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Wladimir I. Lenin 19160900 Krampfhaftes Bemühen, den Opportunismus reinzuwaschen

Wladimir I. Lenin: Krampfhaftes Bemühen, den Opportunismus reinzuwaschen

[Geschrieben Anfang September 1916 Veröffentlicht im Dezember 1916 in „Sbornik Sozialdemokrata Nr. 2 Gez.: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 374-377]

Das Pariser „Nasche Slowo, das unlängst von der französischen Regierung dem Zarismus zuliebe verboten wurde (Grund für das Verbot: bei russischen Soldaten, die in Marseille gemeutert hatten, wurden Exemplare des „Nasche Slowo“ gefunden!), hat sich über die „klägliche“ Rolle des Abgeordneten Tschcheïdse entrüstet. Dieser appellierte im Kaukasus mit Erlaubnis der Behörden in öffentlichen Versammlungen an die Bevölkerung, keine „Unruhen“ zu stiften (bei denen Läden gestürmt werden usw.), sondern Genossenschaften zu schaffen usw. Eine feine Reise eines Auchsozialdemokraten, „die unter dem Protektorat des Gouverneurs, des Obersten, des Pfaffen und des Polizeihauptmanns organisiert wird“ („Nasche Slowo“ Nr. 2031).

L. Martow beeilte sich sofort, im „Bulletin“ der Bundisten2 mit edler Entrüstung gegen diese „Darstellung Tschcheïdses als irgendeines“ (?? nicht „irgendeines“, sondern „eines ebensolchen, wie alle Liquidatoren) „Ertöters erwachenden revolutionären Geistes“ zu protestieren. Die Verteidigung Tschcheïdses durch Martow bewegt sich in zwei Richtungen: einer faktischen und einer prinzipiellen.

Der faktische Einwand besteht darin, dass das „Nasche Slowo“ eine kaukasische Zeitung der Schwarzen Hundert zitiere und dass mit Tschcheïdse gleichzeitig aufgetreten seien: Mikoladse, ein Offizier im Ruhestande, „der in seinem Bezirk als radikale Persönlichkeit bekannt ist“, und der Priester Chundadse, der „im Jahre 1905 wegen Beteiligung an der sozialdemokratischen Bewegung belangt wurde“. („In der georgischen sozialdemokratischen Bewegung“ – fügt Martow hinzu – „ist bekanntlich die Teilnahme von Dorfgeistlichen eine ziemlich übliche Erscheinung.“)

Das ist die „Verteidigung“ Tschcheïdses durch Martow. Eine sehr klägliche Verteidigung. Wenn über das Auftreten Tschcheïdses in einer Kundgebung mit einem Pfaffen eine Zeitung der Schwarzen Hundert geschrieben hat, so widerlegt dies keineswegs die Tatsache, und Martow selbst gibt zu, dass derartige Kundgebungen stattgefunden haben.

Dass Chundadse „im Jahre 1905 belangt wurde“, besagt gar nichts, denn damals wurden auch Gapon und Alexinski „belangt“. Welcher Partei Chundadse und Mikoladse jetzt angehören bzw. mit welcher sie jetzt sympathisieren, ob sie nicht Anhänger der Vaterlandsverteidigung sind, das hätte Martow in Erfahrung bringen müssen, wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre, die Wahrheit zu suchen und nicht zu „advozieren“. „Eine in seinem Bezirk bekannte radikale Persönlichkeit“, diese Phrase bezeichnet bei uns, in unserer Presse, einfach einen liberalen Grundherrn.

Durch sein Geschrei, dass das „Nasche Slowo“ ein „vollkommen falsches Bild“ gegeben habe, will Martow die Wahrheit verdecken, von der er nicht ein Jota widerlegt hat.

Aber das ist noch nicht die Hauptsache. Das dicke Ende kommt nach. Ohne das „Klägliche“ des Verhaltens Tschcheïdses durch seine Einwände hinsichtlich der Tatsachen widerlegt zu haben, erhärtet es Martow durch seine prinzipielle Verteidigung.

Es bleibt unzweifelhaft“ – schreibt Martow – „dass Genosse“ (der Genosse von Potressow und Co.?) „Tschcheïdse es für notwendig hielt, nicht nur gegen die reaktionäre Richtung aufzutreten, die die kaukasischen Unruhen genommen haben, soweit sie3 unter den Einfluss der Schwarzen Hundert geraten sind, sondern auch gegen jene ihrer zerstörenden Formen (Demolieren von Läden, Gewaltanwendung gegen Kaufleute), in denen, allgemein gesprochen, die Unzufriedenheit des Volkes sich auch unabhängig von reaktionären Einflüssen Luft machen kann.“

Man merke: es „bleibt“ unzweifelhaft!

Und Martow schmettert, wie eine Nachtigall, nicht schlechter als W. Maklakow sein Lied: die Hilflosigkeit, die Zersplitterung, „die Zerfahrenheit oder auch das geringe Klassenbewusstsein“ der Massen … „der Weg von ,Revolten' dieser Art führt nicht zum Ziele und ist letzten Endes vom Standpunkt der Interessen des Proletariats schädlich“ …

Einerseits „wäre das eine schlechte revolutionäre Partei, die deshalb einer entstehenden Bewegung den Rücken kehren würde, weil sie von spontanen und unzweckmäßigen Exzessen begleitet ist,“ andererseits „wäre das eine schlechte Partei, die es als ihre revolutionäre Pflicht betrachtete, auf den Kampf gegen diese Exzesse als gegen unzweckmäßige Aktionen zu verzichten …“ „Weil bei uns in Russland … eine organisierte Kampfkampagne gegen den Krieg bis jetzt noch nicht eingeleitet worden ist (?), weil die Zersplitterung der klassenbewussten Elemente des Proletariats es nicht gestattet, unsere Lage mit der von 1904 und 1905 oder auch nur der von 1913 und 1914 (?) zu vergleichen – sind die auf der Grundlage der Teuerung usw. ausbrechenden Volksunruhen zwar höchst wichtige Symptome, können aber (?) nicht unmittelbar (?) zu Quellen jener Bewegung werden (?), die unsere Aufgabe ist. Ihre zweckmäßige ,Ausnützung' kann nur in der Ablenkung der in ihnen zum Ausdruck kommenden Unzufriedenheit in die Bahn irgendeines organisierten Kampfes bestehen, ohne den nicht die Rede davon sein kann, dass die Massen sich revolutionäre Aufgaben stellen. Deshalb ist sogar (!!) die Aufforderung zur Organisierung von Genossenschaften, zum Druck auf die Stadtdumas für eine Festsetzung der Preise und zu ähnlichen Palliativmitteln auf der Grundlage der Entwicklung der Selbsttätigkeit der Massen eine revolutionärere (haha!) und fruchtbringendere Tat als das Kokettieren … leichtsinnige Spekulationen sind direkt verbrecherisch“ usw.

Es fällt schwer, Ruhe zu bewahren, wenn man derart empörende Reden liest. Sogar die bundistische Redaktion fühlte offenbar, dass Martow schwindelt, und versah den Artikel mit dem zweideutigen Versprechen, sie werde auf ihn „noch zurückkommen“ …

Die Frage ist so klar wie nur möglich. Nehmen wir an, Tschcheïdse hatte es mit Unruhen zu tun, deren Form er für unzweckmäßig hielt. Es ist klar, dass es sein Recht und seine Pflicht als Revolutionär gewesen wäre, gegen die unzweckmäßige Form zu kämpfen … in wessen Namen? Im Namen zweckmäßiger revolutionärer Aktionen? Oder im Namen eines zweckmäßigen liberalen Kampfes?

Darum handelt es sich! Und gerade das verwischt Martow!

Herr Tschcheïdse hat die revolutionär zum Durchbruch kommende „Unzufriedenheit der Massen“ „in die Bahnen“ eines liberalen Kampfes (nur friedliche Genossenschaften, nur legaler, vom Gouverneur gebilligter Druck auf die Stadtdumas usw.) und nicht in die Bahnen zweckmäßigen revolutionären Kampfes „gelenkt“. Das ist der Kern, Martow aber schleimt sich zur Verteidigung der liberalen Politik aus!

Ein revolutionärer Sozialdemokrat müsste sagen: das Demolieren eines Krämerladens ist unzweckmäßig, machen wir eine etwas ernsthaftere Demonstration, vielleicht gleichzeitig mit den Arbeitern von Baku, Tiflis und Petersburg, richten wir unseren Hass gegen die Regierung, gewinnen wir für uns den Teil der Armee, der den Frieden wünscht. Hat Herr Tschcheïdse etwa so gesprochen? Nein. Er rief zu einem „Kampf“ auf, der für Liberale annehmbar ist!

Martow hat die „Plattform“ unterzeichnet, die „revolutionäre Massenaktionen“ empfiehlt4 – man muss sich doch vor den Arbeitern als Revolutionär hinstellen! –, und sobald es an Ort und Stelle, in Russland, zu den ersten Ansätzen dieser Aktionen kommt, dann ist ihm jedes Mittel recht, um den „links“-liberalen Tschcheïdse zu verteidigen.

In Russland hat eine organisierte Kampfkampagne gegen den Krieg bis jetzt noch nicht eingesetzt …“ Erstens ist das unwahr. Sie hat schon z. B. in Petersburg mit Flugblättern, Meetings, Streiks, Demonstrationen eingesetzt. Zweitens wenn sie irgendwo in der Provinz noch nicht begonnen hat, dann muss man sie beginnen, Martow aber gibt die von Herrn Tschcheïdse „begonnene“ liberale Kampagne als eine revolutionäre aus.

Ist dies nicht eine Reinwaschung opportunistischer Schändlichkeit?

1 Gemeint ist der Artikel „Eine Reise des Abgeordneten Tschcheïdse“ im „Nasche Slowo“ Nr. 203 (589) vom 3. September 1916, in dem eine Mitteilung der Zeitung der Schwarzhunderter „Kawkaskoje Slowo“ über eine Reise Tschcheïdses nachgedruckt wurde, die dieser zusammen mit dem Geistlichen Chundadse und dem Obersten Fürst Mikoladse nach Unter-Immeretien unternahm, um die durch die Teuerung in Unruhe versetzte Bevölkerung zu beschwichtigen. „Nasche Slowo“ schreibt in diesem Artikel: „Die Rolle des Abgeordneten Tschcheïdse in dieser unter dem Protektorat des Gouverneurs, eines Obersten, eines Geistlichen und des Polizeihauptmanns organisierten Reise ist in höchstem Grade kläglich. Das ist bestenfalls die Rolle eines weichherzigen Liberalen“.

2 Gemeint ist der Artikel „Die Gefahr der Vereinfachung“ von L. Martow im „Informationsblatt des Auslandskomitees des ,Bund“‘ Nr. 1, September 1915.

3 Im russischen Text berichtigt Lenin in Klammern einen Stilfehler des Zitats von Martow. Die Red.

4 Gemeint ist der dritte Brief an die Genossen in Russland, betitelt „Proletariat und Krieg“ (Entwurf einer Plattform für die Organisation des „Augustblocks“, ausgearbeitet vom Auslandssekretariat des OK, Zürich 1915). Der Brief ist von den fünf Sekretären, darunter auch Martow, unterzeichnet und vom November 1915 datiert. Ihm sind Thesen beigefügt. Unter Punkt XIV steht der Satz, dass „die Sozialdemokratie das Proletariat auffordert, seine politischen und wirtschaftlichen Forderungen durchzusetzen mit Hilfe organisierter revolutionärer Massenaktionen“ (in den Thesen gesperrt. Die Red.).

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