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Programmdebatte 1917-1919

Die im vierten Abschnitt des vorliegenden Bandes enthaltenen Materialien („Bericht über die Revision des Parteiprogramms und die Änderung des Namens der Partei auf dem VII. Parteitag der KPR(B)“, „Resolution über die Änderung des Namens der Partei und des Parteiprogramms“, „Antrag zur Revision des Parteiprogramms auf dem VII. Parteitag“, „Skizze eines Programmentwurfs“, die von Lenin dem VII. Parteitag vorgelegt wurde, sowie Lenins Bericht und Schlusswort über die Frage des Parteiprogramms auf dem VIII. Parteitag) bilden überaus wertvolle Unterlagen für das Studium über die Art, wie Lenin die Ausarbeitung des Programms unserer Partei geleitet und selbst unmittelbar an dieser Ausarbeitung teilgenommen hat. Gleichzeitig bieten diese Materialien die Möglichkeit, Lenins Ansichten über die Formulierung der Kernfragen des Parteiprogramms kennenzulernen. Das Studium dieser Arbeiten und Reden Lenins möge der Leser mit den „Materialien zur Revision des Parteiprogramms“ verbinden, die aus dem Jahre 1917 stammen. Auf die Notwendigkeit einer Umarbeitung des Parteiprogramms hatte Lenin bereits in den Aprilthesen von 1917 hingewiesen (These 9). Lenin hatte für die Allrussische Aprilkonferenz der Partei im Jahre 1917 einen Entwurf der Abänderungen des bisherigen Programms der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, das auf dem II. Parteitag im Jahre 1903 angenommen worden war, vorbereitet. Die Aprilkonferenz beriet über die Frage der Revision des Parteiprogramms und setzte dazu eine spezielle Sektion und einige Kommissionen ein. Doch konnte diese Arbeit damals aus Zeitmangel nicht zu Ende geführt werden. Nach der Aprilkonferenz verfasste und veröffentlichte Lenin im Auftrag des Zentralkomitees eine spezielle Broschüre unter dem Titel „Materialien zur Revision des Parteiprogramms", die außer den Materialien der Aprilkonferenz noch den fertigen Leninschen Entwurf eines neuen Parteiprogramms enthielt. Der Zweck dieser „Materialien“ bestand darin, die Revision des Parteiprogramms in den Parteiorganisationen zur Diskussion zu stellen. Die Diskussion entfaltete sich in der Hauptsache auf derselben Linie wie auf der Aprilkonferenz, d. h. auf der Linie des Kampfes gegen die „linke“ Abweichung in der Auffassung des Imperialismus. In der Diskussion trat Bucharin als Hauptverteidiger der „linken“ Richtung auf und nahm dabei den gleichen Standpunkt ein, auf dem er noch während des imperialistischen Krieges gestanden hatte, als er seine antileninistischen Ansichten in der nationalen Frage [...] verfocht. Bereits damals legte Bucharin, der den Imperialismus falsch einschätzte, sein Unverständnis für das Gesetz der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus in der imperialistischen Epoche an den Tag [...]. Er unterschätzte außerdem die Bedeutung des Kampfes um demokratische Forderungen in der Epoche des Imperialismus überhaupt, verwarf die Losung des Selbstbestimmungsrechts der Völker und beging in der Frage des Staates halb anarchistische Fehler. In allen späteren Diskussionen über die Programmfrage ging Bucharin von diesen irrigen Ansichten aus, die er sich bereits während der Kriegszeit angeeignet hatte.

Nach der im August 1917 erfolgten Veröffentlichung von Lenins Broschüre „Materialien zur Revision des Parteiprogramms“ machte Bucharin den Vorschlag, bereits damals die Teilung des Programms in ein Minimalprogramm und ein Maximalprogramm aufzuheben und die Charakteristik des Kapitalismus, die Lenin aus dem alten Programm übernehmen wollte, wegzulassen. Bucharin schrieb: „Der theoretische Teil des Programms soll umgearbeitet werden und eine allgemeine Analyse der Epoche des Finanzkapitalismus im Weltmaßstabe enthalten. Der theoretische Teil des Programms soll somit nicht eine Charakteristik des Kapitalismus im Allgemeinen bringen, sondern eine Charakteristik des heutigen Weltkapitalismus mit allen seinen blutigen Widersprüchen und mit allen Anzeichen des herannahenden Zusammenbruchs.“ In seiner Charakteristik des Imperialismus stellte Bucharin diesen als „organisiertes Monopolkapital“ hin, d h. er beurteilte ihn ungefähr ebenso wie im Jahre 1929, als er als Vertreter rechtsopportunistischer Schwankungen in der Partei und in der Komintern auftrat. Diese rechtsopportunistische Auffassung des Imperialismus ging bei Bucharin mit „linken“ Schlussfolgerungen hinsichtlich des Parteiprogramms Hand in Hand. Er ließ dabei den Umstand völlig außer acht, dass die imperialistische Epoche in sämtlichen Ländern – und in Russland war das in außerordentlich großem Ausmaß der Fall – die kapitalistischen Verhältnisse der vorhergehenden Entwicklungsepoche des Kapitalismus, ja selbst vorkapitalistische Verhältnisse – Überreste der Fronherrschaft, Kleinbetriebe, vor allem die bäuerliche Kleinwirtschaft – weiter bestehen lässt. In der weiter oben erwähnten Broschüre „Materialien zur Revision des Parteiprogramms“ wandte sich Lenin aufs Entschiedenste gegen eine solche Methode der Beurteilung des Imperialismus und gegen den Vorschlag, sich im allgemeinen Teil des Programms auf die Charakteristik des Imperialismus zu beschränken. Er verwies bereits damals die „Linken“ darauf, dass es keinen reinen Imperialismus gibt, dass „der Imperialismus in Wirklichkeit den Kapitalismus nicht von Grund aus umgestaltet und es auch nicht kann“, und dass daher der Vorschlag, das Parteiprogramm so aufzubauen, als hätten wir es mit einem reinen Imperialismus zu tun, „theoretisch falsch ist“.

Bucharin und seine Gesinnungsgenossen, die sich ein Bild vom reinen Imperialismus konstruierten, stellten die sozialistische Weltrevolution als eine rein sozialistische Revolution hin. Sie begriffen nicht, dass die sozialistische Weltrevolution „nicht anders vor sich gehen kann als in der Form einer Epoche, die den Bürgerkrieg des Proletariats gegen die Bourgeoisie in den vorgeschrittenen Ländern mit einer ganzen Reihe demokratischer und revolutionärer Bewegungen der unentwickelten, rückständigen und unterdrückten Nationen, darunter auch nationaler Befreiungsbewegungen“ verbindet (Lenin). Da sie die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung des Kapitalismus in den verschiedenen Ländern nicht berücksichtigten, stellten sie sich die sozialistische Revolution als gleichzeitigen Zusammenbruch des gesamten kapitalistischen Systems auf der ganzen Welt vor, der durch einen gleichzeitigen Schlag des vereinigten Proletariats aller Länder hervorgerufen wird. Sie vereinfachten somit den Entwicklungsprozess der Weltrevolution aufs Äußerste. Ihrer Meinung nach musste gleichzeitig mit der Revolution in Russland oder unmittelbar in deren Gefolge die sozialistische Weltrevolution ausbrechen. Sollte dies aber nicht sofort der Fall sein, dann war die Revolution in Russland in ihren Augen unabwendbar dem Untergang oder der Entartung geweiht. Diese Auffassung kam im Jahre 1918 im Standpunkt der von Bucharin geführten „linken'" Kommunisten in der Frage des Brester Friedens und in der Frage der Wege des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande am klarsten zum Ausdruck (siehe Lenins Rede über Krieg und Frieden auf dem VII. Parteitag und seinen Artikel „Über .linke" Kinderei und Kleinbürgerlichkeit“). Bucharin und Pjatakow hielten Lenins Standpunkt, wonach der Durchbruch der imperialistischen Kette, die Festigung des Sieges der sozialistischen Revolution und des Sieges des Sozialismus anfänglich in einem Land möglich ist, für falsch. Da sie die Rolle und die Bedeutung der nationalen Frage leugneten und außerdem die Rolle und die Bedeutung der revolutionären Bewegung der nicht proletarischen und halb proletarischen werktätigen Massen und somit auch der Massen der armen und der Mittelbauern in der Epoche des Imperialismus unterschätzten, konnten sie auch die Frage nach den Verbündeten des Proletariats in der sozialistischen Revolution vor und nach dem Sieg des Proletariats nicht richtig lösen. Sie suchten Verbündete nicht im Innern des Landes, sie sahen Bundesgenossen nur außerhalb des Landes – im internationalen Proletariat. Dadurch setzten sie [...] die Rolle des Proletariats als Hegemon der Werktätigen außerordentlich herab und unterschätzten die inneren Kräfte der Revolution. Dies ergab sich ganz aus ihrer Auffassung der imperialistischen Epoche als einer Epoche des alles umfassenden, reinen Imperialismus. Handelt es sich um einen reinen Imperialismus, so sind lediglich zwei kämpfende Faktoren von Bedeutung: das Proletariat und die imperialistische Bourgeoisie. Das Übrige ist belanglos, unwichtig. Unwichtig sind auch die Bundesgenossen des Proletariats im Dorf. Somit war der Kampf gegen den „links“-opportunistischen Standpunkt Bucharins und Pjatakows in der Frage des Imperialismus und seiner Entwicklungstendenzen für die Ausarbeitung einer richtigen strategischen und taktischen Linie der Partei von gewaltiger Bedeutung. Auch der Vorschlag Bucharins und W. M. Smirnows, bereits im Jahre 1917, vor dem Oktoberumsturz, das Minimalprogramm, d. h. die Forderungen des Proletariats und seiner Partei im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Staates, wegzulassen, war nichts als eine Widerspiegelung ihrer falschen Einstellung bei der Beurteilung des Imperialismus und der Bedingungen des Zusammenbruchs des Kapitalismus und bedeutete das Überspringen noch nicht überwundener Entwicklungsstadien. Lenin entgegnete ihnen damals: „Es ist lächerlich, das Minimalprogramm zu streichen, das unentbehrlich ist, solange wir noch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft leben, solange wir diesen Rahmen nicht gesprengt, solange wir das Grundlegende für den Übergang zum Sozialismus nicht getan haben, den Feind (die Bourgeoisie) nicht geschlagen und, nachdem wir sie geschlagen, nicht vernichtet haben“.

Die Frage der Revision des Parteiprogramms wurde im Jahre 1918 auf dem VII. Parteitag, bereits nach dem Sieg der proletarischen Revolution in Russland, von neuem gestellt. Die Meinungsverschiedenheiten in der Frage des Minimalprogramms fielen eigentlich weg. Wenn sie in gewissem Maße fortbestanden, so wurde die Frage bereits in einer ganz anderen Form gestellt. Lenin, der auf diesem Parteitag den vorliegenden Bericht über die Revision des Parteiprogramms erstattete, gab darin eine tiefschürfende realistische Einschätzung der Sachlage und sagte, dass wir vorderhand noch nicht auf die Möglichkeit einer Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus verzichten dürfen, da wir nicht sagen können, ob wir nicht zurückgeworfen werden. Damals war eine solche Vorsicht durchaus am Platze, da die Lage der Sowjetrepublik zur Zeit des VII. Parteitages noch sehr unsicher war.

Was dagegen die Meinungsverschiedenheiten in der Frage des Aufbaus des Parteiprogramms sowie in der Frage der Charakteristik des Kapitalismus und des Imperialismus betrifft, so bestanden diese nach wie vor weiter. Bucharin trat von neuem mit seinem alten Vorschlag auf. Außerdem beantragte er, „eine Charakteristik der sozialistischen Gesellschaftsordnung in ihrer entfalteten Form, eine Charakteristik des Kommunismus zu geben“ und erst davon ausgehend ein System der Übergangsmaßnahmen auszuarbeiten.

Lenin wandte sich aufs Schärfste auch gegen diese Vorschläge. Er war der Ansicht, dass „das Programm eine Charakteristik dessen ist, was wir angefangen haben zu tun, und der weiteren Schritte, die wir tun wollen“, und dass es daher unrichtig ist und uns nichts bieten kann, wenn wir uns mit Philosophiererei über die entfaltete sozialistische Gesellschaft befassen. „Wir sind jetzt unbedingt für den Staat“ – sagte Lenin. – „Und eine Charakteristik des Sozialismus in seiner entfalteten Form zu geben, wo kein Staat mehr sein wird – hier kann man nichts weiter sagen, als dass der Grundsatz verwirklicht sein wird: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Bis dahin ist es aber noch weit, und das behaupten heißt nichts anderes sagen, als dass der Boden unter unseren Füßen noch nicht sehr fest ist".

Der VII. Parteitag hatte keine Möglichkeit, über die Programmfrage eingehend zu diskutieren, und nahm daher eine Resolution an, in der vorgeschlagen wurde, den theoretischen Teil des Programms zu ändern und durch eine Charakteristik des Imperialismus und der beginnenden Ära der sozialistischen Revolution zu ergänzen und außerdem eine erschöpfendere und ausführlichere Charakteristik der neuen Staatsform und der von der Sowjetmacht in Angriff genommenen ökonomischen und anderen Umwandlungen nebst einer Darlegung der nächstliegenden Aufgaben zu geben.

Auf dem VIII. Parteitag, dem bereits ein unter unmittelbarer Leitung Lenins ausgearbeiteter Programmentwurf vorlag, kam es zu einer heftigen Diskussion über den allgemeinen Teil des Programms und über die nationale Frage. Bucharin vertrat nach wie vor seinen früheren Standpunkt und erklärte, dass man den allgemeinen Teil des alten Programms, der eine Charakteristik des Kapitalismus und seiner Entwicklungstendenzen enthielt, streichen und den allgemeinen Teil des neuen Programms auf eine Charakteristik des Finanzkapitals, d. h. des Imperialismus, konzentrieren müsse, da ja jetzt „bei uns der Finanzkapitalismus und nicht der Kapitalismus schlechthin existiert“. Ausgehend von ihrem alten „links“-opportunistischen Standpunkt in der nationalen Frage, traten Bucharin und Pjatakow auch gegen jene Formulierung des Parteiprogramms auf, die das „Recht der Nationen auf Selbstbestimmung“, d. h. auf staatliche Lostrennung, proklamierte.

Dabei hatten sie auch untereinander gewisse Meinungsverschiedenheiten. Bucharin, der die Leninsche Losung in der nationalen Frage ablehnte, schlug vor, sie durch die Losung der Selbstbestimmung der Werktätigen zu ersetzen. Pjatakow dagegen, der die Losung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen für konterrevolutionär erklärte, wandte sich auch gegen den Vorschlag Bucharins. Er war der Ansicht, dass man „entschieden den Weg einer straffen proletarischen Zentralisierung und proletarischen Vereinigung betreten muss". Dabei dienten ihm folgende Erwägungen als Ausgangspunkt: Er war vor allem der Ansicht, dass dort, wo ein wirklich revolutionärer Aufstand des Proletariats ausbricht, „dieser sich unausbleiblich in engster Verbindung mit allen entsprechenden revolutionären Bewegungen der Werktätigen vollzieht und sich nur auf diese Weise verwirklichen lässt“ und dass daher das Proletariat irgendeines einzelnen Landes sein Schicksal nicht selbständig entscheiden könne. Pjatakow, der außerdem der Ansicht war, dass man allein dem Willen des Proletariats Rechnung tragen müsse, gab zu, dass eine Lage möglich sei, wo dieser Wille des Proletariats nur auf dem Weg einer von außen kommenden Gewaltanwendung gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung des Landes durchgesetzt werden könne. Er behauptete, dass das ganze Gerede über die Selbstbestimmung nichtssagend sei, denn es gelte, die Linie eines ökonomischen Zusammenschlusses durchzuführen, ohne den eine Selbstbestimmung sich in ein Nichts, in ein Trugbild, in ein Hirngespinst auflöse.

Die ganze Einstellung Bucharins und Pjatakows in der Programmfrage wurde von Lenin in der Rede und im Schlusswort über die Programmfrage auf dem VIII. Parteitag einer schonungslosen Kritik unterzogen. Die Kritik an dieser „linken“ Überspitzung war der Hauptinhalt dieser beiden Leninschen Reden. Der Parteitag verwarf die unrichtigen, papiernen und ausgeklügelten Schemata Bucharins und Pjatakows und bestätigte das Parteiprogramm in der Form, in der es von der Kommission vorgelegt und von Lenin verteidigt wurde. [Ausgewählte Werke, Band 8,Anm. 111]

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