die Partei. Die Prämisse ist falsch, sowohl bei den einen als auch bei den anderen. Niemals, unter keinen Bedingungen, auch nicht in der „idealsten" bürgerlich-demokratischen Republik, wird die revolutionäre Sozialdemokratie bereit sein, ihre Parlamentsfraktion als die „natürliche Krönung" der Partei oder als ihre „diplomatische Vertretung" zu betrachten. Eine solche Auffassung ist grundfalsch. Nicht zu „diplomatischen" Zwecken schicken wir unsere Abgeordneten in bürgerliche und bürgerlich-reaktionäre Vertretungskörperschaften, sondern für einen besonderen Hilfszweig der Parteitätigkeit, zur Agitation und Propaganda von einer besonderen Tribüne herab. Selbst ein „ideales" demokratisches Wahlrecht vorausgesetzt, werden der Parlamentsfraktion der Arbeiterpartei stets gewisse Spuren des Einflusses der allgemeinen bürgerlichen Wahlverhältnisse anhaften, so z. B. wird die Fraktion immer stärkeren „Intelligenzler-Charakter" haben als die Gesamtpartei. Daher können wir niemals die Fraktion als „Krönung" der Partei betrachten. Die Fraktion ist kein Generalstab der Partei (wenn man es uns gestattet, neben dem „diplomatischen" Vergleich des Verfassers einen „militärischen" zu gebrauchen), sondern eher ihre Trompeterabteilung in dem einen Fall, ihre Kundschaftertruppe im anderen Fall, oder überhaupt eine bestimmte Hilfs-„Waffengattung".

Der otsowistische Genosse macht die Fraktion aus einer Hilfsorganisation der Partei zu ihrer „Krönung", er übertreibt ihre Bedeutung, um der Tätigkeit jener Kampfgruppe, die wir in die bürgerlich-reaktionäre Duma entsandt haben, einen durch und durch falschen Charakter beizumessen.

Möglicherweise aber besteht der Verfasser gar nicht auf dieser „Krönung". In einem anderen Passus seines Artikels sagt er nämlich selber vollkommen richtig:

Einer der Hauptgründe, die die Partei zur Wahlbeteiligung bewogen hatten, war die Hoffnung auf die propagandistisch-agitatorische Rolle der Dumatribüne."

Das ist richtig, und der vom Verfasser erhobene Einwand gegen diesen richtigen Satz zeigt besonders klar, wie unrecht er hat. Er schreibt:

Die Wirklichkeit zeigt jedoch, dass die Agitation in der III. Duma gleich Null ist, 1. infolge der Zusammensetzung der Gruppe selbst, 2. infolge der völligen Gleichgültigkeit der Massen gegen alles, was im Taurischen Palais vorgeht".

Beginnen wir die Analyse dieses an Fehlern überreichen Satzes mit seinem Ende. Die Agitation bleibt gleich Null infolge der völligen Gleichgültigkeit der Massen gegen alle Vorgänge in der Duma. Was heißt das? Wieso? Dieser ungeheuerlichen Logik zufolge müsste man demnach nicht die Fraktion, sondern die „Massen" wegen ihrer „Gleichgültigkeit" abberufen! Denn wir wissen ja alle, dass in der Duma eine Politik des Absolutismus, eine Politik der Unterstützung des Zarismus durch die Schwarzhunderter-Gutsbesitzer und die oktobristischen Großkapitalisten, eine Stiefelleckerpolitik der liberalen kadettischen Schönredner gegenüber dem Zarismus gemacht wird. Gleichgültigkeit „gegen alles, was im Taurischen Palais vorgeht", bedeutet Gleichgültigkeit gegen den Absolutismus, gegen seine ganze Innen- und Außenpolitik! Wieder kommt dabei beim Verfasser ein auf den Kopf gestellter Menschewismus heraus. „Sind die Massen gleichgültig, so müssen auch die Sozialdemokraten gleichgültig sein". Aber wir sind doch eine Partei, die die Massen dem Sozialismus entgegenführt, und keineswegs eine Partei, die jede Wendung, jede Depression der Massenstimmung mitmacht. Alle sozialdemokratischen Parteien haben vorübergehend eine Apathie der Massen oder ihre vorübergehende Begeisterung für irgendeinen Fehler oder eine Mode (Chauvinismus, Antisemitismus, Anarchismus, Boulangismus usw.) erlebt, aber niemals lassen sich konsequente revolutionäre Sozialdemokraten von jeder Schwankung der Massenstimmung mitreißen. Man kann und muss die Politik der Sozialdemokraten in der III. Duma kritisieren, sofern sie schlecht ist, aber erklären, die Agitation bleibe infolge der völligen Gleichgültigkeit der Massen gleich Null, heißt unsozialdemokratisch denken.

Oder bedeutet die „völlige Gleichgültigkeit der Massen" keine Gleichgültigkeit gegenüber der Politik des Zarismus überhaupt? D. h. die Massen, die gegenüber den Vorgängen in der Duma gleichgültig sind, sind nicht gleichgültig z. B. gegenüber einer Erörterung der Frage von Straßendemonstrationen, neuen Streiks, Aufständen, der Frage des Innenlebens der revolutionären Parteien überhaupt und der Sozialdemokratie im Besonderen? Es ist eben das Missgeschick des Verfassers, dass er augenscheinlich so denkt, aber genötigt ist, solch offenbaren Unsinn nicht klipp und klar auszusprechen. Könnte er wirklich sagen und beweisen, in den Massen gebe es gegenwärtig nicht die geringste Gleichgültigkeit gegenüber der Politik überhaupt, sondern im Gegenteil ein viel lebhafteres Interesse für aktivere Formen der Politik – so würde die Frage natürlich ganz anders stehen. Läge statt eines Jahres Niedergang, Depression und Zerfall aller sozialdemokratischen und aller Arbeiterorganisationen ein Jahr offenkundigen Masseninteresses gerade für unmittelbar revolutionäre Kampfformen hinter uns, so wären wir die ersten, unsere Fehler einzusehen. Doch nur „parlamentarische Kretins" des Menschewismus, die sich in heuchlerischer Weise den Erfahrungen der in revolutionären Perioden entfalteten Tätigkeit von Marx, Lassalle und Liebknecht verschließen, können sich überhaupt und immer, ohne Rücksicht auf die konkreten Verhältnisse der revolutionären Situation, für die Beteiligung an jeder Vertretungskörperschaft aussprechen. Die Marxisten sind verpflichtet, die Frage der Beteiligung an der III. Duma oder ihres Boykotts wie auch jede politische Frage nicht abstrakt, sondern konkret, unter Berücksichtigung der ganzen revolutionären Situation zu stellen und nicht aus der einen jämmerlich-nackten Erwägung heraus: „Wenn es eine Vertretung gibt, so müssen wir vertreten". Ein lebendiges Interesse der Massen für die Politik würde das Vorhandensein objektiver Voraussetzungen einer heranwachsenden Krise bedeuten, d. h. es würde auf das Vorhandensein eines gewissen Aufschwungs hinweisen, und die Stimmung der Massen würde sich, wenn dieser Aufschwung einen bestimmten Grad erreicht, unausbleiblich in einer Massenaktion Luft machen.

In Bezug auf diese letzte Frage legt der otsowistische Genosse selber folgendes Bekenntnis ab:

Jede Änderung ihrer (der Fraktion) Tätigkeit hängt mit der Änderung eines Regimes zusammen, auf das einzuwirken wir heute nicht die Kraft haben…"

Warum ist der otsowistische Genosse der Meinung, dass wir heute außerstande sind, nicht nur dieses Regime zu verändern, sondern selbst darauf einzuwirken? Augenscheinlich deshalb, weil er als Sozialdemokrat ausschließlich proletarische Massenaktionen im Auge hat, sie aber heute für unmöglich und daher jedes Eingehen auf diese Frage für müßig hält. Aber man sehe, wie er dabei uns einen Strick drehen will aus einem Argument, das in Wirklichkeit gegen den Otsowismus spricht. Er schreibt:

Durchbrecht die Polizeischranken, die unsere Dumaabgeordneten von den Massen absperren, zwingt die Fraktion, schroffer und schärfer aufzutreten, mit einem Wort, verschmelzt ihre Arbeit organisch mit dem Leben des Proletariats – dann werden vielleicht die Arbeiter ihr einige positive Seiten abgewinnen können. Da aber jede Änderung ihrer Tätigkeit eng zusammenhängt mit der Änderung eines Regimes, auf das einzuwirken wir heute nicht die Kraft besitzen, so müssen wir alle Gedanken an Erweiterung und Vertiefung der Fraktionsarbeit sein lassen! …"

Wenn die Erweiterung und Vertiefung der Arbeit der Dumafraktion von der „Durchbrechung der Polizeischranken" abhängig gemacht wird, warum lautet dann die Schlussfolgerung: „lasst den Gedanken an eine Hebung der Fraktionsarbeit sein", nicht aber: lasst den Gedanken an die Durchbrechung der Polizeischranken sein?? Der Verfasser ist offenkundig unlogisch, und seine Gedankengänge sind folgendermaßen zu berichtigen: es ist eine unermüdliche Arbeit an der Hebung der ganzen Parteitätigkeit und der ganzen Fühlung der Partei mit den Massen vonnöten, eine Folge davon wird aber unvermeidlich die Durchbrechung der Polizeischranken überhaupt, im Speziellen aber eine verstärkte Fühlung zwischen Partei und Fraktion, eine verstärkte Beeinflussung der Fraktion durch die Partei sein. Es hat fast den Anschein, als ob der Verfasser von uns, von den Anti-Otsowisten, verlangte, wir sollen „die Polizeischranken durchbrechen" – dann werde er vielleicht auf den Otsowismus verzichten. Ist es aber nicht klar, dass er auf diese Weise den wirklichen Zusammenhang, die gegenseitige Bedingtheit der politischen Erscheinungen auf den Kopf stellt? Vielleicht – sagen wir – hätten Sie, otsowistischer Genosse, recht, wenn die Masse „heute" imstande wäre, nicht nur „auf das Regime einzuwirken" – (jede geglückte politische Demonstration wirkt auf das Regime ein), sondern auch „die Schranken zu durchbrechen", d. h.: wenn die Masse imstande wäre, heute schon die „Schranken" der III. Duma zu durchbrechen, so wäre es vielleicht für die revolutionäre Sozialdemokratie überflüssig, ihre Vertreter in diese Duma zu entsenden. Vielleicht. Aber Sie sagen doch selber, es sei noch nicht so weit; Sie sind selber der Meinung, es bedürfe unter den gegenwärtigen Verhältnissen noch einer ernsten und zähen Vorarbeit, um diese Möglichkeit zur Wirklichkeit zu machen.

Zusammensetzung der Fraktion" – so sagen Sie. Wenn die Abberufung in Vorschlag gebracht würde, um die Zusammensetzung der Fraktion zu ändern, so würde dieses Argument eine Prüfung von dem Standpunkt aus verdienen, ob nach der Demission der heutigen Abgeordneten, bei den Neuwahlen die Zusammensetzung der Fraktion eine Besserung erfahren würde. An nichts dergleichen denkt aber der Verfasser. Er will nicht nur die Abberufung der Dumafraktion, er will überhaupt keine Vertretung der Sozialdemokratie in der III. Duma, er erklärt die Beteiligung an ihr für einen Fehler. Von diesem Standpunkt aus ist die Begründung des Otsowismus mit der „Zusammensetzung der Fraktion" ein für Sozialdemokraten unverzeihlicher Kleinmut und mangelnder Glaube. Unsere Partei hat es erreicht, dass die Schwarzhunderter gezwungen waren, aus den Arbeiterwahlmännern unsere Parteikandidaten, Sozialdemokraten zu wählen. Sollen wir es nunmehr für unmöglich halten, dass diese sozialdemokratischen Arbeiter imstande sind, ihren Sozialismus von der Dumatribüne herab einfach und klar darzulegen? Müssen wir nach mehreren Monaten Kampf gegen bürgerliche „Sachverständige" (siehe die ausgezeichnete Schilderung des von ihnen gestifteten Schadens in dem Brief über die Fraktion, den wir in dieser Nummer veröffentlichen)3 uns für besiegt erklären? Müssen wir feststellen, dass unsere Partei unfähig ist, in der Zeit einer vorübergehenden Depression der Bewegung sozialdemokratische Arbeiter zu stellen, die imstande sind, ihren sozialistischen Standpunkt öffentlich zu vertreten? Das ist keine Politik mehr, sondern Nervosität. Zugegeben, dass unsere Dumafraktion den größten Teil der Schuld daran trägt, denn durch ihre ernsten Fehler und nur durch ihre Fehler steigert sie die Unzufriedenheit mit ihr bis zum Otsowismus. Aber wir lassen uns nicht durch berechtigte Unzufriedenheit zu falscher Politik verleiten. Nein. Wir müssen und wir werden zähe und energisch an der Annäherung zwischen Partei und Fraktion, an der Verbesserung der Fraktion arbeiten. Wir werden nicht vergessen, dass die internationale Sozialdemokratie Beispiele eines viel längeren und viel erbitterteren Kampfes zwischen Fraktion und Partei kennt als jenen, der bei uns zur Zeit der III. Duma geführt wurde. Man erinnere sich der Deutschen. Unter dem Sozialistengesetz kam es bei ihnen so weit, dass die Fraktion eine Reihe schreiender parteifeindlicher, opportunistischer Schritte tat (Bewilligung der Schifffahrtssubvention usw.) Die Partei gab im Ausland ein wöchentlich erscheinendes Zentralorgan heraus und schmuggelte es regelmäßig nach Deutschland ein. Trotz erbitterter polizeilicher Verfolgungen, trotz einer – kraft objektiver Bedingungen – viel weniger revolutionären Situation als der im gegenwärtigen Russland, war die damalige deutsche sozialdemokratische Organisation ungleich breiter und stärker als die heutige Organisation unserer Partei. Die deutsche Sozialdemokratie begann einen langwierigen Kampf gegen ihre Fraktion und führte ihn bis zum Siege. Die sinnlosen Anhänger der „Jungen", die statt an der Hebung der Fraktion zu arbeiten, sich in hysterischen Ausfällen gefielen, nahmen bekanntlich ein sehr schlechtes Ende. Der Sieg der Partei aber kam in der Unterwerfung der Fraktion zum Ausdruck.

Bei uns steht der Kampf zwischen Partei und Fraktion um die Behebung der Fehler der letzteren noch in den Anfängen. Bei uns hat es noch keine Parteikonferenz gegeben, die die Fraktion klar und energisch auf die Notwendigkeit der Änderung ihrer Taktik in gewissen, klar bestimmten Punkten hingewiesen hätte. Wir besitzen noch kein regelmäßig erscheinendes Zentralorgan, das im Namen der Gesamtpartei jeden Schritt der Fraktion verfolgen und sie anleiten würde. Unsere Ortsorganisationen haben auf dem gleichen Arbeitsgebiet – Agitation in den Massen in Verbindung mit jedem Auftreten der Sozialdemokraten in der Duma, nebst Erläuterung jedes dabei begangenen Fehlers – noch gar wenig getan. Und da fordert man uns auf, alles fahren zu lassen, den Kampf als hoffnungslos aufzugeben, auf die Ausnutzung der Dumatribüne in einem Augenblick, wie das Jahr 1908 einer ist, zu verzichten. Nochmal: das ist keine Politik, sondern Nervosität.

Es gibt kein scharfes Auftreten – sagen Sie. In Bezug auf dieses „scharfe Auftreten" ist zweierlei zu unterscheiden: erstens die ungenügende Informiertheit der Partei und zweitens ein überaus ernster prinzipieller Fehler schon in der Art und Weise der Stellung der Frage des „scharfen Auftretens" überhaupt.

Zur ersten Frage ist zu sagen, dass bisher alle, die an der Fraktion sachliche Kritik üben wollten, auf eine Reihe von zweifellos ernsten Fehlern hingewiesen haben (Deklaration; Bewilligung von Millionen an Schwarz; Konferenz mit den Volksdemokraten; Bezeichnung der Religion als Privatsache für die Partei; Schweigen zur Interpellation vom 15. Oktober 1908; Fehlen einer klaren Kritik an den Kadetten usw.). Diese Fehler verschweigen, wie es die Menschewiki tun, die alles, außer der Rede Tschilkins, in bester Ordnung finden, ist größte Vulgarität. Nicht verschweigen müssen wir diese Fehler, sondern sie öffentlich feststellen – in unseren lokalen und nicht lokalen Organen, in jeder Versammlung, in Agitationsflugblättern, die wir anlässlich jedes Auftretens in die Massen werfen sollen. Zur sachlichen Kritik an der Fraktion und zur Informierung der proletarischen Massen über diese Kritik haben wir noch außerordentlich wenig getan. Wir alle müssen diese Arbeit überall in Angriff nehmen, und wenn wir es tun, so werden wir sehen, dass es eine Reihe solcher Reden und insbesondere solcher Formulierungen von Anträgen auf Übergang zur Tagesordnung gibt, die, nach den Anweisungen der ZK-Vertreter und in Übereinstimmung mit ihnen verfasst, eine richtige Darlegung des Programms der SDAPR enthalten und sowohl in den Duma-Protokollen als auch in den Beilagen zur „Rossija" veröffentlicht und von uns nicht einmal zum hundertsten Teil für die Massenagitation ausgenützt sind. Die Fraktion muss man kritisieren, das steht außer Zweifel, ihre Fehler totzuschweigen, wäre unehrlich. Aber wir alle müssen auch die Ortsorganisationen festigen und für die Ausnutzung jedes Auftretens der Fraktion eine entsprechende Agitation entfalten. Nur die Verbindung der einen und der anderen Arbeit ist eine Tätigkeit, die konsequent revolutionärer Sozialdemokraten wirklich würdig ist, nur eine solche Verbindung wird uns helfen, die „faule Situation" zu überwinden und das Eintreten eines neuen Aufschwungs zu beschleunigen.

Weiter. Der Verfasser betont das „Fehlen scharfen Auftretens" und sagt:

Es entsteht die Vorstellung (bei wem? Bei einigen Mitläufern4, die das marxistische Abc nicht verstehen?), dass die Sozialdemokratie sich mit der gegenwärtigen Lage der Dinge ausgesöhnt habe und auf friedliche Kulturarbeit bedacht sei; das Bestehen der Fraktion sei gleichsam ein Beweis dafür geworden, dass die Revolution, wenn nicht in Worten, so … in Wirklichkeit begraben ist. Mag diese Meinung falsch sein, aber widerlegen lässt sie sich nicht durch Argumente, sondern nur durch Tatsachen".

Und die einzige „Tatsache", die der Briefschreiber dabei als „Umgestaltung" der ganzen Taktik der „Betonung" der Einstellung der Sozialdemokratie gegenüber der Duma vor den Massen in Vorschlag bringt, ist die Abberufung der Fraktion! Die Abberufung der Fraktion wird also als „Tatsache" betrachtet, die das „Begraben der Revolution" widerlegt, als „scharfes Auftreten", das die neue Taktik betont!

Wir haben darauf zu erwidern, dass der Verfasser die allgemeine Bedeutung des „scharfen Auftretens" und „scharfer" Losungen nicht richtig versteht. Als wir Bolschewiki im Jahre 1905 die Bulyginsche Duma boykottierten, war diese Losung richtig, nicht weil sie „scharf", sondern weil sie ein richtiger Ausdruck der objektiven Lage war: des wachsenden Aufschwungs, dem der Zarismus durch das Versprechen einer Duma mit beratender Stimme eine andere Richtung zu geben suchte. Als wir im Sommer 1906 die Losung durchführten: „Exekutivkomitee der Linken zur Unterstützung des Aufstandes, nicht aber Unterstützung der Forderung nach einem Kadetten-Kabinett", war sie richtig, nicht weil sie „scharf" war, sondern weil sie die objektive Lage richtig zum Ausdruck brachte; die Ereignisse haben gezeigt, dass die Kadetten den Kampf zu hemmen suchten, dass ihre Geheimverhandlungen mit Trepow im Juni 1906 ein Ausdruck der Regierungsmanöver waren, dass die wirkliche Schlacht auf einem anderen Boden, nach dem Auseinanderjagen der Duma geliefert werden musste und auch geliefert wurde – nämlich auf dem Boden des bewaffneten Kampfes (der Sweaborger und der Kronstädter Aufstand als Abschluss der Soldaten- und Bauernunruhen). Als wir im Jahre 1907 die Losung aufstellten: nicht im Block mit den Kadetten, sondern gegen sie – da war auch diese Losung nicht deshalb richtig, weil sie „scharf" war, sondern weil sie die objektiven Verhältnisse des Augenblicks richtig zum Ausdruck brachte. Sowohl die Wahlen in Petersburg als auch die Gesamtheit der Abstimmungen (und Debatten) in der II. Duma haben gezeigt, dass die „Schwarzhunderter-Gefahr" ein Truggespenst war und dass in Wirklichkeit der Kampf gegen Kadetten und Reaktion und nicht mit den Kadetten gegen die Reaktion gerichtet war.

Es ist unzweifelhaft, dass ein Teil der Leute sich während der Revolution nur wegen der „Schärfe" unserer Losungen uns angeschlossen hat und nicht weil er das marxistische Kriterium der Richtigkeit der sozialdemokratischen Taktik und der sozialdemokratischen Losungen begriff. Dass heute, beim Rückgang der Flut, bei uns nur wahre Marxisten bleiben und bleiben werden, schreckt uns nicht, sondern freut uns im Gegenteil. Wir fordern daher den otsowistischen Genossen auf, sich seinen eigenen Gedankengang recht aufmerksam zu überlegen: das Begraben der Revolution solle nicht durch Worte, sondern durch Tatsachen widerlegt werden — darum müssten wir die Fraktion abberufen! Es ist dies ein grundfalscher Gedankengang. Die Abberufung der Fraktion als Betonung dessen, dass die Revolution noch nicht begraben ist, ist in Wirklichkeit ein Begräbnis jener „Revolutionäre“, die es fertigbringen, eine solche Politik zu treiben, denn solch ein „revolutionärer“ Geist ist der Ausdruck der Ratlosigkeit und Ohnmacht angesichts jener schweren, mühevollen, langsamen Arbeit, die durch die objektiven Verhältnisse unseres „Heute“ vorgeschrieben ist und der man durch keine Worte aus dem Wege gehen kann.

Endlich verweisen wir darauf, dass der otsowistische Genosse selber am Schluss seines Briefes in fünf Punkten einen solchen Plan der unmittelbar vor uns stehenden Arbeit entwirft, der die Aufgaben des Tages richtig zum Ausdruck bringt und seine falsche Taktik widerlegt. Noch einmal: die Praxis des otsowistischen Genossen ist besser als seine Theorie. Er hat zweifellos recht, wenn er die Notwendigkeit einer festen illegalen Organisation betont. Er wird wahrscheinlich nicht auf der höchst unpraktischen „Einsetzung“ der Komiteemitglieder durch das Zentralkomitee bestehen. Vergessen wir nicht, dass der Berufsrevolutionär aus den Reihen der Intellektuellen vom sozialdemokratischen Berufsrevolutionär aus der Arbeiterschaft abgelöst wird oder vielmehr, dass dieser letztere ihm zu Hilfe kommt (das ist und bleibt Tatsache, auch wenn die Menschewiki Gift und Galle dagegen speien). Daher muss und wird die neue illegale Organisation nicht ganz und gar der alten ähnlich sein. Wir glauben auch, dass der Ausdruck „die Parteizellen voneinander loslösen“ im letzten Satz des ersten Punktes ein zufälliger ungeschickter Ausdruck ist, den man nicht allzu genau nehmen soll. Tatsächlich wird die sozialdemokratische illegale Organisation die heute einander entfremdeten Zellen nicht noch mehr voneinander loslösen, sondern sie im Gegenteil einander näher bringen Der otsowistische Genosse hat ganz recht, wenn er die besondere Bedeutung der sozialistischen Propaganda und des „Befragungs-Systems“ der Agitation betont. „Lebendige Fühlung zwischen Masse und Partei“, „Heranziehung der Massen zur Erörterung von Agitationslosungen“ das ist wirklich eine aktuelle Frage. Die Anerkennung einer solchen Aktualität zeigt besser als alle Argumentationen, zeigt allen „erfundenen" (wie der treffende Ausdruck M. Tomskis heißt) Losungen zum Trotz, dass der Lauf der Dinge uns allen, sowohl den Anti-Otsowisten als auch den Otsowisten, ein und dieselbe dringende praktische Aufgabe, ein und dieselbe Losung der ganzen revolutionären Sozialdemokratie stellt: ideologische Festigung des Sozialismus, organisatorische Festigung der illegalen Arbeiterpartei durch Führer aus den Reihen der Arbeiterschaft, Entfaltung einer allseitigen sozialdemokratischen Agitation in den Massen. In dieser Arbeit, wenn wir sie immer und immer einmütiger leisten, werden wir uns alle enger zusammenschließen: besser als Dutzende nackter Ultimatums wird sie unsere Dumafraktion disziplinieren, bessern; sie wird uns lebendige Aufgaben stellen, wird erneut eine kampfesmutige revolutionäre Atmosphäre schaffen, wird uns lehren, das Heranwachsen des Aufschwungs genau zu ermessen und seine Anzeichen festzustellen, wird alle toten, erklügelten, „erfundenen“ otsowistischen Losungen wie Staub verwehen!

1 Mitläufer – bei Lenin deutsch. Die Red.

2 Wortspiel; die Zeitung hieß „Golos Sozialdemokrata" –- „Die Stimme des Sozialdemokraten". Die Red.

3 Die Chronik derselben Nr. 39 des „Proletarij", wo dieser Artikel Lenins veröffentlicht ist, enthält einen „Brief aus Petersburg" („In der sozialdemokratischen Dumafraktion") mit der Unterschrift „N". Der Brief berichtet ausführlich über die Tätigkeit der Fraktion von der Eröffnung der Reichsduma an. Der Verfasser teilt mit, dass für die Arbeiten und Reden der Fraktion die „Sachverständigen" den Grundton angeben. Ihre Zusammensetzung war aber äußerst unbefriedigend. Es waren entweder liquidatorische Menschewiki, wie Potressow und E. Smirnow, oder ganz einfach kleinbürgerliche Demokraten, wie S. Prokopowitsch. „Sachverständige gibt es genug – besagt der „Brief aus Petersburg" –, ja es gibt ihrer sogar zu viel. Dass sie in vielen Fragen bewandert sind, unterliegt keinem Zweifel. Aber man muss es gerade heraus sagen, dass ihre prinzipielle und Partei-Einstellung unter jeder Kritik ist. Wenn ich hier viele dieser Sachverständigen aufzählen würde, so würden die Genossen unter ihnen viele offene literarische Feinde unserer Partei finden Es ist leicht verständlich, welchen Einfluss sie auf die Tätigkeit der Fraktion ausüben, die aber außerstande ist, auf ihre Hilfe zu verzichten."

4 Mitläufern – bei Lenin deutsch. Die Red.

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