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Wladimir I. Lenin 19160208 Rede auf der internationalen Kundgebung in Bern

Wladimir I. Lenin: Rede auf der internationalen Kundgebung in Bern1

8. Februar 1916

[Gehalten in deutscher Sprache. Veröffentlicht in der „Berner Tagwacht“ Nr. 33 vom 9. Februar 1916. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 17-20]

Parteigenossen! Seit mehr als anderthalb Jahren wütet der europäische Krieg. Und mit jedem weiteren Monat, mit jedem weiteren Tage des Krieges wird es für die Arbeitermassen immer klarer, dass das Zimmerwalder Manifest die Wahrheit gesagt hatte, als es sagte, dass die Phrasen von der „Vaterlandsverteidigung“ und dergleichen nichts als Betrug der Kapitalisten sind. Mit jedem Tage wird es klarer, dass es der Krieg der Kapitalisten ist, der großen Räuber, die darüber streiten, welcher von ihnen mehr Beute bekommen soll, mehr Länder berauben, mehr Nationen unterdrücken und unterjochen soll.

Es klingt unwahrscheinlich, besonders für schweizerische Genossen, es ist aber doch wahr, dass auch bei uns in Russland nicht nur der blutige Zarismus, nicht nur die Kapitalisten, sondern auch ein Teil der angeblichen – oder der gewesenen – Sozialisten davon spricht, dass Russland einen „Verteidigungskrieg“ führt, dass Russland nur gegen die deutsche Invasion kämpft. Es ist aber in Wirklichkeit der ganzen Welt bekannt, dass der Zarismus seit Jahrzehnten mehr als hundert Millionen fremder Völker in Russland selbst unterjocht, dass Russland seit Jahrzehnten die Raubpolitik gegen China, Persien, Armenien, Galizien betrieben hat. Weder Russland noch Deutschland noch irgendeine andere Großmacht können vom „Verteidigungskrieg“ sprechen: alle Großmächte führen einen imperialistischen, einen kapitalistischen Krieg, einen Raubkrieg, einen Krieg zur Unterjochung kleiner und fremder Völker, einen Krieg zum Nutzen der Profite der Kapitalisten, die jetzt aus den furchtbaren Leiden der Massen, aus dem Blute der Proletarier das rote Gold ihrer Milliardenprofite schlagen.

Vor vier Jahren, als es schon klar wurde, dass der Krieg kommt, sammelten sich die Vertreter der Sozialisten der ganzen Welt zum internationalen Sozialistenkongress in Basel im November 1912. Es war schon kein Zweifel darüber, dass der kommende Krieg ein Krieg zwischen den Großmächten, zwischen den großen Räubern sein wird, dass die Schuld am Kriege die Regierungen und Kapitalistenklasse aller Großmächte tragen. Und das Basler Manifest, das einstimmig von den sozialistischen Parteien der ganzen Welt angenommen wurde, sprach diese Wahrheit offen aus. Das Basler Manifest erwähnt mit keinem einzigen Worte den „Verteidigungskrieg“, die „Vaterlandsverteidigung“. Es geißelt die Regierungen und die Bourgeoisie aller Großmächte ohne Ausnahme. Es sagt offen, dass der Krieg das größte Verbrechen sein wird, dass die Arbeiter es als Verbrechen ansehen, aufeinander zu schießen, dass die furchtbaren Schrecken des Krieges, die Empörung der Arbeiter dagegen zu einer proletarischen Revolution mit Notwendigkeit führen muss.

Als der Krieg wirklich kam, da sah man, dass der Charakter dieses Krieges in Basel richtig beurteilt worden war. Aber die Sozialisten- und Arbeiterorganisationen folgten nicht einmütig dem Basler Beschlüsse, sondern spalteten sich. In allen Ländern der Welt sehen wir jetzt die Sozialisten- und Arbeiterorganisationen in zwei große Lager geteilt. Der kleinere Teil – namentlich die Führer, die Funktionäre, die Beamten2 – hat den Sozialismus verraten und sich auf die Seite der Regierungen gestellt. Der andere Teil – zu dem die bewussten Arbeitermassen gehören – fährt fort, die Kräfte zu sammeln und gegen den Krieg, für eine proletarische Revolution zu arbeiten.

Die Ansichten dieses zweiten Teiles haben ihren Ausdruck unter anderem im Zimmerwalder Manifest gefunden.

Bei uns in Russland führten seit dem Beginn des Krieges die Arbeiterdeputierten in der Duma einen entschiedenen revolutionären Kampf gegen den Krieg und gegen die zarische Monarchie. Die fünf Arbeiterdeputierten, Petrowski, Badajew, Muranow, Schagow und Samoilow, verbreiteten revolutionäre Aufrufe gegen den Krieg und betrieben eifrig revolutionäre Agitation. Der Zarismus hat diese fünf Deputierten verhaften lassen, vor Gericht gestellt und zur lebenslänglichen Verschickung nach Sibirien verurteilt. Seit Monaten schmachten jetzt in Sibirien die Führer der Arbeiterklasse Russlands. Aber ihr Werk ist nicht zerstört, ihre Arbeit wird in demselben Sinne von klassenbewussten Arbeitern in ganz Russland fortgeführt.

Parteigenossen! Sie haben hier die Vertreter verschiedener Länder gehört, die Ihnen vom revolutionären Kampfe der Arbeiter gegen den Krieg sprachen. Ich will nur noch das Beispiel des größten und reichsten neutralen3 Landes zitieren, nämlich der Vereinigten Staaten Amerikas. Die Kapitalisten dieses Landes schlagen jetzt enorme Profite aus dem europäischen Kriege. Und sie agitieren auch für den Krieg. Sie sagen, Amerika solle sich ebenfalls zur Teilnahme an dem Kriege vorbereiten, Hunderte von Millionen Dollar sollen auf Kosten des Volkes aufgetrieben werden zu neuen Rüstungen und Rüstungen ohne Ende. Und ein Teil der Sozialisten folgt auch in Amerika diesem betrügerischen, diesem verbrecherischen Rufe. Aber ich will Ihnen vorlesen, was der populärste Führer amerikanischer Sozialisten, der Kandidat der sozialistischen Partei in Amerika auf den Posten des Präsidenten der Republik, Genosse Eugen Debs, schreibt:

In der amerikanischen Zeitung „Appeal to Reason“ („Ruf zur Vernunft“), vom 12. September 1915, sagt er:

Ich bin kein kapitalistischer Soldat; ich bin ein proletarischer Revolutionär. Ich gehöre nicht zur regulären Armee der Plutokratie, wohl aber zur irregulären Armee des Volkes. Ich verweigere den Gehorsam, in den Krieg zu gehen für die Interessen der Kapitalistenklasse.

Ich bin gegen jeden Krieg außer einem Kriege. Für diesen einen Krieg stehe ich mit meiner ganzen Seele, und das ist der Weltkrieg für die soziale Revolution. An diesem Kriege bin ich bereit teilzunehmen, wenn die herrschenden Klassen einen Krieg überhaupt notwendig machen wollen.“

So schreibt an die amerikanischen Arbeiter ihr geliebter Führer, der amerikanische Bebel, Genosse Eugen Debs.

Und das beweist Ihnen, Parteigenossen, abermals, dass wirklich in allen Ländern der Welt die Sammlung von Kräften der Arbeiterklasse sich vorbereitet. Die Schrecknisse und Leiden des Volkes im Kriege sind furchtbar. Aber wir dürfen nicht, wir haben keinen Grund, mit Verzweiflung in die Zukunft zu schauen.

Nicht umsonst werden Millionen von Opfern im Kriege und wegen des Krieges fallen. Die Millionen, die darben, die Millionen, die da in Schützengräben ihr Leben opfern, sie leiden nicht nur, sie sammeln auch Kräfte, sie denken über die wahren Ursachen des Krieges nach, sie stählen ihren Willen, sie kommen zu immer klarerer und klarerer revolutionärer Einsicht. Der wachsende Unwille der Massen, die wachsende Gärung, Streiks, Demonstrationen, Proteste gegen den Krieg – dies alles geht in allen Ländern der Welt vor. Und das gibt uns Gewähr, dass nach dem europäischen Kriege die proletarische Revolution gegen den Kapitalismus kommen wird.

1 Die internationale Kundgebung, auf der Lenin diese Rede hielt, fand aus Anlass der erweiterten Tagung der Berner Internationalen Sozialistischen Kommission statt. Außer Lenin sprachen folgende Teilnehmer an der Konferenz: Modigliani (Italien), Rakowski (Rumänien) und Grimm (Schweiz).

2 In der Berner Tagwacht: „der Führer, der Funktionäre, der Beamten“. Die Red.
3 In der Berner Tagwacht: „zentralen“, was sicherlich ein Druckfehler ist. Die Red.
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