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Wladimir I. Lenin 19160531 Über deutschen und nichtdeutschen Chauvinismus

Wladimir I. Lenin: Über deutschen und nichtdeutschen Chauvinismus1

[Woprosy Strachowanija Nr. 5 (54) vom 31. Mai 1916. Nach Sämtliche Werke, Band 19, 1930, S. 75-77]

Die deutschen Chauvinisten haben bekanntlich die überwältigende Mehrheit der Führer und Angestellten der sogenannten sozialdemokratischen – in Wirklichkeit heute nationalliberalen – Arbeiterpartei ihrem Einfluss unterworfen. Inwieweit dasselbe von nichtdeutschen Chauvinisten vom Schlage der Herren Potressow, Lewizki und Konsorten zu sagen ist, werden wir später sehen. Gegenwärtig sind wir gerade bei den deutschen Chauvinisten zu verweilen genötigt, zu denen wir gerechterweise auch Kautsky zählen müssen, wenn auch beispielshalber P. B. Axelrod in seiner deutschen Broschüre sehr eifrig und sehr unrichtig Kautsky verteidigt, indem er ihn als „Internationalisten“ erklärt.

Ein Merkmal des deutschen Chauvinismus ist, dass die „Sozialisten“ – Sozialisten in Gänsefüßchen – von der Unabhängigkeit anderer Völker reden, mit Ausnahme derer, die von ihrer eigenen Nation unterdrückt werden. Ob man dies nun direkt ausspricht oder ob man jene, die das aussprechen, verteidigt, rechtfertigt, deckt – der Unterschied ist nicht sehr wesentlich.

Die deutschen Chauvinisten, zu denen auch Parvus zählt, der das Blättchen „Die Glocke herausgibt, in dem Lensch, Haenisch, Grunwald und diese ganze Kumpanei der „sozialistischen“ Lakaien der deutschen imperialistischen Bourgeoisie schreiben, sprechen z. B. viel und gern von der Unabhängigkeit der von England unterdrückten Völker. Sowohl die Sozialchauvinisten Deutschlands – d. h. Sozialisten des Wortes, Chauvinisten der Tat – als auch die bürgerliche Presse posaunen jetzt mit aller Kraft das schamlose, gewalttätige, reaktionäre u. dergl. Schalten Englands in seinen Kolonien aus. Über die Freiheitsbewegung in Indien schreiben jetzt die deutschen Zeitungen mit schmatzendem Behagen, mit Schadenfreude, Begeisterung und Entzücken.

Die Gründe der Schadenfreude der deutschen Bourgeoisie sind unschwer zu begreifen: sie hofft, ihre militärische Situation zu verbessern, indem sie in Indien Unzufriedenheit und eine Bewegung gegen England entfacht. Natürlich sind diese Hoffnungen eitel, denn eine Beeinflussung des Lebens eines viele Millionen zählenden und sehr eigenartigen Volkes von der Seite her, aus der Ferne, in einer fremden Sprache, eine Beeinflussung, die nicht systematisch, sondern gelegentlich ist, nur für die Dauer des Krieges erfolgen soll, ist unernst, ganz und gar unernst. Es ist mehr Selbstberuhigung der deutschen imperialistischen Bourgeoisie dabei, es ist eher der Wunsch, das deutsche Volk zu beschwindeln, seine Aufmerksamkeit von der Lage im Innern auf äußere Angelegenheiten abzulenken, als die Absicht, auf Indien einzuwirken.

Es drängt sich aber eine allgemein-theoretische Frage auf: Wo ist die Wurzel der Lüge bei derartigen Behauptungen zu suchen, welches ist das sichere, unfehlbar wirkende Mittel zur Entlarvung der Heuchelei der deutschen Imperialisten? Denn die richtige theoretische Antwort auf die Frage, wo die Lüge steckt, dient immer der Entlarvung der Heuchler, die – aus sehr begreiflichen Gründen – geneigt sind, den Betrug zu decken, ihn zu vertuschen, ihn in verschiedene prunkvolle Gewänder von Phrasen über alles mögliche bis zur Phrase selbst vom Internationalismus zu hüllen. In Worten bezeichnen sich als Internationalisten sowohl Lensch als auch Südekum und Scheidemann, alle diese Agenten der deutschen Bourgeoisie, die leider noch Mitglieder der sogenannten deutschen „sozialdemokratischen“ Partei sind. Man muss aber die Menschen nicht nach ihren Worten, sondern nach ihren Taten beurteilen. Das ist längst bekannt.. Wer wird in Russland die Herren Potressow, Lewizki, Bulkin und Konsorten nach ihren Worten beurteilen? Selbstverständlich niemand.

Die Wurzel der Lüge der deutschen Sozialchauvinisten ist, dass sie, während sie ihre Sympathie für die Unabhängigkeit der von ihrem militärischen Gegner, England, unterdrückten Völker nicht laut genug hinausschreien können, bescheiden – mitunter sogar zu bescheiden – über die Unabhängigkeit der von ihrer eigenen Nation unterdrückten Völker hinweggehen.

Nehmen wir z. B. die Dänen. Durch die Annexion Schleswigs riss Preußen, wie alle „Großmächte“, auch einen Gebietsteil mit dänischer Bevölkerung an sich. Die Verletzung der Rechte dieser Bevölkerung war so offensichtlich, dass bei der Abtretung der österreichischen „Rechte“ auf Schleswig an Preußen durch den Prager Frieden vom 23./30. August 1866 im Friedensvertrag festgesetzt wurde, dass die Bevölkerung der nördlichen Bezirke Schleswigs auf dem Wege freier Abstimmung befragt werden solle, ob sie eine Vereinigung mit Dänemark wünsche, und im Falle einer bejahenden Antwort mit Dänemark vereinigt werden sollte. Preußen erfüllte dies nicht und setzte 1878 die Beseitigung der für sie höchst „unangenehmen“ Bestimmung durch.

Fr. Engels, der den Chauvinismus der Großmachtnationen nicht unbeachtet ließ, hat gerade auf diese Verletzung der Rechte eines kleinen Volkes durch Preußen hingewiesen. Aber die heutigen Sozialchauvinisten Deutschlands, die in Worten das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkennen, wie es auch Kautsky in Worten anerkennt, haben in Wirklichkeit nie eine konsequent und entschieden demokratische Agitation für die Befreiung einer unterdrückten Nation entfaltet – sie tun es auch heute nicht –, sobald die Unterdrückung von „ihrer“ Nation ausging. Hier ist der Hund begraben. Das ist der Kern der Frage des Chauvinismus und seiner Entlarvung.

Bei uns hat man viel darüber gewitzelt, dass das „Russkoje Snamja sich oft wie eine „Preußenfahne“2 verhalten hat. Aber die Sache beschränkt sich nicht auf „Russkoje Snamja“, denn im Geiste derselben Prinzipien, wie Lensch, Kautsky und Konsorten, argumentieren bei uns die Herren Potressow, Lewizki u. a. Man werfe nur einen Blick in das „Rabotscheje Utro der Liquidatoren, und man wird genau dieselben „preußischen“, besser gesagt, international chauvinistischen Argumente und Methoden der Beweisführung finden. Chauvinismus bleibt Chauvinismus, welche nationale Marke er auch tragen, mit welchen pazifistischen Phrasen immer er verhüllt sein möge.

1 Der Artikel „Über deutschen und nichtdeutschen Chauvinismus“ erschien in der Zeitschrift „Woprosy Strachowanija“ („Probleme der Krankenversicherung“) mit Gr. gezeichnet, d. h. als Artikel G. Sinowjews. In Nr. 9 ist jedoch folgende Berichtigung enthalten: „Der Artikel ,Über deutschen und nichtdeutschen Chauvinismus' in Nr. 5 (54) unserer Zeitschrift vom 31. Mai 1916 muss die Unterschrift W. I. und nicht Gr. tragen. Die Redaktion bittet den Irrtum zu entschuldigen.“ Das Manuskript dieses Artikels befindet sich im Lenin-Institut.

2 Wortspiel: „Russkoje Snamja“ (Russenfahne) – „Prusskoje Snamja“ (Preußenfahne). Die Red.

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