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Wladimir I. Lenin 19190319 Schlusswort zum Bericht über das Parteiprogramm

Wladimir I. Lenin: Schlusswort zum Bericht über das Parteiprogramm

auf dem VIII. Parteitag der KPR (B)

19. März 1919

[Ausgewählte Werke, Band 8. Der Kriegskommunismus 1918-1920. Zürich 1935, S. 375-385]

Genossen! Ich konnte in diesem Teil der Frage die Aufgabe nicht ebenso detailliert – nach vorhergehender Verständigung – mit Genossen Bucharin teilen, wie wir das mit dem Bericht getan haben. Vielleicht wird das auch gar nicht notwendig sein. Ich glaube, dass die Diskussion, die hier geführt wurde, vor allem eines gezeigt hat: dass es keinen einigermaßen bestimmten und einigermaßen formulierten Gegenvorschlag gibt. Es wurde viel über Teilfragen, bruchstückweise gesprochen, aber ein Gegenvorschlag wurde nicht vorgelegt. Ich werde auf die hauptsächlichsten Einwände eingehen, die sich vor allem gegen den einleitenden Teil richteten. Genosse Bucharin sagte mir, er gehöre zu jenen, die den Gedanken vertreten, es sei möglich, in der Einleitung die Charakteristik des Kapitalismus mit einer Charakteristik des Imperialismus zu einem zusammenhängenden Ganzen zu vereinigen, da jedoch diese Zusammenfassung nicht vorliege, würden wir den bestehenden Entwurf annehmen müssen.

Viele von den Diskussionsrednern vertraten den Standpunkt besonders entschieden tat das Genosse Podbelski –, dass der Entwurf in der Form, wie er euch vorgelegt wurde, falsch sei. Die Beweise des Genossen Podbelski waren höchst sonderbar. Er wandte sich z. B. dagegen, dass in § 1 die Revolution als die Revolution von dem und dem Datum bezeichnet wird. Aus irgendeinem Grund hatte Genosse Podbelski dadurch den Eindruck, als ob diese Revolution sogar eine Nummer trüge. Ich muss sagen, dass wir es im Rat der Volkskommissare mit sehr vielen nummerierten Schriftstücken zu tun haben, was oft ermüdend ist, warum soll man aber diesen Eindruck auch hierauf ausdehnen? In der Tat, was hat dies mit einer Nummer zu tun? Wir legen den Tag des Festes fest und feiern ihn. Wie kann man denn leugnen, dass die Macht eben am 7. November (25. Oktober) ergriffen wurde? Solltet ihr versuchen, das irgendwie zu ändern, so wird das künstlich sein. Nennt ihr die Revolution „Oktober-November-Revolution“, so gebt ihr dadurch die Möglichkeit zu sagen, die Sache sei nicht an einem Tag getan worden. Natürlich dauerte sie viel länger – nicht nur Oktober, nicht nur November und selbst nicht nur ein Jahr. Genosse Podbelski wandte sich dagegen, dass in einem Paragraphen von der bevorstehenden sozialen Revolution die Rede ist. Aus diesem Grunde tat er so, als ob das Programm schier eine versuchte „Majestäts“beleidigung wäre – gegenüber der sozialen Revolution. Wir stehen mitten in der sozialen Revolution, und da wird sie in die Zukunft versetzt! Dieses Argument ist offenkundig unhaltbar, denn bei uns im Programm handelt es sich um die soziale Revolution in der ganzen Welt.

Es wird uns gesagt, dass wir die Revolution vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachten. Soll man das oder soll man's nicht? Viele leicht begeisterte Genossen sind hier so weit gegangen, von einem Weltwirtschaftsrat und von der Unterordnung aller nationalen Parteien unter das ZK der KPR zu reden. Das war Genosse Pjatakow, der fast soweit ging. (Zwischenruf Pjatakows: „Glauben Sie denn, das wäre schlecht?") Wenn er jetzt die Bemerkung macht, dass das gar nicht schlecht wäre, so muss ich darauf antworten: stünde etwas derartiges im Programm, so brauchten wir es nicht zu kritisieren, denn die Verfasser eines solchen Antrages hätten sich damit selbst erledigt. Diese leicht begeisterten Genossen haben außer Acht gelassen, dass wir im Programm von dem ausgehen müssen, was ist. Einer von diesen Genossen, ich glaube, es war Suniza, der das Programm höchst energisch als dürftig usw. kritisierte, einer dieser leicht begeisterten Genossen hat gesagt, er könne sich nicht damit einverstanden erklären, dass darin das stehen müsse, was ist, sondern er schlage vor, es müsse darin stehen, was nicht ist. (Heiterkeit.) Ich glaube, dass diese so offenkundig falsche Formulierung der Frage mit Recht zum Lachen reizt. Ich sagte nicht, es solle nur das darin stehen, was ist, sondern ich sagte, dass wir von dem absolut Feststehenden ausgehen müssen. Wir müssen den Proletariern und den werktätigen Bauern sagen und beweisen, dass die kommunistische Revolution unvermeidlich ist. Hat hier jemand erklärt, das brauche nicht gesagt zu werden? Hätte jemand versucht, dergleichen vorzuschlagen, so würde man ihm bewiesen haben, dass er Unrecht hat. Niemand hat dergleichen gesagt, und niemand wird es sagen, denn die Tatsache ist unbestreitbar, dass unsere Partei zur Macht gelangt ist, gestützt nicht nur auf das kommunistische Proletariat, sondern auch auf die ganze Bauernschaft. Werden wir uns wirklich nur darauf beschränken, allen diesen Massen, die heute mit uns gehen, zu sagen: „Sache der Partei ist nur die Durchführung des sozialistischen Aufbaus. Die kommunistische Revolution ist vollzogen, verwirklicht nun den Kommunismus.“ Dieser Standpunkt ist von Grund aus unhaltbar, theoretisch falsch. Unsere Partei hat auf direktem und noch mehr auf indirektem Weg Millionen Menschen in sich aufgenommen, die sich jetzt über die Frage des Klassenkampfes, über die Frage des Überganges vom Kapitalismus zum Kommunismus klar werden.

Man kann heute sagen – das wird natürlich in keiner Weise übertrieben sein –, dass in keinem anderen Land die werktätige Bevölkerung der Frage der Verwandlung des Kapitalismus in Sozialismus ein solches Interesse entgegengebracht hat wie jetzt bei uns. Man denkt darüber bei uns wohl viel mehr nach als in irgendeinem anderen Land. Und da soll die Partei keine Antwort auf diese Frage geben? Wir müssen in wissenschaftlicher Art und Weise zeigen, welchen Weg diese kommunistische Revolution gehen wird. In dieser Hinsicht sind alle übrigen Anträge Halbheiten. Ganz streichen wollte es niemand. Es wurde unbestimmt gesagt: vielleicht kann man abkürzen, vielleicht sollte man das alte Programm nicht zitieren, weil es falsch ist. Wenn es aber falsch war – wie konnten wir so viele Jahre hindurch in unserer Arbeit von ihm ausgehen? Vielleicht werden wir ein allgemeines Programm haben, nachdem die Sowjet-Weltrepublik entstehen wird, aber bis dahin werden wir sicherlich noch einige Programme schreiben. Sie aber jetzt zu schreiben, wo es nur die eine Sowjetrepublik auf dem Gebiet des alten Russischen Reiches gibt, wäre verfrüht. Selbst Finnland, das zweifellos einer Sowjetrepublik entgegengeht, hat sie noch nicht verwirklicht – Finnland, das sich von allen anderen das ehemalige Russische Reich bevölkernden Nationen durch höheres Kulturniveau auszeichnet. Daher wäre es der größte Fehler, heute darauf Anspruch zu erheben, in unserem Programm einen abgeschlossenen Prozess zum Ausdruck zu bringen. Das wäre etwas Ähnliches, als ob wir heute ins Programm den Weltwirtschaftsrat aufgenommen hätten. Wir selbst haben uns an dieses hässliche Wort1 noch nicht gewöhnen können, Ausländern soll es sogar manchmal passieren, dass sie im Kursbuch nach einer solchen Eisenbahnstation suchen. (Heiterkeit.) Diese Worte können wir nicht der ganzen Welt dekretieren.

Um international zu sein, muss unser Programm jene Klassenmomente berücksichtigen, die ökonomisch für alle Länder charakteristisch sind. Für alle Länder ist charakteristisch, dass der Kapitalismus in sehr vielen Gegenden sich erst entwickelt. Das trifft auf ganz Asien zu, auf alle jene Länder, die zur bürgerlichen Demokratie übergehen, ebenso auf eine ganze Reihe von Gebieten Russlands. Genosse Rykow, der sehr gut die Tatsachen auf wirtschaftlichem Gebiet kennt, sprach von der neuen Bourgeoisie, die es bei uns gibt. Das stimmt. Sie entsteht nicht nur aus den Reihen unserer Sowjetangestellten – in ganz geringfügigem Maße kann sie auch von da kommen –, sie entsteht aus der Mitte der Bauernschaft und der Heimgewerbetreibenden, die vom Joch der kapitalistischen Banken befreit und heute vom Eisenbahnverkehr abgeschnitten sind. Das ist Tatsache. Wie wollt ihr diese Tatsache umgehen? Das macht ihr nur euren eigenen Illusionen zuliebe, oder ihr tragt ungenügend durchdachte Bücherweisheit in die Wirklichkeit hinein, die viel komplizierter ist. Sie zeigt uns, dass selbst in Russland die kapitalistische Warenwirtschaft lebt, funktioniert, sich entwickelt, eine Bourgeoisie hervorbringt, so wie in jeder kapitalistischen Wirtschaft.

Genosse Rykow sagte: „Wir kämpfen gegen die Bourgeoisie, die bei uns deshalb entsteht, weil die Bauernwirtschaft noch nicht verschwunden ist, diese Wirtschaft aber Bourgeoisie und Kapitalismus hervorbringt.“ Vieles wissen wir darüber nicht, aber dass sich dieser Prozess vollzieht, steht außer Zweifel. In der ganzen Welt gibt es bisher eine Sowjetrepublik nur auf dem Gebiet des ehemaligen Russischen Reiches. In einer ganzen Reihe von Ländern wächst sie heran, ist sie im Werden, aber noch in keinem anderen Land ist sie verwirklicht. Wenn wir daher in unserem Programm Anspruch darauf erheben, wofür der Boden noch nicht da ist, so ist das Phantasie, ein Bestreben, der unangenehmen Wirklichkeit zu entrinnen, die uns zeigt, dass die Geburtswehen der sozialistischen Republik in anderen Ländern zweifellos viel schlimmer sind als jene, die wir durchgemacht haben. Uns ist es leicht gelungen, weil wir am 9. November (27. Oktober) 1917 das zum Gesetz erhoben, was die Bauern in den sozialrevolutionären Resolutionen verlangt hatten. Das gibt es in keinem anderen Lande. Der deutsche und der schweizerische Genosse haben darauf verwiesen, dass in der Schweiz die Bauern gegen die Streikenden so sehr wie noch nie aufgebracht sind, dass in Deutschland auf dem Lande von der Entstehung von Räten der Landarbeiter und der Kleinbauern kein Lüftchen zu spüren sei. Bei uns erfassten nach den ersten Monaten der Revolution die Bauerndeputiertenräte fast das ganze Land. Wir, ein rückständiges Land, haben sie hervorgebracht. Hier entsteht ein gigantisches Problem, das von den kapitalistischen Völkern noch nicht gelöst ist. Sind wir aber eine kapitalistische Musternation? Bis 1917 waren wir nicht in genügendem Maße eine Musternation: wir hatten noch Überreste der Fronherrschaft. Doch keine einzige kapitalistisch organisierte Nation hat noch gezeigt, wie diese Frage praktisch zu lösen ist. Wir sind unter Ausnahmeverhältnissen zur Macht gelangt, wo das Joch des Zarismus es erzwang, dass mit großem Elan ein grundlegender und schneller Wechsel vorgenommen wurde, und wir verstanden es, uns unter diesen Ausnahmeverhältnissen mehrere Monate hindurch auf die Bauernschaft als Ganzes zu stützen. Das ist eine geschichtliche Tatsache. Mindestens bis zum Sommer 1918, bis zur Schaffung der Komitees der Dorfarmut, behaupteten wir uns als Macht deshalb, weil wir uns auf die gesamte Bauernschaft stützten. Das ist in keinem kapitalistischen Lande möglich. Diese grundlegende ökonomische Tatsache vergesst ihr, wenn ihr von der durchgreifenden Umgestaltung des ganzen Programms sprecht. Ohne diese Tatsache wird euer Programm kein wissenschaftliches Fundament haben.

Wir sind verpflichtet, von jenem allgemein anerkannten marxistischen Grundsatz auszugehen, dass ein Programm auf wissenschaftlichem Fundament aufgebaut sein muss. Es muss den Massen erklären, wie die kommunistische Revolution entstanden, warum sie unausbleiblich ist, worin ihre Bedeutung, ihr Wesen, ihre Kraft besteht, was sie zu lösen hat. Unser Programm muss eine Zusammenfassung für Agitationszwecke sein, wie es alle Programme waren, wie es z. B. das Erfurter Programm war. Jeder Paragraph dieses Programms enthielt Hunderttausende von agitatorischen Reden und Artikeln. Jeder Paragraph unseres Programms enthält das, was jeder Werktätige wissen, sich aneignen und begreifen muss. Wenn er nicht begreift, was Kapitalismus ist, wenn er nicht versteht, dass Kleinbauernschaft und Kleingewerbe unabwendbar und unbedingt diesen Kapitalismus ständig hervorbringen, wenn er das nicht begreift, so ist sein Kommunismus keinen roten Heller wert, auch wenn er sich hundertmal als Kommunist bezeichnet und den radikalsten Kommunismus zur Schau trägt; denn wir schätzen den Kommunismus nur dann, wenn er ökonomisch fundiert ist.

Die sozialistische Revolution wird sogar in einigen vorgeschrittenen Ländern sehr vieles ändern. Die kapitalistische Produktionsweise besteht in der ganzen Welt weiter, oft in ihren weniger entwickelten Formen, obwohl der Imperialismus Zusammenschluss und Konzentration des Finanzkapitals bewirkt hat. In keinem der fortgeschrittensten Länder ist der Kapitalismus ausschließlich in seiner vollkommensten Form vorzufinden. Sogar in Deutschland gibt es nichts dergleichen. Als wir Material über unsere konkreten Aufgaben sammelten, teilte uns der an der Spitze des Statistischen Zentralbüros stehende Genosse mit, in Deutschland hätte der Bauer 40 Prozent seiner Kartoffelüberschüsse den Ernährungsorganen vorenthalten. Im kapitalistischen Staat, wo der Kapitalismus seine höchste Entwicklung erreicht hat, bleiben kleine Bauernwirtschaften mit freiem Kleinverkauf, mit Kleinspekulation bestehen. Diese Tatsachen darf man nicht vergessen. Gibt es aber unter den 300.000 hier vertretenen Parteimitgliedern viele, bei denen in dieser Frage volle Klarheit herrscht? Es wäre eine lächerliche Einbildung zu glauben: weil wir, die wir das Glück hatten, den Entwurf abzufassen, das alles wissen, ist auch die ganze Masse der Kommunisten so weit. Nein, sie brauchen dieses Abc, sie brauchen es hundertmal mehr als wir, denn es kann keinen Kommunismus geben bei Menschen, die sich noch nicht eingeprägt haben, die sich noch nicht im Klaren sind darüber, was Kommunismus und was Warenwirtschaft ist. Jeden Tag, bei jeder Frage der praktischen Wirtschaftspolitik, bei jeder Frage, die sich auf das Ernährungswesen, die Landwirtschaft oder den Obersten Volkswirtschaftsrat bezieht, stoßen wir auf diese Tatsachen der kleinen Warenwirtschaft. Und da soll im Programm davon nicht die Rede sein! Wenn wir danach handelten, würden wir damit nur zeigen, dass wir nicht imstande sind, diese Frage zu lösen, dass der Erfolg der Revolution in unserem Lande durch Ausnahmeverhältnisse zu erklären ist.

Zu uns kommen Genossen aus Deutschland, um sich über die Formen der sozialistischen Ordnung klar zu werden. Und wir müssen so handeln, dass wir den ausländischen Genossen unsere Kraft beweisen, dass sie sehen, dass wir in unserer Revolution nicht im Geringsten über den Rahmen der Wirklichkeit hinausgehen, wir müssen ihnen Material geben, das für sie unumstößlich ist. Es wäre lächerlich, unsere Revolution als irgendein Ideal für alle Länder hinzustellen und sich einzubilden, sie hätte eine Reihe genialer Entdeckungen gemacht und eine Unmenge sozialistischer Neuerungen eingeführt. Ich habe das von niemand gehört und behaupte, dass wir es von niemand hören werden. Wir haben eine praktische Erfahrung in der Verwirklichung der ersten Schritte zur Zerstörung des Kapitalismus in einem Land, in dem Proletariat und Bauernschaft in einem besonderen Verhältnis zueinander stehen. Weiter nichts. Wenn wir uns wie der Frosch in der Fabel aufblasen und wichtig machen werden, wird die ganze Welt über uns lachen, wir werden bloße Aufschneider sein.

Auf dem Boden des marxistischen Programms haben wir die Partei des Proletariats erzogen, und ebenso muss man jene Millionen und Abermillionen Werktätiger, die es bei uns gibt, erziehen. Wir sind hier als ideologische Führer versammelt und müssen den Massen sagen: „Wir haben das Proletariat erzogen und sind dabei stets und vor allem von einer genauen ökonomischen Analyse ausgegangen.“ Diese Aufgabe ist nicht Sache eines Manifests. Das Manifest der III. Internationale ist ein Aufruf, eine Proklamation, es will die Aufmerksamkeit darauf lenken, was vor uns steht, es ist ein Appell an das Gefühl der Massen. Bemüht euch, wissenschaftlich zu beweisen, dass ihr eine ökonomische Basis habt und dass ihr nicht auf Sand baut. Seid ihr dazu nicht imstande, dann geht nicht an die Ausarbeitung eines Programms heran. Wenn wir aber ein Programm ausarbeiten wollen, können wir nicht anders als das in den letzten fünfzehn Jahren Erlebte analysieren. Wenn wir vor fünfzehn Jahren sagten: Wir gehen der bevorstehenden sozialen Revolution entgegen, und wenn wir nunmehr bei ihr angelangt sind – werden wir dadurch etwa geschwächt? Wir werden dadurch gestärkt, gefestigt. Alles läuft darauf hinaus, dass der Kapitalismus in den Imperialismus übergeht, der Imperialismus aber zum Beginn der sozialistischen Revolution führt. Das darzulegen, ist langweilig und langwierig, und kein einziges kapitalistisches Land hat noch diesen Prozess durchgemacht. Aber im Programm muss dieser Prozess vermerkt werden.

Das ist der Grund, warum alle theoretischen Einwände, die hier erhoben wurden, nicht der geringsten Kritik standzuhalten vermögen. Ich zweifle nicht daran, dass wenn man zehn oder zwanzig in der Darlegung ihrer Gedanken erfahrene Literaten auf drei bis vier Stunden täglich darangesetzt hätte, sie im Laufe eines Monats das Programm besser, geschlossener gestaltet hätten. Es ist aber lächerlich zu verlangen, das solle in ein oder zwei Tagen geleistet werden, wie Genosse Podbelski sagte. Wir haben mehr als ein, zwei Tage und auch mehr als zwei Wochen gearbeitet. Ich wiederhole: könnte man für einen Monat eine Kommission aus dreißig Mann wählen und sie mehrere Stunden täglich arbeiten lassen, und zwar so, dass sie nicht durch Telefongeläute und Nachrichten über die Offensive gestört werden, so würden sie uns zweifellos ein fünfmal besseres Programm vorlegen. Doch der Kern der Sache wurde hier von niemand bestritten. Ein Programm, das über die Grundlagen der Warenwirtschaft und des Kapitalismus nichts aussagt, wird kein marxistisches internationales Programm sein. Damit das Programm international sei, genügt es nicht, dass es die Welt-Sowjetrepublik oder die Aufhebung der Nationen proklamiert, wie es Genosse Pjatakow tat: Wir brauchen keine Nationen, wir brauchen den Zusammenschluss aller Proletarier. Natürlich, das ist eine ausgezeichnete Sache, und so wird es kommen, aber in einem ganz anderen Stadium der kommunistischen Entwicklung. Mit sichtlicher Überlegenheit sagt Genosse Pjatakow: „1917 wart ihr rückständig, jetzt habt ihr Fortschritte gemacht.“ Wir machten Fortschritte, als wir in das Programm das aufnahmen, was der Wirklichkeit zu entsprechen begann. Als wir sagten, die Nationen seien auf dem Wege von der bürgerlichen Demokratie zur proletarischen Macht, sprachen wir das aus, was ist, aber 1917 war es nur das, was euch wünschenswert war.

Wenn es zwischen uns und den Spartakusleuten jenes volle kameradschaftliche Vertrauen geben wird, dessen es für den einheitlichen Kommunismus bedarf, jenes kameradschaftliche Vertrauen, das mit jedem Tag entsteht und vielleicht nach wenigen Monaten hergestellt sein wird, so wird es auch im Programm niedergelegt werden. Aber dies zu proklamieren, solange es noch nicht besteht, bedeutet, sie zu Dingen drängen, zu denen sie durch die Erfahrung noch nicht gelangt sind. Wir sagen, dass der Sowjettypus zu internationaler Bedeutung gelangt ist. Genosse Bucharin verwies auf die englischen Betriebsältestenkomitees. Das ist nicht ganz dasselbe wie die Sowjets. Sie wachsen heran, aber sie sind noch im Mutterschoße. Wenn sie das Licht der Welt erblicken, dann werden wir sehen. Aber sagen, dass wir die russischen Sowjets den englischen Arbeitern als Geschenk darbringen, das hält keiner Kritik stand.

Weiter muss ich auf die Frage der Selbstbestimmung der Nation eingehen. Unsere Kritik hat dieser Frage übermäßige Bedeutung beigelegt. Hier äußerte sich die Schwäche unserer Kritik darin, dass eine Frage, die im allgemeinen Aufbau des Programms, in der Gesamtsumme der Programmforderungen im Grunde von ganz untergeordneter Bedeutung ist, in unserer Kritik eine besondere Bedeutung erlangte.

Während der Rede Pjatakows musste ich staunen: was ist das, eine Programmdiskussion oder ein Streit zwischen zwei Organisationsbüros. Als Genosse Pjatakow davon sprach, die ukrainischen Kommunisten handelten nach den Direktiven des ZK der KPR(B), konnte ich daraus nicht klug werden, in welchem Ton er sprach. Im Tone des Bedauerns? Ich verdächtige Genossen Pjatakow dessen nicht, aber der Sinn seiner Rede war: wozu alle diese Selbstbestimmungen, wenn in Moskau ein ausgezeichnetes ZK sitzt! Das ist ein kindischer Standpunkt. Infolge außergewöhnlicher Verhältnisse war die Ukraine von Russland getrennt, und die nationale Bewegung hat dort keine tiefen Wurzeln geschlagen. Soweit sie zum Vorschein kam, wurde sie von den Deutschen erledigt. Das ist Tatsache, aber es ist ein Ausnahmefall. Dort steht es selbst mit der Sprache so, dass man nicht mehr weiß, ob die ukrainische Sprache eine Sprache der Massen ist oder nicht. Die werktätigen Massen anderer Nationen waren voller Misstrauen gegen die Großrussen als gegen eine Kulakennation, eine Unterdrückernation. Das ist Tatsache. Ein finnischer Vertreter erzählte mir, dass unter der finnischen Bourgeoisie, die die Großrussen hasste, Stimmen laut werden: „Die Deutschen entpuppten sich als eine große Bestie, die Entente ebenfalls, lieber her mit den Bolschewiki.“ Das ist ein gewaltiger Sieg, den wir in der nationalen Frage über die finnische Bourgeoisie errungen haben. Das wird uns gar nicht hindern, sie mit den geeigneten Mitteln als unseren Klassengegner zu bekämpfen. Die Sowjetrepublik, die in einem Land entstanden ist, dessen Zarismus Finnland unterdrückt hat, muss erklären, dass sie das Recht der Nationen auf Unabhängigkeit achtet. Mit der roten finnischen Regierung, die eine kurze Zeit bestand, schlossen wir einen Vertrag ab, wir machten ihr einige territoriale Zugeständnisse, um deretwegen ich des öfteren rein chauvinistische Einwände zu hören bekam: „Dort gibt es gute Fischgründe, und ihr habt sie abgetreten.“ Das sind Einwände solcher Art, von denen ich sagte: Kratze manch einen Kommunisten eine Weile, und du wirst auf den großrussischen Chauvinisten stoßen.

Es scheint mir, dass dieses Beispiel Finnlands ebenso wie das der Baschkiren uns zeigt, dass man in der nationalen Frage nicht damit argumentieren darf, dass wir um jeden Preis wirtschaftliche Einheit brauchen. Natürlich brauchen wir sie! Aber wir müssen sie durch Propaganda, durch Agitation, durch freiwilliges Bündnis zu erreichen suchen. Die Baschkiren misstrauen den Großrussen, weil diese kulturell höher stehen und diesen Umstand ausnutzten, um die Baschkiren auszuplündern. Daher ist in diesen entlegenen Gegenden das Wort „Großrusse“ für den Baschkiren gleichbedeutend mit „Unterdrücker“, „Gauner“. Damit muss man rechnen, man muss das bekämpfen. Aber das ist doch eine langwierige Sache. Durch ein Dekret lässt sich dies nicht beseitigen. Hier müssen wir sehr vorsichtig sein. Ganz besonders vorsichtig muss so eine Nation wie die Großrussen sein, die bei allen anderen Nationen einen erbitterten Hass gegen sich geweckt hat. Erst jetzt haben wir gelernt, diesen Schaden zu beheben, und auch das noch schlecht genug. Wir haben z.B. im Volksbildungskommissariat oder in seiner nächsten Nähe Kommunisten, die sagen: Einheitsschule, daher darf nur in der russischen Sprache unterrichtet werden! Meines Erachtens ist ein solcher Kommunist ein großrussischer Chauvinist. Er steckt in vielen von uns, und wir müssen ihn bekämpfen.

Deshalb müssen wir den anderen Nationen erklären, dass wir konsequente Internationalisten sind und den freiwilligen Bund der Arbeiter und Bauern aller Nationen anstreben. Dadurch sind Kriege keineswegs ausgeschlossen. Der Krieg ist eine andere Frage, die dem Wesen des Imperialismus entspringt. Wenn wir mit Wilson Krieg führen, Wilson aber eine kleine Nation zu seinem Werkzeug macht, so sagen wir: wir kämpfen gegen dieses Werkzeug. Wir haben uns niemals dagegen geäußert. Wir haben niemals gesagt, die sozialistische Republik könne ohne bewaffnete Macht existieren. Unter gewissen Verhältnissen kann sich der Krieg als Notwendigkeit erweisen. Hier aber, in der Frage der Selbstbestimmung, besteht der Kern der Sache darin, dass die einzelnen Nationen die gleiche geschichtliche Bahn gehen, aber in den mannigfaltigsten Zickzacks, auf den mannigfaltigsten Pfaden, und dass kulturell höher stehende Nationen diesen Weg zweifellos in ganz anderer Art und Weise zurücklegen als kulturell tiefer stehende. Finnland ging seinen eigenen Weg. Deutschland wiederum geht einen anderen Weg. Genosse Pjatakow hat tausendmal recht, wenn er sagt, wir brauchten Einheit. Aber für diese Einheit muss man mit Propaganda, durch den Einfluss der Partei, durch die Schaffung einheitlicher Gewerkschaften kämpfen. Doch auch hier kann man nicht nach einer Schablone verfahren. Man versuche, das heute auf Deutschland auszudehnen! Wir haben die Gewerkschaftsbewegung erobert, die deutschen Genossen sagen uns aber: „In allen Gewerkschaftsverbänden sitzen bei uns solche gelben Führer, dass unsere Losung jetzt ist: Liquidierung der Gewerkschaften.“ Wir sagen ihnen darauf: „Ihr habt nationale Eigentümlichkeiten, ihr habt durchaus recht.“ Hätten wir diesen Punkt gestrichen oder ihn anders redigiert, so hätten wir dadurch die nationale Frage aus unserem Programm gestrichen. Das wäre möglich, wenn es Menschen ohne nationale Eigentümlichkeiten gäbe. Aber solche Menschen gibt es nicht, und anders können wir die sozialistische Gesellschaft auf keine Weise aufbauen.

Ich denke, Genossen, man muss das hier vorgelegte Programm als Grundlage annehmen, es an eine Kommission verweisen, die durch Vertreter der Opposition oder, besser gesagt, durch Genossen, die hier sachliche Anträge gestellt haben, ergänzt werden soll. Diese Kommission hat uns vorzulegen: 1. die aufgezählten Abänderungsanträge zu dem Entwurf und 2. jene theoretischen Einwände, über die es keine Verständigung geben kann. Ich glaube, dass dies das Zweckmäßigste ist und dass wir auf diese Weise am Schnellsten zu einer richtigen Entscheidung gelangen werden. (Beifall.)

1 D. h. an die Abkürzung „sownarchos" (Sowjet narodnogo chosjaistwa = Volkswirtschaftsrat). D. Red.

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