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Spaltung der sozialdemokratischen Dumafraktion

Die Ursachen der Meinungsverschiedenheiten in der sozialdemokratischen Fraktion der IV. Reichsduma, die im Oktober-November 1913 zu ihrer Spaltung führten, waren durch das Verhältnis der Bolschewiki und der Liquidatoren im Allgemeinen und durch die verschiedene Auffassung über die Aufgaben der Arbeit der sozialdemokratischen Fraktion in der Duma im Besonderen bedingt. Die „Sieben" der menschewistischen Abgeordneten gehörte in ihren Anschauungen zum liquidatorischen Flügel und suchte auf dem Wege der Majorisierung der bolschewistischen „Sechs" in der Duma eine opportunistische Taktik durchzuführen Die Gruppe der bolschewistischen Abgeordneten bestand aus den folgenden sechs Personen: Badajew vom Gouv. Petersburg, Malinowski vom Gouv Moskau, Petrowski vom Gouv. Jekaterinoslaw, Muranow vom Gouv. Charkow Schagow vom Gouv. Kostroma und Samoilow vom Gouv. Wladimir Die Gruppe der Menschewiki bestand aus sieben Mitgliedern: Chaustow vom Gouv Ufa, Burjanow vom Gouv. Taurien (Krim und das Gebiet von Cherson), Tuljakow vom Dongebiet, Tschchenkeli vom Gebiet Batum-Kars, Skobelew von der russischen Bevölkerung Trauskaukasiens, Tschcheïdse von Tiflis und Manjkow von Irkutsk. Das Übergewicht des menschewistischen Teils der Fraktion über den bolschewistischen wurde noch dadurch verstärkt dass die Menschewiki den Abgeordneten von der „Linken" der PPS, Jagello mit beschließender Stimme in allen Dumafragen und mit beratender Stimme in den Fragen der innerparteilichen Arbeit in die Fraktion aufnahmen.

An der Organisation der Arbeit des bolschewistischen Teils der sozialdemokratischen Dumafraktion nahmen Stalin, J. M. Swerdlow (beide wurden bald verhaftet), Krestinski, Olminski, Saweljew, Rosmirowitsch, Krylenko und Quiring aktiv teil (die drei letztgenannten waren verantwortliche Sekretäre der bolschewistischen Fraktion); ferner N. D. Sokolow (zeitweilig) und W. Lobowa (war eine Zeitlang Sekretärin).

An der Arbeit der menschewistischen Gruppe der Fraktion beteiligten sich Th Dan E Majewski (Gutowski), Lissowski, Alexandrowski, S. M. Sarezkaja (diese war Sekretärin der Gesamtfraktion bis zur Spaltung) u. a.

Schon über die Erklärung, die die sozialdemokratische Dumafraktion in der Duma abgeben sollte, kam es zwischen dem bolschewistischen und den. menschewistischen Teil der Fraktion zu Meinungsverschiedenheiten. Die Menschewiki waren bestrebt, in die Erklärung einige Punkte aus dem Programm des „Augustblocks" hineinzubringen, u. zw. die Forderung der Koalitionsfreiheit, der „national-kulturellen Autonomie" usw. Die Bolschewiki retteten jedoch fast alle wichtigen Punkte des Parteiprogramms wobei es den Menschewiki immerhin gelang, den Punkt über die „national-kulturelle Autonomie" in die Erklärung hineinzubringen.

Anfang April 1913 schrieb Lenin an die in der Dumaarbeit tätigen Genossen nach Petersburg einen Brief (eine Abschrift des Briefes befindet sich im Archiv des Marx-Engels-Lenin-Instituts), in dem es heißt: „Ich teile vollständig eure Meinung über die Wichtigkeit der Kampagne gegen die ,Sieben' und der Initiative der Arbeiter in dieser Kampagne. Die ,Sieben' sind schwankende, an der Peripherie der Partei stehende, aber wenig parteibewusste Menschen. Mit ihnen kam man innerhalb der Duma ein Übereinkommen schließen, um ihnen Richtung zu geben und sie hinter sich herzuführen, aber ihr Liquidatorentum, ihre Charakterlosigkeit und Prinzipienlosigkeit zu vertuschen wäre ein Verbrechen. Man muss die Kampagne gegen die ,Sieben' unterstützen und entfalten."

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem bolschewistischen und dem menschewistischen Teile der Dumafraktion führten bis zum Oktober 1913 noch nicht zur Spaltung. Das war, von anderen Ursachen abgesehen, auch darauf zurückzuführen, dass bei keinem der beiden Teile der Fraktion eine völlig klare politische Linie vorhanden war. Als das ZK in seiner Sitzung im Juli 1913 in Poronin sich mit der Arbeit des bolschewistischen Teils der Fraktion beschäftigte, vermerkte es, dass die „Sechs" nicht genügend energisch als bolschewistisches Ganzes gegen die „Sieben" kämpfe. Es war nun Aufgabe des ZK, die „Sechs" zur Durchführung einer klaren Parteilinie zu bringen.

In der Beratung des ZK im Juli 1913 wurde die Linie der „Sieben" kritisiert und beschlossen, den Versuch zu machen, diejenigen Abgeordneten von der „Sieben", die sich noch nicht vollständig als Liquidatoren herausgestellt hatten (als solche betrachtete man Burjanow, Tuljakow und Chaustow), auf die Seite der Bolschewiki herüber zu ziehen. Gleichzeitig vermerkte das ZK eine Reihe von Mängeln in der Arbeit der „Sechs", die darin zum Ausdruck kamen, dass sie der Leistung von Beiträgen zur Besoldung des liquidatorischen Fraktionssekretärs zugestimmt hatte, ohne einen genügend starken Versuch zu machen, auf diesen Posten einen Bolschewik zu bringen, dass sie zugestimmt hatte, dass dem Bericht über die Tätigkeit der Fraktion der Entwurf Th. Dans zugrunde gelegt wurde usw.

Zu dieser Zeit warf das ZK noch nicht die Frage der Spaltung auf. Das wird dadurch bestätigt, dass das Zentralkomitee im Sommer 1913 beabsichtigte, die Beteiligung der bolschewistischen „Sechs" und auch zum Teil der „Sieben" an Lehrkursen beim ZK in Poronin zu organisieren. Als Vortragenden für diese Kurse, zu denen auch parteitreue Menschewiki herangezogen werden sollten, beschloss Lenin, auch Plechanow einzuladen (das Einladungsschreiben befindet sich im Marx-Engels-Lenin-Institut). Doch wurde dieser Plan nicht verwirklicht.

Zur Zeit der „Sommer"-Beratung hatte sich die Tatsache der Vergewaltigung der „Sechs" durch die „Sieben" in einer Reihe von Fällen gezeigt; so gab die „Sieben" z. B. in solchen Fällen, wo die sozialdemokratische Fraktion in einer Dumadebatte zwei oder mehr Redner stellen konnte, der „Sechs" keine Möglichkeit, einen Redner zu bestimmen; in der Budgetkommission bekam die „Sechs" keine Vertretung usw.

In der Zeit vor der Spaltung im Oktober kam es auch zu größeren Konflikten zwischen der „Sechs" und der „Sieben", z. B. in der Frage der Mitarbeit an der Parteipresse und der Führung der Versicherungskampagne. Einen heftigen Zusammenstoß gab es in der Frage der Gründung der bolschewistischen Zeitschrift „Woprosy Strachowanija". Am 7. Oktober (24. September) 1913 richtete die „Sechs" in Nummer 12 der „Prawda Truda" einen Aufruf an die Arbeiter, in welchem auf die Notwendigkeit der Herausgabe eines konsequent marxistischen Presseorgans für Versicherungsfragen verwiesen wurde, wobei auch der liquidatorische Charakter der Zeitschrift „Strachowanije Rabotschich" vermerkt wurde, an der die „Sieben" mitarbeitete. Als Antwort erschien in Nummer 55 der „Nowaja Rabotschaja Gaseta" vom 25. (12.) Oktober ein Aufruf der „Sieben" an die Arbeiter, in welchem das Verhalten der „Sechs" so wie bei früheren Gelegenheiten als Spaltungstätigkeit bezeichnet wurde.

Alle diese Tatsachen führten dazu, dass die sechs bolschewistischen Dumaabgeordneten mit der Forderung der Gleichberechtigung beider Teile der Fraktion auftraten. Da sie auf die diesbezügliche Forderung nicht rechtzeitig eine Antwort erhielten, veröffentlichten sie diese Forderung in Nummer 13 von „Sa Prawdu" vom 31. (18.) Oktober 1913. Als Antwort erschienen Artikel in der „Nowaja Rabotschaja Gaseta", in denen die Tatsache der Vergewaltigung der „Sechs" in Abrede gestellt wurde. Die offizielle Antwort der „Sieben" wurde von einem Tage auf den andern verschoben. Infolgedessen wandten sich die sechs bolschewistischen Abgeordneten mit einem Aufruf an die Arbeiter. Dieser Aufruf wurde in Nummer 15 der Zeitung „Sa Prawdu" vom 2. November (20. Oktober) 1913 veröffentlicht.

Am 7. November (25. Oktober) erteilte die „Sieben" auf den Vorschlag der Bolschewiki betreffend die Gleichberechtigung eine abschlägige Antwort. Hierauf veröffentlichten die bolschewistischen Abgeordneten zwei Aufrufe „An alle Arbeiter" (abgedruckt in den Nummern 15 und 20 der Zeitung „Sa Prawdu" vom 2. und 8. November (20. und 26. Oktober) 1913, in denen die Geschichte der Spaltung geschildert und die Arbeiter zur Unterstützung der bolschewistischen Abgeordneten in ihrer Dumatätigkeit aufgefordert wurden. In ihrer Antwort an die sieben menschewistischen Deputierten erklärten die sechs bolschewistischen, dass sie sich als selbständige Fraktion konstituieren, wobei sie aber gemeinsames Auftreten auf der Dumatribüne vorschlugen (siehe „Sa Prawdu“ Nummer 22 vom 11. November [29. Oktober] 1913).

Die führende Rolle im Kampfe der „Sechs" für ihre Selbständigkeit in der Duma und für ihre Verwandlung in einen Stützpunkt der Politik der Partei spielte Lenin. Er schlug auch den Namen der selbständigen bolschewistischen Fraktion vor: „Sozialdemokratische Arbeiterfraktion Russlands". Auf die Initiative Lenins hin wurde von der „Prawda" im November 1913 eine Kampagne für die Niederlegung der Mandate durch die „Sieben" begonnen. Diese Kampagne war in der Hauptsache gegen die menschewistischen Abgeordneten Chaustow, Burjanow und Tuljakow gerichtet, die in Arbeiterbezirken gewählt worden waren.

Der Kampf zwischen der „Sechs" und der „Sieben" brachte die breiten Arbeitermassen, besonders in Petersburg, in Aufwallung, In den Arbeiterversammlungen wurde eine ganze Reihe von Diskussionen und Besprechungen über die Lage in der sozialdemokratischen Dumafraktion veranstaltet. Die in der „Prawda" und der „Nowaja Rabotschaja Gaseta" veröffentlichten Resolutionen von Arbeiterorganisationen zeigten deutlich, auf wessen Seite die Sympathien der Arbeitermassen waren.

Dafür waren die Sympathien der gesamten kleinbürgerlichen und bürgerlichen Presse (einschließlich der einflussreichsten Presse, der der Kadetten) unbedingt auf der Seite der „Sieben". Die politische Linie der „Sieben", die das Schwergewicht von der Arbeit der Sozialdemokraten außerhalb der Duma auf die parlamentarische Arbeit verlegte, fand vor allem unter den Kadetten begeisterte Zustimmung.

Eine unbedingte Unterstützung fand die „Sieben" bei den Bundisten und bei den kaukasischen Liquidatoren. Die konsequenten Liquidatoren von der Art Potressows begrüßten sogar die Spaltung. Das Organ Trotzkis, die „Borjba trat gegen die Idee der Föderation in der Dumafraktion, wie das Blatt die Idee der Vereinigung auf der Grundlage der Gleichberechtigung nannte, auf und unterstützte so tatsächlich die „Sieben". Die Leute von der „Wperjod"-Gruppe bezeichneten die Beweggründe, die zur Spaltung der Fraktion geführt hatten, als nichtig. Die Ursache allen Übels erblickten sie in dem Fehlen einer Vertrauen genießenden Parteizentrale, und sie forderten zum Zusammenschluss aller „revolutionären" Elemente der SDAPR auf.

Eine Sympathieerklärung erhielt die „Sieben" vom Parteivorstand der Sozialdemokratie Polens und Litauens, während die Opposition in der polnischen Sozialdemokratie (die „Spalter") eine Broschüre herausgab mit dem Titel: „Für die Sozialdemokratische Arbeiterfraktion Russlands"

Nachdem sich die „Sechs" als selbständige „Sozialdemokratische Arbeiterfraktion Russlands" konstituiert hatte war sie nichtsdestoweniger bestrebt, gemeinsame Kundgebungen mit der „Sieben" durchzuführen.

So fasste sie in der Sitzung vom 17. (4.) November 1913 den Beschluss den Versuch zu machen, in der Duma in der Frage der Arbeiterversicherung gemeinsam mit der „Sieben" aufzutreten; desgleichen lud sie die „Sieben" ein, an der von ihr gebildeten Gruppe zur Ausarbeitung eines Gesetzentwurfes über Arbeitsruhe für Handels- und Industrieangestellte teilzunehmen. Die „Sieben" lehnte jedoch alle diese Vorschläge ab; damit nicht genug, lehnte sie es sogar ab, die entsprechende Interpellation der „Sechs" an die Regierung zu unterschreiben. In seinem in Nummer 74 der „Nowaja Rabotschaja Gaseta" vom 17. (4.) November 1913 veröffentlichten Briefe erklärte Tschcheïdse im Namen der „Sieben", dass sie sich auf keinerlei Vereinbarung mit der „Sechs" einlassen werde. Nachdem die „Sieben" unter Ausnutzung ihrer Stellung als offiziell registrierte Fraktion alle Stellen in den Dumakommissionen besetzt hatte, entschloss sich die „Sechs" zum vollständigen und endgültigen Bruch. In Nummer 36 der Zeitung „Sa Prawdu" vom 28. (15.) November erschien ein „Aufruf des Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Arbeiterfraktion Russlands an alle Arbeiter", in welchem es hieß: „Im Namen der sozialdemokratischen Fraktion teile ich allen Genossen Arbeitern mit, dass wir alle notwendigen Schritte zur formalen Konstituierung als Sozialdemokratische Arbeiterfraktion Russlands in der Reichsduma unternommen haben und dass wir von nun an im Interesse einer größeren Produktivität und zur Vermeidung ständiger Hemmungen in der Dumaarbeit keinerlei neue Vorschläge zur Vereinbarung mit der „Sieben" wegen unserer Dumaarbeit mehr machen werden; sollten von ihrer Seite Vorschläge kommen, so werden wir sie selbstverständlich niemals abschlagen."

Die Erklärung über die Konstituierung der bolschewistischen Dumafraktion wurde dem Präsidium der Duma überreicht.

Der Austritt Burjanows aus der „Sieben" auf den Ratschlag Plechanows hin war ein Schritt zwecks Wiederherstellung der Einheit der sozialdemokratischen Dumafraktion, blieb aber ergebnislos. Die Sieben änderte nichts an ihrer Taktik, und die „Sechs" sah sich gezwungen in ihrem Aufrufe „An alle Arbeiter" vom 19. (6.) Februar 1914 („Putj Prawdy" von demselben Tage) festzustellen, dass „die in der sozialdemokratischen Fraktion verbliebenen sechs Abgeordneten" (Tschcheïdse u. a.) „die auf eine Versöhnung hinzielenden Vorschläge ihres früheren Mitgliedes Burjanow (die von der „Sechs" bis zu einem gewissen Grade unterstützt wurden) abgelehnt haben und so den Weg der Spaltung weitergehen". Der Kampf der „Sieben" gegen die Bolschewiki ging so weit, dass sie in der Sitzung der Duma vom 4. März (19. Februar) 1914 sogar gegen den Beschluss, dem Abgeordneten Petrowski das Wort zu entziehen, nicht protestierte.

Die Frage der Spaltung der Dumafraktion wurde auf das Betreiben des liquidatorischen „Organisationskomitees" (der führenden Zentralstelle, des ZK der Menschewiki) dem Internationalen Sozialistischen Büro zur Beurteilung vorgelegt. [Band 17]

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