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Wladimir I. Lenin 19160229 Über den Frieden ohne Annexionen und die Unabhängigkeit Polens als Tageslosungen in Russland

Wladimir I. Lenin: Über den Frieden ohne Annexionen und

die Unabhängigkeit Polens als Tageslosungen in Russland

[Sozialdemokrat Nr. 51 vom 29. Februar 1916. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 33-36]

Der Pazifismus und die abstrakte Friedenspropaganda stellen eine Form der Irreführung der Arbeiterklasse darFriedenspropaganda ohne gleichzeitige Aufrufung der Massen zu revolutionären Aktionen kann in der gegenwärtigen Zeit nur Illusionen erwecken, kann das Proletariat nur korrumpieren, indem es sein Vertrauen auf die Humanität der Bourgeoisie zu setzen angehalten wird, sie kann das Proletariat nur zu einem Spielzeug in den Händen der Geheimdiplomatie der kriegführenden Länder machen.“

So lautet die Berner Resolution unserer Partei (siehe Nr. 40 des Sozialdemokrat und „Sozialismus und Krieg“).

Die – unter den russischen Emigranten, aber nicht unter den russischen Arbeitern – zahlreichen Gegner unserer Stellung zur Friedensfrage haben sich auch nicht ein einziges Mal die Mühe genommen, diese Thesen zu untersuchen. Theoretisch unwiderlegbar, erhalten sie jetzt, eben infolge der Wendung in den Ereignissen in unserem Lande, eine besonders anschaulich praktische Bestätigung.

Das Blatt der Petersburger Liquidatoren und Legalisten, „Rabotscheje Utro, das ideell vom Organisationskomitee unterstützt wird, hat bekanntlich gleich in der ersten Nummer den sozialchauvinistischen Standpunkt der „Oboronzen“ eingenommen. Es hat die entsprechenden Aufrufe der Petersburger und Moskauer Sozialchauvinisten veröffentlicht.1 In beiden Aufrufen kommt unter anderem die Idee des „Friedens ohne Annexionen“ zum Ausdruck, und in Nr. 2 des „Rabotscheje Utro“ wird diese Parole besonders hervorgehoben, im Sperrdruck gebracht, wird bezeichnet als die „Linie, die dem Lande den Ausweg aus der Sackgasse sichert“. Seht – soll das heißen –, welch eine Verleumdung, uns Chauvinisten zu nennen: wir anerkennen ja vollkommen die durchaus „demokratische“, ja sogar „wahrhaft sozialistische“ Losung des „Friedens ohne Annexionen“.

Kein Zweifel, dass jetzt Nikolaus dem Blutigen diese Losung seiner treuen Untertanen sehr gelegen kommt. Gestützt auf die Großgrundbesitzer und die Bourgeoisie, führte der Zarismus die Armeen ins Feld, um Galizien zu plündern und zu unterjochen (ganz zu schweigen von dem Abkommen über die Aufteilung der Türkei usw.). Die Heere der ebenso räuberischen deutschen Imperialisten haben die russischen Räuber zurückgeschlagen und sie nicht nur aus Galizien, sondern auch aus „Russisch-Polen verdrängt. (Dabei mussten hunderttausende russischer und deutscher Arbeiter und Bauern für die Interessen beider Cliquen ihr Leben auf den Feldern des Todes lassen.) Die Losung „Friede ohne Annexionen“ erwies sich so als ein wunderbares „Spielzeug in den Händen der Geheimdiplomatie“ des Zarismus: seht her, uns ist Unrecht geschehen, man hat uns beraubt, man hat uns Polen genommen, wir sind gegen Annexionen!

Wie sehr den Sozialchauvinisten vom „Rabotscheje Utro“ diese Rolle von Lakaien des Zarismus behagt, geht besonders aus dem Artikel in Nr. 1: „Die polnische Emigration“ hervor.

Die verflossenen Kriegsmonate – lesen wir da – erweckten im Bewusstsein breiter Schichten des polnischen Volkes intensives Verlangen nach Unabhängigkeit.“

Vor dem Kriege war es natürlich nicht vorhanden!!

Im gesellschaftlichen Bewusstsein breiter Schichten der polnischen Demokratie gewann die Masse“ (offenbar ein Druckfehler, es muss heißen: die Idee, der Gedanke od. ä.) „der nationalen Unabhängigkeit Polens die Oberhand … Vor der russischen Demokratie steht jetzt unabweisbar in ihrem ganzen Umfang die polnische Frage.“ … Die „russischen Liberalen“ weigern sich, klare Antworten auf die verdammten Fragen „der Unabhängigkeit Polens“ zu geben …

Nun, natürlich sind Nikolaus der Blutige, Chwostow, Tschelnokow, Miljukow und Konsorten durchaus für die Unabhängigkeit Polens, sie sind jetzt, wo diese Losung in der Praxis die Losung des Sieges über Deutschland bedeutet, das Russland Polen abgenommen hat, aus ganzer Seele dafür. Man beachte, dass die Schöpfer der „Stolypinschen Arbeiterpartei“ vor dem Kriege vorbehaltlos und entschieden gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker und gegen die Freiheit der Lostrennung Polens auftraten und zu diesem edlen Zweck, die Unterdrückung Polens durch den Zarismus zu verteidigen, den Opportunisten Sjemkowski losließen. Jetzt, wo Polen Russland abgenommen worden ist, sind sie für die „Unabhängigkeit“ Polens (von Deutschland – das wird aber diskret verschwiegen … ).

Es soll euch nicht gelingen, die klassenbewussten Arbeiter Russlands zu betrügen, ihr Herren Sozialchauvinisten! Eure „oktobristischeLosung von 1915, die Losung der Unabhängigkeit Polens und des Friedens ohne Annexionen, ist in Wirklichkeit Liebedienerei vor dem Zarismus, der es gerade jetzt, gerade im Februar 1916, brauchen kann, dass sein Krieg durch edle Phrasen über einen „Frieden ohne Annexionen“ (Hindenburg aus Polen vertreiben) und über Unabhängigkeit (von Wilhelm, aber Abhängigkeit von Nikolaus II.) bemäntelt werde.

Ein russischer Sozialdemokrat, der sein Programm nicht vergessen hat, denkt anders. Die russische Demokratie – wird er sagen, wobei er vor allem und mehr als alles die großrussische Demokratie im Auge haben wird, denn sie allein hat in Russland stets die Freiheit der Sprache genossen –, diese Demokratie hat dadurch entschieden gewonnen, dass Russland jetzt Polen nicht unterdrückt, es nicht mit Gewalt zurückhält. Für das russische Proletariat ist es entschieden ein Gewinn, dass es eines der Völker nicht unterdrückt, an dessen Unterdrückung es gestern noch teilnahm. Die deutsche Demokratie hat entschieden verloren: solange das deutsche Proletariat die Unterdrückung Polens durch Deutschland dulden wird, wird seine Rolle schlimmer sein als die eines Sklaven; sie wird die Rolle eines Büttels sein, der hilft, andere in Sklaverei zu halten. Gewonnen haben zweifellos nur die Junker und die Bourgeoisie Deutschlands.

Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung: die russischen Sozialdemokraten müssen aufdecken, dass es ein Betrug des Zarismus am Volke ist, wenn jetzt in Russland die Losungen des „Friedens ohne Annexionen“ oder der „Unabhängigkeit Polens“ aufgestellt werden, denn diese beiden Losungen bedeuten bei der gegebenen Lage das Bestreben, den Krieg fortzusetzen, und rechtfertigen dieses Bestreben. Wir müssen sagen: kein Krieg um Polen! Das russische Volk will nicht von neuem Polens Unterdrücker werden!

Aber wie kann man helfen, Polen von Deutschland zu befreien? Müssen wir dabei nicht helfen? Natürlich müssen wir das, aber nicht durch die Unterstützung des imperialistischen Krieges des zaristischen oder selbst eines bürgerlichen, ja sogar eines bürgerlich-republikanischen Russlands, sondern durch die Unterstützung des revolutionären Proletariats Deutschlands, durch die Unterstützung jener Elemente der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die die konterrevolutionäre Arbeiterpartei der Südekum, Kautsky und Konsorten bekämpfen. Kautsky hat erst vor ganz kurzer Zeit seine konterrevolutionäre Gesinnung besonders anschaulich bewiesen: am 26. November 1915 bezeichnete er Straßenkundgebungen als „Abenteuer“2 (wie Struve vor dem 9. Januar 1905 behauptete, dass es in Russland kein revolutionäres Volk gebe). Am 30. November 1915 aber demonstrierten in Berlin 10.000 Arbeiterinnen!

Jeder, der nicht heuchlerisch, nicht à la Südekum, nicht à la Plechanow, nicht à la Kautsky die Freiheit der Völker, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkennen will, muss gegen den Krieg um die Unterdrückung Polens sein; für die Freiheit der Lostrennung von Russland jener Völker, die Russland jetzt unterdrückt: der Ukraine, Finnlands usw. Jeder, der nicht in Wirklichkeit Sozialchauvinist sein will, muss ausschließlich jene Elemente der sozialistischen Parteien aller Länder unterstützen, die direkt, unmittelbar, schon jetzt für die proletarische Revolution in ihrem eigenen Lande wirken.

Nicht „Friede ohne Annexionen“, sondern Friede den Hütten, Krieg den Palästen, Friede dem Proletariat und den Werktätigen, Krieg der Bourgeoisie!

1 Lenin meint die in Nr. 1 des „Rabotscheje Utro“ vom 15. Oktober 1915 abgedruckte Erklärung der Moskauer Sozialdemokraten, „Anhänger der Landesverteidigung“, und der Petrograder Sozialdemokraten, „Anhänger der Notwehr“. Beide Erklärungen wurden in Auszügen abgedruckt und mit der Bemerkung der Redaktion versehen, dass sie diese Dokumente als Material veröffentlicht, das „gegenwärtig die Arbeiterschaft lebhaft interessiert“, in den Erklärungen heißt es, dass „das Proletariat für die Verteidigung seines Landes eintreten muss“ und dass die Vaterlandsverteidigung eine „Lebensfrage des russischen Proletariats ist“. Daneben heißt es: „Wir stellen die Parole eines Friedens auf“, der „jedem Lande freie politische und ökonomische Entwicklung“ sichert, d. h. eines Friedens ohne Annexionen. In Nr. 2 des „Rabotscheje Utro“ vom 22. Oktober 1915 wird diese Losung im Artikel „Zwei Positionen“ von K. Oranski wiederholt.

2 Lenin meint folgende Stelle des Artikels: „So zerfällt unsere Partei in zwei Extreme, die nichts Gemeinsames haben und deren jedes befreit ist von den Hemmungen, die ihnen bisher im Wege standen bei ihrem Ausgehen auf Abenteuer, die die einen in den Straßen, die anderen an den Fürstenhöfen oder nur in den Vorzimmern der Minister suchen“ (S. 272).

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