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Wladimir I. Lenin 19190415 Die III. Internationale und ihr Platz in der Geschichte

Wladimir I. Lenin: Die III. Internationale und ihr Platz in der Geschichte

[Nach Ausgewählte Werke, Band 10, Die Kommunistische Internationale. Moskau 1937, S. 30-38]

Die Imperialisten der Ententeländer halten Russland unter Blockade, in dem Bestreben, die Sowjetrepublik als einen Ansteckungsherd von der kapitalistischen Welt abzuschneiden. Diese Leute, die sich mit dem „demokratischen“ Charakter ihrer Institutionen brüsten, sind vom Hass gegen die Sowjetrepublik derart verblendet, dass sie nicht merken, wie sie sich selbst lächerlich machen. Man bedenke bloß: die vorgeschrittenen, zivilisiertesten und „demokratischsten“ Länder, die bis an die Zähne bewaffnet sind und militärisch die ganze Erde ungeteilt beherrschen, fürchten wie das Feuer eine Ansteckung durch Ideen, die von einem ruinierten, hungernden, rückständigen, ihrer Versicherung nach sogar halbwilden Land ausgeht!

Schon dieser Widerspruch allein öffnet den werktätigen Massen aller Länder die Augen und hilft die Heuchelei der Imperialisten Clemenceau, Lloyd George, Wilson und ihrer Regierungen enthüllen.

Aber nicht nur die Verblendung der Kapitalisten durch ihren Hass gegen die Sowjets sondern auch ihre Balgerei untereinander hilft uns, da sie sie dazu treibt, einander ein Bein zu stellen. Sie sind miteinander eine regelrechte Verschwörung des Totschweigens eingegangen, weil sie mehr als alles die Verbreitung von wahrheitsgemäßen Nachrichten über die Sowjetrepublik überhaupt, besonders aber die Veröffentlichung ihrer offiziellen Dokumente fürchten. Immerhin hat „Le Temps“, das führende Organ der französischen Bourgeoisie, eine Mitteilung über die Gründung der III., Kommunistischen Internationale in Moskau veröffentlicht.

Wir sprechen hierfür dem führenden Organ der französischen Bourgeoisie, diesem Führer des französischen Chauvinismus und Imperialismus, unseren ergebensten Dank aus. Wir sind bereit; der Zeitung „Le Temps“ eine feierliche Adresse als Ausdruck unserer Erkenntlichkeit dafür zu übersenden, dass sie uns so erfolgreich und so geschickt hilft.

Aus der Art, wie die Zeitung „Le Temps“ ihre Mitteilung auf Grund unseres Radios abfasste, sind die Beweggründe, von denen sich dieses Organ des Geldsacks leiten ließ, vollständig klar ersichtlich. Es wollte Wilson einen Nadelstich versetzen: Sehen Sie, was das für Leute sind, mit denen Sie Verhandlungen zulassen! Die Neunmalweisen, die auf Bestellung des Geldsacks schreiben, merken nicht, wie ihr Bestreben, Wilson mit den Bolschewiki zu schrecken, in den Augen der werktätigen Massen zur Reklame für die Bolschewiki wird. Noch einmal: dem Organ der französischen Millionäre unseren ergebensten Dank!

Die Gründung der III. Internationale wurde in einer solchen Weltlage vollzogen, dass keine Verbote, keine kleinlichen und kläglichen Kniffe der Ententeimperialisten oder der Lakaien des Kapitalismus, wie der Scheidemänner in Deutschland, der Renner in Österreich, imstande sind, die Verbreitung der Kunde von dieser Internationale und der Sympathien für sie in der Arbeiterklasse der ganzen Welt zu verhindern. Diese Lage wurde geschaffen durch die allerorts, täglich, ja stündlich offenkundig wachsende proletarische Revolution. Diese Lage wurde geschaffen durch die Rätebewegung unter den werktätigen Massen, die bereits eine solche Kraft gewonnen hat, das sie tatsächlich eine internationale geworden ist.

Die Erste Internationale (1864–1872) legte das Fundament der internationalen Organisation der Arbeiter zur Vorbereitung ihres revolutionären Ansturms gegen das Kapital. Die Zweite Internationale (1889–1914) war eine internationale Organisation der proletarischen Bewegung, deren Wachstum in die Breite ging, was nicht ohne vorübergehende Senkung des revolutionären Niveaus, nicht ohne vorübergehendes Erstarken des Opportunismus ablief, der schließlich zum schmählichen Zusammenbruch dieser Internationale führte.

Die Dritte Internationale entstand in Wirklichkeit im Jahre 1918, als der viel jährige Prozess des Kampfes gegen den Opportunismus und Sozialchauvinismus, besonders während der Kriegszeit, bei einer Reihe von Nationen zur Bildung von kommunistischen Parteien geführt hatte. Formell ist die III. Internationale auf ihrem ersten Kongress im März 1919 in Moskau gegründet worden. Und der am meisten charakteristische Zug dieser Internationale: dass sie berufen ist, die hohen Gebote des Marxismus zu erfüllen und ins Leben umzusetzen und die hundertjährigen Ideale des Sozialismus und der Arbeiterbewegung zu verwirklichen – dieser am meisten charakteristische Zug der III. Internationale trat sofort dadurch in Erscheinung, dass die neue, die dritte „Internationale Arbeiterassoziation“ schon jetzt begonnen hat, gewissermaßen einer Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gleichzukommen.

Die Erste Internationale legte das Fundament zum proletarischen, internationalen Kampf für den Sozialismus.

Die Zweite Internationale war die Epoche der Vorbereitung des Bodens für eine weite, die Massen erfassende Ausbreitung der Bewegung in einer Reihe von Ländern.

Die Dritte Internationale hat die Früchte der Arbeiten der II. Internationale übernommen, ihren opportunistischen, sozialchauvinistischen, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Unrat abgeschüttelt und begonnen, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen.

Der internationale Bund der Parteien, die die revolutionärste Bewegung der Welt, die Bewegung des Proletariats zur Niederwerfung des Jochs des Kapitals leiten, hat jetzt eine an Festigkeit unvergleichliche Basis unter sich: mehrere Sowjetrepubliken, die im internationalen Maßstab die Diktatur des Proletariats, seinen Sieg über den Kapitalismus verkörpern.

Die weltgeschichtliche Bedeutung der III., der Kommunistischen Internationale besteht darin, dass sie begonnen hat, die große Losung Marx’ zu verwirklichen, die Losung, die aus der hundertjährigen Entwicklung des Sozialismus und der Arbeiterbewegung das Fazit zieht, die Losung, die im Begriff Diktatur des Proletariats ihren Ausdruck findet.

Diese geniale Voraussicht, diese geniale Theorie wird zur Wirklichkeit.

Diese lateinischen Worte sind jetzt in alle lebenden Volkssprachen des heutigen Europas, ja mehr noch, in alle Sprachen der Welt übersetzt.

Eine neue Epoche der Weltgeschichte ist angebrochen.

Die Menschheit schüttelt die letzte Form der Sklaverei von sich ab: die kapitalistische oder Lohnsklaverei.

Dadurch, dass sie sich von der Sklaverei befreit, geht die Menschheit zum erstenmal zur wahren Freiheit über.

Wie konnte es geschehen, dass das erste Land, das die Diktatur des Proletariats verwirklichte und eine Sowjetrepublik organisierte, eines der rückständigsten europäischen Länder war? Wir gehen kaum irre, wenn wir sagen, dass gerade dieser Widerspruch zwischen der Rückständigkeit Russlands und seinem „Sprung“ zur höchsten Form des Demokratismus, über die bürgerliche Demokratie hinweg zur Sowjet- oder proletarischen Demokratie –, dass gerade dieser Widerspruch eine der Ursachen war (abgesehen vom Druck opportunistischer Gewohnheiten und philisterhafter Vorurteile, unter dem die Mehrzahl der Führer des Sozialismus stand), die im Westen das Verständnis für die Rolle der Sowjets am meisten erschwerte oder verzögerte.

Die Arbeitermassen erfassten in der ganzen Welt instinktiv die Bedeutung der Sowjets als Kampfmittel des Proletariats und als Form des proletarischen Staates. Doch die durch den Opportunismus verdorbenen „Führer“ fuhren und fahren fort, die bürgerliche Demokratie anzubeten, die sie als „Demokratie“ schlechthin bezeichnen.

Ist es ein Wunder, dass die Verwirklichung der Diktatur des Proletariats vor allem den „Widerspruch“ zwischen der Rückständigkeit Russlands und seinem „Überspringen“ der bürgerlichen Demokratie zeigte? Ein Wunder wäre es, wenn uns die Geschichte die Verwirklichung einer neuen Form der Demokratie ohne eine Reihe von Widersprüchen beschert hätte.

Jeder beliebige Marxist, ja jeder mit der modernen Wissenschaft überhaupt vertraute Mensch würde die Frage: „Ist der gleichmäßige oder harmonisch-proportionelle Übergang der verschiedenen kapitalistischen Länder zur Diktatur des Proletariats wahrscheinlich?“ zweifelsohne verneinend beantworten. In der Welt des Kapitalismus hat es niemals Gleichmäßigkeit, Harmonie oder Proportion gegeben und geben können. Jedes Land hat bald diese, bald jene Seite, bald diesen, bald jenen Zug, bald diese, bald jene Gruppe von Eigenschaften des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung besonders ausgeprägt entwickelt. Der Prozess der Entwicklung ging ungleichmäßig vor sich.

Als Frankreich seine große bürgerliche Revolution durchmachte und damit das ganze europäische Festland zu neuem geschichtlichen Leben erweckte, stand England an der Spitze einer konterrevolutionären Koalition, obwohl es gleichzeitig kapitalistisch weit stärker entwickelt war als Frankreich. Die englische Arbeiterbewegung jener Epoche aber nimmt in genialer Weise vieles vom künftigen Marxismus vorweg.

Als England der Welt die erste, breit angelegte, politisch klar ausgeprägte, proletarisch-revolutionäre wirkliche Massenbewegung, den Chartismus gab, spielten sich auf dem europäischen Festland größtenteils schwache bürgerliche Revolutionen ab, in Frankreich jedoch brach der erste große Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie aus. Die Bourgeoisie zerschlug die verschiedenen nationalen Kolonnen des Proletariats einzeln und in den verschiedenen Ländern auf verschiedene Art.

England hat das Musterbeispiel eines Landes geliefert, in dem, wie Engels sagt, die Bourgeoisie neben einer verbürgerlichten Aristokratie die am meisten verbürgerlichte Oberschicht des Proletariats geschaffen hat. Das vorgeschrittenste kapitalistische Land war im Sinne des revolutionären Kampfes des Proletariats um mehrere Jahrzehnte zurückgeblieben. Frankreich hat gleichsam die Kräfte des Proletariats erschöpft in den beiden heldenmütigen weltgeschichtlich ungemein bedeutsamen Aufständen der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie in den Jahren 1848 und 1871. Die Hegemonie in der Internationale der Arbeiterbewegung ging hierauf in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts an Deutschland über, zu einer Zeit, wo dieses Land ökonomisch sowohl hinter England als auch hinter Frankreich zurückstand. Und als Deutschland ökonomisch diese beiden Länder überholt hatte, d. h. gegen das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, stand an der Spitze der in der ganzen Welt als Muster angesehenen marxistischen Arbeiterpartei Deutschlands ein Häuflein Erzhalunken, das denkbar schmutzigste, Gesindel, das sich den Kapitalisten verkauft hatte, von Scheidemann und Noske bis David und Legien, die abscheulichsten Henker aus den Reihen der Arbeiterschaft, die im Dienst der Monarchie und der konterrevolutionären Bourgeoisie standen.

Die Weltgeschichte geht unaufhaltsam der Diktatur des Proletariats entgegen, aber sie schlägt beileibe nicht glatte, einfache, gerade Wege ein.

Als Karl Kautsky noch Marxist und nicht der Renegat des Marxismus war, zu dem er in seiner Eigenschaft als Vorkämpfer für die Einheit mit den Scheidemännern und für die bürgerliche Demokratie gegen die Sowjet- oder proletarische Demokratie geworden ist, schrieb er zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Artikel:

Die Slawen und die Revolution“1. In diesem Artikel setzte er die historischen Bedingungen auseinander, die die Möglichkeit des Übergangs der Hegemonie in der internationalen revolutionären Bewegung an die Slawen anzeigten.

Es ist so gekommen. Für eine Zeitlang – selbstverständlich bloß für kurze Zeit – ist die Hegemonie in der revolutionären proletarischen Internationale an die Russen übergegangen, so wie sie in den verschiedenen Perioden des 19. Jahrhunderts die Engländer, dann die Franzosen, dann die Deutschen innegehabt haben.

Ich sagte bereits mehr als einmal: im Vergleich zu den fortgeschrittenen Ländern hatten es die Russen leichter, die große proletarische Revolution zu beginnen, es wird ihnen aber schwerer sein, sie fortzusetzen und bis zum endgültigen Sieg im Sinne der vollständigen Organisierung der sozialistischen Gesellschaft durchzuführen.

Wir hatten es leichter, zu beginnen, erstens, weil die für das Europa des 20. Jahrhunderts ungewöhnliche politische Rückständigkeit der Zarenmonarchie eine außerordentliche Kraft des revolutionären Ansturms der Massen hervorrief. Zweitens verursachte die Rückständigkeit Russlands eine eigenartige Verschmelzung der proletarischen Revolution gegen die Bourgeoisie mit der Bauernrevolution gegen die Gutsbesitzer. Damit fingen wir im November (Oktober) 1917 an, und wir hätten damals nicht so leicht gesiegt, wenn wir nicht damit angefangen hätten. Marx hat schon im Jahre 1856, von Preußen sprechend, auf die Möglichkeit einer eigenartigen Verbindung der proletarischen Revolution mit dem Bauernkrieg hingewiesen. Die Bolschewiki verfochten seit Anfang des Jahres 1905 die Idee der revolutionär-demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Drittens hatte die Revolution des Jahres 1905 außerordentlich viel für die politische Schulung der Massen der Arbeiter und Bauern getan, sowohl in dem Sinne, dass ihr Vortrupp sich mit dem „letzten Wort“ des Sozialismus im Westen bekannt machte, als auch im Sinne der revolutionären Aktion der Massen. Ohne eine solche „Generalprobe“ wie die im Jahre 1905 wäre die Revolution von 1917, sowohl die bürgerliche Februarrevolution als auch die proletarische Oktoberrevolution, unmöglich gewesen. Viertens gestatteten die geographischen Verhältnisse Russland, sich länger als andere Länder gegen das äußere Übergewicht der vorgeschrittenen kapitalistischen Staaten zu halten. Fünftens erleichterte das eigenartige Verhältnis des Proletariats zur Bauernschaft den Übergang von der bürgerlichen Revolution zur sozialistischen, es erleichterte den Einfluss des städtischen Proletariats auf die halbproletarischen, armen Schichten der Werktätigen auf dem Lande. Sechstens erleichterten die lange Schule der Streikkämpfe und die Erfahrung der europäischen proletarischen Massenbewegung, bei der tiefgreifenden und sich rasch verschärfenden revolutionären Situation, die Entstehung einer so eigenartigen Form der proletarischen revolutionären Organisation, wie es die Sowjets sind.

Diese Aufzählung ist natürlich nicht vollständig. Aber wir können uns einstweilen auf sie beschränken.

Die Sowjet- oder proletarische Demokratie wurde in Russland geboren. Im Vergleich zur Pariser Kommune ist ein zweiter weltgeschichtlicher Schritt getan worden. Die Proletarier- und Bauernsowjetrepublik hat sich als die erste fest stehende sozialistische Republik der Welt erwiesen. Sie kann als neuer Staatstypus nicht mehr untergehen. Sie steht schon heute nicht mehr allein da.

Um die Arbeit des Aufbaus des Sozialismus weiterzuführen, um sie zu Ende zu führen, ist noch sehr, sehr vieles erforderlich. Die Sowjetrepubliken in Ländern höherer Kulturstufe, mit größerem Gewicht und Einfluss des Proletariats haben alle Aussichten, Russland zu überholen, wenn sie einmal den Weg der Diktatur des Proletariats einschlagen werden.

Die bankrott gewordene II. Internationale stirbt jetzt und verfault bei lebendigem Leibe. Sie spielt tatsächlich die Rolle des Handlangers der internationalen Bourgeoisie. Sie ist die echte gelbe Internationale. Ihre bedeutendsten geistigen Führer, wie Kautsky verherrlichen die bürgerliche Demokratie, die sie als die „Demokratie“ schlechthin oder – was noch dümmer und noch gröber ist – als „reine Demokratie“ bezeichnen.

Die bürgerliche Demokratie hat sich überlebt, wie sich auch die II. Internationale überlebt hat, die eine historisch notwendige, nützliche Arbeit zu einer Zeit geleistet hatte, als die Vorbereitung der Arbeitermassen im Rahmen dieser bürgerlichen Demokratie auf der Tagesordnung stand.

Die allerdemokratischste bürgerliche Republik war und konnte niemals etwas anderes sein als eine Maschine zur Unterdrückung der Werktätigen durch das Kapital, als ein Werkzeug der politischen Macht des Kapitals, die Diktatur der Bourgeoisie. Die demokratische bürgerliche Republik verhieß die Macht für die Mehrheit, proklamierte sie, konnte sie aber niemals verwirklichen, solange das Privateigentum an Grund und Boden und anderen Produktionsmitteln bestand.

Die „Freiheit“ in der bürgerlichen demokratischen Republik war in Wirklichkeit die Freiheit für die Reichen. Die Proletarier und werktätigen Bauern konnten und mussten diese „Freiheit“ ausnutzen, um ihre Kräfte zum Sturz des Kapitals, zur Überwindung der bürgerlichen Demokratie vorzubereiten, aber die werktätigen Massen konnten in der Regel unter dem Kapitalismus die Demokratie nicht wirklich ausnutzen.

Zum ersten Mal in der Welt hat die Sowjet- oder proletarische Demokratie eine Demokratie für die Massen, für die Werktätigen, für die Arbeiter und Kleinbauern geschaffen.

Es hat in der Welt noch niemals eine solche Staatsmacht der Mehrheit der Bevölkerung, eine tatsächliche Macht dieser Mehrheit gegeben, wie sie die Sowjetmacht ist.

Sie unterdrückt die „Freiheit“ der Ausbeuter und ihrer Helfershelfer, sie nimmt ihnen die „Freiheit“ auszubeuten, die „Freiheit“, sich am Hunger zu bereichern, die „Freiheit“ des Kampfes für die Wiederherstellung der Macht des Kapitals, die „Freiheit“ der Verständigung mit der ausländischen Bourgeoisie gegen die Arbeiter und Bauern des eigenen Landes.

Mögen die Kautsky eine solche Freiheit verteidigen. Dazu muss man ein Renegat des Marxismus, ein Renegat des Sozialismus sein.

In nichts ist der Bankrott der geistigen Führer der II. Internationale, von der Art Hilferdings und Kautskys, so krass zum Ausdruck gekommen wie in ihrem völligen Unvermögen, die Bedeutung der Sowjet- oder proletarischen Demokratie, ihr Verhältnis zur Pariser Kommune, ihren Platz in der Geschichte, ihre Notwendigkeit als Form der Diktatur des Proletariats zu begreifen.

In Nummer 74 der Zeitung „Die Freiheit“, des Organs der „unabhängigen“ (lies: spießbürgerlichen, philisterhaften, kleinbürgerlichen) deutschen Sozialdemokratie, wurde am 11. Februar 1919 ein Aufruf „An das revolutionäre Proletariat Deutschlands“ veröffentlicht.

Dieser Aufruf ist vom Vorstand der Partei und ihrer ganzen Fraktion in der „Nationalversammlung“, der deutschen „Konstituante“, unterzeichnet.

Dieser Aufruf beschuldigt die Scheidemänner des Bestrebens, die Räte abschaffen zu wollen, und schlägt – Spaß beiseite! – vor, die Räte mit der Konstituante zu verknüpfen, den Räten gewisse staatliche Rechte, einen gewissen Platz in der Verfassung einzuräumen.

Die Diktatur der Bourgeoisie mit der Diktatur des Proletariats versöhnen, sie miteinander vereinigen! Wie einfach! Welch eine genial-philisterhafte Idee!

Es ist bloß schade, dass in Russland unter Kerenski die vereinigten Menschewiki und Sozialrevolutionäre, diese kleinbürgerlichen Demokraten, die sich für Sozialisten halten, sie bereits erprobt haben.

Wer bei der Lektüre von Marx nicht begriffen hat, dass in der kapitalistischen Gesellschaft in jedem kritischen Moment, bei jedem ernsten Zusammenstoß der Klassen entweder die Diktatur der Bourgeoisie oder die Diktatur des Proletariats möglich ist, der hat weder von der ökonomischen noch von der politischen Lehre Marx’ etwas begriffen.

Aber die genial-philisterhafte Idee der Hilferding, Kautsky und Konsorten von der friedlichen Vereinigung der Diktatur der Bourgeoisie mit der Diktatur des Proletariats bedarf einer besonderen Untersuchung, will man die ökonomischen und politischen Ungereimtheiten, die in diesem höchst merkwürdigen und komischen Aufruf vom 11. Februar abgelagert sind, erschöpfen. Dies muss einem späteren Artikel vorbehalten bleiben.

15. April 1919

1 Der Artikel erschien in der „Iskra“, Nr. 18 vom 10. März 1902. Ausführlicher befasst sich Lenin mit diesem Artikel im ersten Kapitel seiner Arbeit „Der .Radikalismus*, die Kinderkrankheit im Kommunismus“.

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