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Wladimir I. Lenin 19191030 Ökonomie und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats

Wladimir I. Lenin: Ökonomie und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats1

[Ausgewählte Werke, Band 8. Der Kriegskommunismus 1918-1920. Zürich 1935, S. 3-14]

Zum zweijährigen Jubiläum der Sowjetmacht beabsichtigte ich eine kleine Broschüre über das in der Überschrift angegebene Thema zu schreiben. Von der Tagesarbeit bedrängt, habe ich es jedoch bisher nicht vermocht, über die Vorbereitung einzelner Teile hinauszukommen. Daher habe ich beschlossen, den Versuch einer knappen, auszugsweisen Darlegung der meines Erachtens wesentlichsten Gedanken über diese Frage zu machen. Selbstverständlich bringt der auszugartige Charakter der Darlegung viele Unbequemlichkeiten und Mängel mit sich. Vielleicht lässt sich aber durch einen kurzen Artikel für eine Zeitschrift nichtsdestoweniger ein bescheidenes Ziel erreichen: die Problemstellung und die Unterlage für die Erörterung der Frage durch die Kommunisten verschiedener Länder zu geben.

I

Es unterliegt theoretisch keinem Zweifel, dass zwischen dem Kapitalismus und dem Kommunismus eine gewisse Übergangsperiode liegt. Diese muss zwangsläufig die Züge oder Eigenschaften dieser beiden Formationen gesellschaftlicher Wirtschaft vereinen. Diese Übergangsperiode kann nur eine Periode des Kampfes zwischen dem sterbenden Kapitalismus und dem entstehenden Kommunismus oder, mit anderen Worten, zwischen dem besiegten, aber nicht vernichteten Kapitalismus und dem geborenen, aber noch ganz schwachen Kommunismus sein.

Nicht nur für den Marxisten, sondern auch für jeden gebildeten Menschen, der einigermaßen mit der Entwicklungstheorie bekannt ist, muss die Notwendigkeit einer ganzen Geschichtsepoche, die diese Grundzüge einer Übergangsperiode aufweist, von selbst klar sein. Und doch zeichnen sich alle Betrachtungen über den Übergang zum Sozialismus, die wir von den gegenwärtigen Vertretern der kleinbürgerlichen Demokratie zu hören bekommen (und das sind trotz ihrer angeblich sozialistischen Etikette alle Vertreter der II. Internationale, solche Leute wie MacDonald und Jean Longuet, Kautsky und Friedrich Adler mit inbegriffen), durch völliges Vergessen dieser augenfälligen Wahrheit aus. Den kleinbürgerlichen Demokraten ist der Widerwille gegen den Klassenkampf eigen, sie träumen davon, wie man ohne ihn auskommen könnte, sie sind bestrebt, auszugleichen und zu versöhnen, die scharfen Kanten abzuschleifen. Daher wollen solche Demokraten entweder von keinerlei Anerkennung einer ganzen historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus etwas wissen, oder sie halten es für ihre Aufgabe, Pläne der Versöhnung der beiden kämpfenden Kräfte auszudenken, anstatt den Kampf einer dieser Kräfte zu leiten.

II

In Russland muss sich die Diktatur des Proletariats infolge der sehr großen Rückständigkeit und Kleinbürgerlichkeit unseres Landes unvermeidlich durch einige Eigentümlichkeiten im Vergleich mit den vorgeschrittenen Ländern auszeichnen. Die Hauptkräfte – und die Hauptformen der gesellschaftlichen Wirtschaft – sind aber in Russland die gleichen wie in jedem beliebigen kapitalistischen Land, so dass sich diese Eigentümlichkeiten jedenfalls nicht auf die Hauptsache beziehen können.

Diese Hauptformen der gesellschaftlichen Wirtschaft sind: der Kapitalismus, die kleine Warenproduktion, der Kommunismus. Diese Hauptkräfte sind: die Bourgeoisie, das Kleinbürgertum (besonders die Bauernschaft), das Proletariat.

Die Ökonomie Russlands in der Epoche der Diktatur des Proletariats stellt den Kampf der die ersten Schritte machenden, im einheitlichen Maßstab eines Riesenstaates kommunistisch vereinten Arbeit gegen die kleine Warenproduktion und gegen den erhalten gebliebenen, aber auch gegen den auf der Grundlage der kleinen Warenproduktion neu entstehenden Kapitalismus dar.

Die Arbeit ist in Russland insofern kommunistisch vereint, als erstens das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft ist und zweitens die proletarische Staatsmacht in nationalem Rahmen die Großproduktion auf staatlichem Grund und Boden und in Staatsunternehmen organisiert, die Arbeitskräfte auf die verschiedenen Wirtschaftszweige und Unternehmen aufteilt, die großen Mengen der dem Staat gehörenden Gebrauchsgegenstände unter die Werktätigen verteilt.

Wir reden von den „ersten Schritten“ des Kommunismus in Russland (wie es auch in unserem im März 1919 angenommenen Parteiprogramm heißt), denn alle diese Bedingungen sind bei uns nur zum Teil verwirklicht, oder mit anderen Worten: die Verwirklichung dieser Bedingungen befindet sich erst im Anfangsstadium. Auf einmal, mit einem revolutionären Schlage wurde getan, was überhaupt auf einmal getan werden konnte: z. B. wurde gleich am ersten Tag der Diktatur des Proletariats, am 8. November (26. Oktober) 1917, das Privateigentum an Grund und Boden ohne Entschädigung der Großgrundbesitzer abgeschafft2, die großen Grundbesitzer wurden expropriiert, Im Laufe einiger Monate wurden, ebenfalls ohne Entschädigung, fast alle Großkapitalisten, Besitzer von Fabriken und Werken, Aktiengesellschaften, Banken, Eisenbahnen usw. expropriiert. Die staatliche Organisation der Großproduktion in der Industrie, der Übergang von der „Arbeiterkontrolle“ zur „Arbeiterverwaltung“ in den Fabriken und Werken, auf den Eisenbahnen – das ist in den Haupt- und Grundzügen bereits verwirklicht, in der Landwirtschaft ist es jedoch kaum begonnen („Sowjetwirtschaften“, große Wirtschaften, vom Arbeiterstaat auf staatlichem Grund und Boden organisiert). Ebenso ist die Organisierung von verschiedenartigen Genossenschaften der kleinen Landwirte als Übergang vom warenproduzierenden Kleinbetrieb in der Landwirtschaft zur kommunistischen Landwirtschaft kaum begonnen worden*. Dasselbe lässt sich von der staatlichen Organisation der Verteilung der Erzeugnisse an Stelle des Privathandels sagen, d. h. von der staatlichen Aufbringung und Hinschaffung des Getreides in die Städte, der Industrieerzeugnisse aufs flache Land. Weiter unten werde ich die vorliegenden statistischen Angaben zu dieser Frage anführen.

Die Bauernwirtschaft bleibt nach wie vor ein warenproduzierender Kleinbetrieb. Hier haben wir eine außerordentlich breite und sehr tief und fest wurzelnde Basis des Kapitalismus. Auf dieser Basis erhält sich der Kapitalismus und entsteht aufs Neue – im heftigsten Kampf gegen den Kommunismus. Die Formen dieses Kampfes sind Schleichhandel und Spekulation, die gegen die staatliche Beschaffung von Getreide (und ebenso auch anderer Produkte), überhaupt gegen die staatliche Verteilung der Produkte gerichtet sind.

III

Um diese abstrakten theoretischen Behauptungen zu illustrieren, wollen wir konkrete Daten anführen.

Die staatliche Aufbringung von Getreide in Russland ergab nach den Angaben des Volkskommissariats für Ernährungswesen vom 1./14. August 1917 bis zum 1. August 1918 etwa 30 Millionen Pud, im folgenden Jahr etwa 110 Millionen Pud. Für die drei ersten Monate der folgenden Kampagne (1919–1920) wird die Beschaffung wahrscheinlich etwa 45 Millionen Pud erreichen, gegen 37 Millionen Pud für dieselben Monate (August–Oktober) im Jahre 1918.

Diese Ziffern reden deutlich von einer langsamen, aber beständigen Besserung der Lage im Sinne des Sieges des Kommunismus über den Kapitalismus. Diese Besserung wird trotz der in der ganzen Welt unerhörten Schwierigkeiten erreicht, die der Bürgerkrieg mit sich bringt, den die russischen und ausländischen Kapitalisten unter Anspannung aller Kräfte der mächtigsten Reiche der Welt organisieren.

Darum bleibt, wie die Bourgeois aller Länder und ihre offenen und versteckten Helfershelfer (die „Sozialisten“ der II. Internationale) auch lügen und uns verleumden mögen, eines zweifellos: vom Standpunkt des wirtschaftlichen Hauptproblems ist der Diktatur des Proletariats bei uns der Sieg des Kommunismus über den Kapitalismus gesichert. Die Bourgeoisie der ganzen Welt tobt und wütet ja gerade deshalb gegen den Bolschewismus, organisiert militärische Invasionen, Verschwörungen und ähnliches gegen die Bolschewiki, weil sie sehr wohl versteht, dass unser Sieg bei dem Umbau der gesellschaftlichen Wirtschaft unvermeidlich ist, wenn man uns nicht durch militärische Kraft erdrückt. Und uns auf diese Weise zu erdrücken, wird ihr nicht gelingen.

Wie weit wir den Kapitalismus in dieser kurzen Frist, die uns gegeben war, und unter den in der ganzen Welt nie dagewesenen Schwierigkeiten, unter denen wir zu wirken hatten, bereits besiegt haben, ist aus den folgenden zusammenfassenden Zahlen ersichtlich. Das Statistische Zentralamt hat soeben die Angaben über Produktion und Konsumtion an Brotgetreide nicht für ganz Sowjetrussland, sondern für 26 Gouvernements zur Veröffentlichung vorbereitet.

Es ergaben sich die folgenden Endziffern:

26 Gouvernements

Sowjetrusslands

Bevölkerung (in Millionen)

Produktion von Getreide ohne Saatgut und Futtergetreide (in Mill. Pud)

Getreide herangeschafft

Gesamtmenge des Getreides, über das d.

Bevölkerung verfügte

(in Mill. Pud)

Konsum an Getreide pro Kopf (in Pud)

durch das Ernährungs­kommissariat

durch Schleich­händler

in Mill. Pud

Überschuss­gouvernements

Zuschuss­gouvernements

Städte 4,4

Dörfer 28,6

Städte 5,9

Dörfer 13.8

625,4

114,0

20,9

20,0

12,1

20,6

20,0

27,8

41,5

481,8

40,0

151,4

9,5

16,9

6,8

11,0

Insgesamt (26 Gouv.)

52,7

739,4

53,0

68,4

714,7

13,6

Also liefert den Städten ungefähr die Hälfte des Brotgetreides das Ernährungskommissariat, die andere Hälfte der Schleichhandel. Eine genaue Untersuchung der Ernährung der Stadtarbeiter im Jahre 1918 ergab gerade diese Proportion. Dabei zahlt der Arbeiter für das vom Staat gelieferte Brot zehnmal weniger als den Schleichhändlern. Der Spekulationspreis des Brotes ist zehnmal höher als der staatliche Preis. Das beweist die genaue Untersuchung der Arbeiterbudgets.

IV

Die angeführten Ziffern ergeben, wenn man darüber gründlich nachdenkt, ein genaues Material, das alle Hauptzüge der gegenwärtigen Ökonomie Russlands wiedergibt.

Die Werktätigen sind von den Unterdrückern und Ausbeutern – den Gutsherren und den Kapitalisten, von denen sie jahrhundertelang geknechtet wurden, befreit. Dieser Schritt vorwärts zur wahren Freiheit und wahren Gleichheit, ein Schritt, wie ihn die Welt an Tragweite, an Ausmaßen, an Schnelligkeit nie gesehen hat, wird von den Anhängern der Bourgeoisie (einschließlich der kleinbürgerlichen Demokraten) nicht in Betracht gezogen; sie reden von Freiheit und Gleichheit im Sinne der parlamentarischen bürgerlichen Demokratie und erklären diese verIogenerweise als „Demokratie“ schlechthin oder als „reine Demokratie“ (Kautsky).

Die Werktätigen meinen aber gerade die wahre Gleichheit, die wahre Freiheit (die Befreiung von den Gutsherren und den Kapitalisten), und daher treten sie so fest für die Sowjetmacht ein.

Im Bauernlande haben von der Diktatur des Proletariats als erste, am meisten und sofort die Bauern im Allgemeinen gewonnen. Der Bauer hat in Russland unter den Gutsherren und Kapitalisten gehungert. Der Bauer hat im Laufe langer Jahrhunderte unserer Geschichte noch niemals die Möglichkeit gehabt, für sich zu arbeiten: er hungerte und gab den Kapitalisten, für die Städte und fürs Ausland, hunderte Millionen Pud Getreide her. Unter der Diktatur des Proletariats arbeitete der Bauer zum ersten Mal für sich und nährte sich besser als der Städter. Zum ersten Mal sah der Bauer die wirkliche Freiheit: die Freiheit, sein eigenes Brot zu essen, die Befreiung vom Hunger. Die Gleichheit bei der Verteilung des Grund und Bodens ist, wie bekannt, maximal: in den meisten Fällen teilen die Bauern den Grund und Boden „nach Essern“ auf.

Sozialismus ist Abschaffung der Klassen.

Um die Klassen abzuschaffen, muss man erstens die Gutsherren und die Kapitalisten stürzen. Diesen Teil der Aufgabe haben wir erfüllt, aber es ist nur ein Teil und dabei nicht der schwierigste. Um die Klassen abzuschaffen, muss man zweitens den Unterschied zwischen dem Arbeiter und dem Bauern aufheben, alle zu Arbeitenden machen. Das kann nicht auf einmal geschehen. Das ist eine unvergleichlich schwierigere und notwendigerweise eine langwierige Aufgabe. Das ist eine Aufgabe, die sich nicht durch den Sturz irgendeiner Klasse lösen lässt. Man kann sie nur durch die organisatorische Umgestaltung der ganzen gesellschaftlichen Wirtschaft, durch den Übergang von dem einzelnen, isolierten warenproduzierenden Kleinbetrieb zum gesellschaftlichen Großbetrieb lösen. Ein solcher Übergang ist notwendigerweise außerordentlich langwierig. Einen solchen Übergang kann man durch übereilte und unvorsichtige administrative und gesetzgeberische Maßnahmen nur verlangsamen und erschweren. Dieser Übergang kann nur dadurch beschleunigt werden, dass man den Bauern eine Hilfe gewährt, die ihm die Möglichkeit gibt, die ganze landwirtschaftliche Technik in einem gewaltigen Ausmaße zu verbessern, sie von Grund aus umzugestalten.

Um den zweiten, den schwierigsten Teil der Aufgabe zu lösen, muss das Proletariat, das die Bourgeoisie besiegt hat, unbeirrt an dieser Hauptlinie seiner Politik gegenüber der Bauernschaft festhalten: das Proletariat muss zwischen dem werktätigen Bauern und dem bäuerlichen Eigentümer, zwischen dem arbeitenden und dem handeltreibenden Bauern, zwischen dem Bauern, der sich plagt, und dem Bauern, der spekuliert, einen Unterschied machen, eine Grenze ziehen.

In dieser Abgrenzung liegt das ganze Wesen des Sozialismus.

Und es ist kein Wunder, dass Sozialisten in Worten, kleinbürgerliche Demokraten in der Tat (die Martow und Tschernow, die Kautsky und Co.) dieses Wesen des Sozialismus nicht verstehen.

Die Abgrenzung, auf die hier hingewiesen wurde, ist sehr schwierig, denn im lebendigen Leben sind alle Eigenschaften des „Bauern“, wie verschieden, wie widersprechend sie auch sind, zu einem Ganzen verschmolzen. Und doch ist eine Abgrenzung möglich, und nicht nur möglich, sondern sie ergibt sich unvermeidlich aus den Bedingungen der bäuerlichen Wirtschaft und des bäuerlichen Lebens. Den werktätigen Bauern haben die Gutsherren, die Kapitalisten, die Händler, die Spekulanten und ihr Staat, einschließlich der allerdemokratischslen bürgerlichen Republiken, jahrhundertelang unterdrückt. Der werktätige Bauer hat im Laufe von Jahrhunderten Hass und Feindseligkeit gegen diese Unterdrücker und Ausbeuter in sich großgezogen, und diese „Erziehung“, vom Leben geboten, zwingt den Bauern, ein Bündnis mit dem Arbeiter gegen den Kapitalisten, gegen den Spekulanten, gegen den Händler zu suchen. Und zugleich macht das ökonomische System, das System der Warenwirtschaft, den Bauern unausweichlich (nicht immer, aber in den allermeisten Fällen) zum Händler und Spekulanten.

Die von uns oben angeführten statistischen Daten zeigen anschaulich den Unterschied zwischen dem werktätigen und dem spekulierenden Bauern. Da ist der Bauer, der im Jahre 1918/1919 für die hungernden Arbeiter der Städte 40 Millionen Pud Getreide zu festen, staatlichen Preisen in die Hände der Staatsorgane lieferte, trotz aller Mängel dieser Organe, deren sich die Arbeiterregierung sehr wohl bewusst ist, die aber in der ersten Periode des Übergangs zum Sozialismus nicht beseitigt werden können. Dieser Bauer ist ein werktätiger Bauer, ein vollberechtigter Genosse des sozialistischen Arbeiters, sein zuverlässigster Verbündeter, sein leiblicher Bruder im Kampf gegen das Joch des Kapitals. Und da haben wir jenen Bauern, der heimlich 40 Millionen Pud Getreide zu einem zehnmal höheren Preis als dem vom Staat festgesetzten verkaufte, der die Not und den Hunger des städtischen Arbeiters ausnutzte, den Staat betrog, überall Betrug, Räuberei, Gaunerstreiche vermehrte und hervorrief; dieser Bauer ist ein Spekulant, ein Verbündeter des Kapitalisten, ein Klassenfeind des Arbeiters, ein Ausbeuter. Denn Überschüsse an Getreide haben, das auf dem Grund und Boden des Staates mit Geräten geerntet wurde, zu deren Erzeugung auf diese oder jene Weise nicht nur die Mühe des Bauern, sondern auch die des Arbeiters usw. verwendet wurde, Überschüsse an Getreide haben und damit spekulieren heißt ein Ausbeuter des hungernden Arbeiters sein.

Ihr verletzt Freiheit, Gleichheit, Demokratie, schreit man uns von allen Seiten zu, wobei man auf die Ungleichheit des Bauern und des Arbeiters in unserer Verfassung, auf die Auseinanderjagung der Konstituante, auf die gewaltsame Wegnahme der Getreideüberschüsse und dergleichen mehr hinweist. Wir antworten: es hat in der Welt keinen Staat gegeben, der so viel zur Beseitigung jener tatsächlichen Ungleichheit, jener tatsächlichen Unfreiheit getan hat, unter der der werktätige Bauer jahrhundertelang gelitten hat. Doch eine Gleichheit mit dem spekulierenden Bauern werden wir niemals anerkennen, ebenso wie wir keine „Gleichheit“ des Ausbeuters mit dem Ausgebeuteten, des Satten mit dem Hungrigen, keine „Freiheit“ jenes, diesen auszuplündern, anerkennen. Und jene gebildeten Leute, die diesen Unterschied nicht verstehen wollen, werden wir wie Weißgardisten behandeln, auch wenn sich diese Leute Demokraten, Sozialisten, Internationalisten, Kautskys. Tschernows, Martows nennen.

V

Sozialismus ist Abschaffung der Klassen. Die Diktatur des Proletariats hat für diese Abschaffung alles getan, was sie tun konnte. Aber auf einmal kann man die Klassen nicht abschaffen

Und die Klassen sind geblieben und werden während der Epoche der Diktatur des Proletariats bestehen bleiben. Die Diktatur wird unnötig werden, wenn die Klassen verschwinden werden. Sie werden nicht ohne die Diktatur des Proletariats verschwinden.

Die Klassen sind geblieben, aber jede Klasse hat sich in der Epoche der Diktatur des Proletariats verändert; auch ihre Wechselbeziehungen haben sich verändert. Der Klassenkampf verschwindet nicht unter der Diktatur des Proletariats, sondern nimmt nur andere Formen an.

Das Proletariat war unter dem Kapitalismus eine unterdrückte Klasse, eine Klasse, die jeglichen Eigentums an Produktionsmitteln beraubt war, die einzige Klasse, die der Bourgeoisie unmittelbar und ganz und gar entgegengesetzt und darum fähig war, konsequent revolutionär zu sein. Das Proletariat ist, nachdem es die Bourgeoisie gestürzt und die politische Macht erobert hat, zur herrschenden Klasse geworden: es hält die Staatsmacht in den Händen, es verfügt über die bereits vergesellschafteten Produktionsmittel, es leitet die schwankenden Zwischenelemente und -klassen, es unterdrückt die gewachsene Energie des Widerstandes der Ausbeuter. Das alles sind besondere Aufgaben des Klassenkampfes, Aufgaben, die sich das Proletariat früher nicht stellte und nicht stellen konnte.

Die Klasse der Ausbeuter, der Gutsherren und der Kapitalisten, ist unter der Diktatur des Proletariats nicht verschwunden und kann nicht auf einmal verschwinden. Die Ausbeuter sind geschlagen, aber nicht vernichtet. Ihnen ist eine internationale Basis, das internationale Kapital, geblieben, dessen Abteilung sie sind. Ihnen sind zum Teil einige Produktionsmittel geblieben, ist Geld geblieben, sind gewaltige gesellschaftliche Verbindungen geblieben. Die Energie ihres Widerstandes ist gerade infolge ihrer Niederlage aufs Hundert- und Tausendfache gewachsen. Die „Kunst“ der Staats-, der Militär-, der Wirtschaftsverwaltung gibt ihnen ein sehr, sehr großes Übergewicht, so dass ihre Bedeutung unvergleichlich größer ist als ihr Anteil an der Gesamtzahl der Bevölkerung. Der Klassenkampf der gestürzten Ausbeuter gegen die siegreiche Avantgarde der Ausgebeuteten, d. h. gegen das Proletariat, ist unermesslich erbitterter geworden. Und das kann nicht anders sein, will man von der Revolution sprechen, will man nicht diesem Begriff reformistische Illusionen unterschieben (wie das alle Helden der II. Internationale tun).

Schließlich nimmt die Bauernschaft, wie überhaupt jede Kleinbourgeoisie, auch unter der Diktatur des Proletariats eine mittlere, eine Zwischenstellung ein: einerseits ist sie eine ziemlich bedeutende (und im rückständigen Russland ungeheure) Masse von Werktätigen, die das gemeinsame Interesse der Werktätigen, sich vom Gutsherrn und vom Kapitalisten zu befreien, vereinigt; anderseits sind die Bauern abgesonderte Kleinunternehmer, Eigentümer und Händler. Eine derartige ökonomische Stellung ruft unausbleiblich ein Schwanken zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie hervor. Und bei dem verschärften Kampf zwischen diesen beiden, bei der unglaublich schroffen Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse ist es angesichts der stärksten Gewöhnung gerade der Bauern und der Kleinbürger überhaupt an das Alte, Althergebrachte, Unabänderliche natürlich, dass wir in ihrer Mitte unvermeidlich den Übergang von einer Seite zur anderen, Schwankungen, Schwenkungen, Unsicherheit usw. beobachten werden.

Gegenüber dieser Klasse – oder diesen gesellschaftlichen Elementen – besteht die Aufgabe des Proletariats in ihrer Leitung, im Kampf um den Einfluss auf sie. Die Schwankenden, Unbeständigen hinter sich herführen – das ist es, was das Proletariat tun muss.

Wenn wir alle Hauptkräfte oder -klassen und ihre durch die Diktatur des Proletariats veränderten Wechselbeziehungen einander gegenüberstellen, sehen wir, was für ein grenzenloser theoretischer Unsinn, was für ein Stumpfsinn die landläufige kleinbürgerliche Vorstellung vom Übergang zum Sozialismus „durch die Demokratie“ schlechthin ist, die wir bei allen Vertretern der II. Internationale linden. Das von der Bourgeoisie ererbte Vorurteil vom unbedingten, außerhalb der Klassen stehenden Inhalt der „Demokratie“ ist die Grundlage dieses Irrtums. In Wirklichkeit geht aber auch die Demokratie während der Diktatur des Proletariats in eine völlig neue Phase über, und der Klassenkampf erhebt sich auf eine höhere Stufe, wobei er sich alle, aber auch alle Formen unterwirft.

Allgemeine Phrasen über Freiheit, Gleichheit, Demokratie sind in Wirklichkeit gleichbedeutend mit der blinden Wiederholung von Begriffen, die ein Abklatsch der Verhältnisse der Warenproduktion sind. Mit Hilfe dieser allgemeinen Phrasen die konkreten Aufgaben der Diktatur des Proletariats lösen wollen heißt auf der ganzen Linie auf die theoretische, prinzipielle Position der Bourgeoisie übergehen. Vom Standpunkt des Proletariats wird die Frage nur folgendermaßen gestellt: Freiheit von der Unterdrückung durch welche Klasse? Gleichheit welcher Klasse mit welcher? Demokratie auf dem Boden des Privateigentums oder auf der Basis des Kampfes für die Abschaffung des Privateigentums? usw.

Engels hat schon längst im „Anti-Dühring“ klargestellt, dass sich der Begriff der Gleichheit als Abklatsch der Verhältnisse der Warenproduktion in ein Vorurteil verwandelt, wenn man die Gleichheit nicht im Sinne der Abschaffung der Klassen3 versteht. Diese Binsenwahrheit über den Unterschied zwischen dem bürgerlich-demokratischen und dem sozialistischen Begriff der Gleichheit wird beständig vergessen. Behält man sie aber im Auge, so wird einem klar, dass das Proletariat, das die Bourgeoisie gestürzt hat, dadurch den entschiedensten Schritt zur Abschaffung der Klassen tut, und dass das Proletariat, um dies zu vollenden, seinen Klassenkampf fortsetzen muss unter Ausnutzung des Apparats der Staatsmacht und unter Anwendung verschiedener Methoden des Kampfes, des Einflusses, der Einwirkung auf die gestürzte Bourgeoisie und auf das schwankende Kleinbürgertum.

30. Oktober 1919

1 Der Artikel „Ökonomie und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats" wurde anlässlich des zweiten Jahrestages der Oktoberrevolution geschrieben und in der Zeitschrift „Die Kommunistische Internationale Nr. 6 vom 7. November 1919 veröffentlicht. Der Zeit nach fallen Niederschrift und Veröffentlichung dieses Artikels ungefähr in die Mitte der Periode des Kriegskommunismus. Wir bringen ihn jedoch außerhalb der chronologischen Reihenfolge gleich zu Beginn des VIII. Bandes, der der Periode des Kriegskommunismus gewidmet ist, damit die darin enthaltenen Grundthesen beim Studium aller Arbeiten Lenins aus dieser Zeit als Leitfaden dienen können. An und für sich ist der Artikel „Ökonomie und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats“ keineswegs speziell der Periode des Kriegskommunismus gewidmet. Er ist ein programmatischer Artikel, der die Hauptmomente der Ökonomie und der Klassenbeziehungen der Übergangsperiode, die Hauptziele und die Wege der proletarischem Diktatur zum Kommunismus auf Grund der zweijährigen Erfahrungen dieser Diktatur in Sowjetrussland beleuchtet. Der Artikel, der die Übergangsepoche als Epoche des „Kampfes zwischen dem sterbenden Kapitalismus und dem entstehenden Kommunismus“ schildert und die Politik der Partei des Proletariats während dieser ganzen Epoche als Politik des Klassenkampfes zur Abschaffung der Klassen und zum Aufbau einer klassenlosen sozialistischen Gesellschaft vorzeichnet sowie die Grundlinien und Hauptetappen dieses Kampfes festlegt, schließt sich in dieser Hinsicht inhaltlich unmittelbar an den Artikel „Über ,linke' Kinderei und Kleinbürgerlichkeit“ an.

2 Lenin meint hier das Dekret über den Grund und Boden, das am 26. Oktober/8. November 1917, d. h. unmittelbar nach der Machtergreifung durch das Proletariat, auf dem II Rätekongress zu seinem Bericht angenommen wurde. Der Wortlaut des Dekrets wird in Lenins „Rede über die Bodenfrage“ am 8. November (26. Oktober) 1917 angeführt.

* Die Zahl der Sowjetwirtschaften und der landwirtschaftlichen Kommunen in Sowjetrussland beträgt ungefähr 3.536 bzw. 1961, die Zahl der „landwirtschaftlichen Artels“ 3.696. Unser Statistisches Zentralamt nimmt gegenwärtig eine genaue Erhebung aller Sowjetwirtschaften und Kommunen vor. Die Ergebnisse werden im November 1919 einzulaufen beginnen.

3 Lenin hat hier offenbar das Kapitel „Moral und Recht. Gleichheit“ in Engels’ „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“ im Auge. So steht vor allem folgende Stelle aus Engels’ Werk der Leninschen Formulierung nahe: „… der wirkliche Inhalt der proletarischen Gleichheitsforderung ist die Forderung der Abschaffung der Klassen“ („Anti-Dühring“, Zürich 1934, S. 95). Der Leninschen Formulierung über den „Abklatsch der Verhältnisse der Warenproduktion“ entspricht offenbar folgende Stelle bei Engels: „Und endlich fand die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller menschlichen Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, ihren unbewussten aber stärksten Ausdruck im Wertgesetz der modernen bürgerlichen Ökonomie..(ebenda, S. 93). In seinen Vorarbeiten zum „Anti-Dühring“ macht Engels unter Berufung auf die entsprechende Stelle aus dem „Kapital“ folgende Randbemerkung: „Die Gleichheitsvorstellung aus der Gleichheit der allgemeinen menschlichen Arbeit in der Warenproduktion. Kapital, 2. Aufl., Hamburg 1872 p. 36“ (Marx-Engels-Archiv, Bd II. Frankf. a. M. 1927, S. 408).

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