Lenin‎ > ‎1919‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19190319 Bericht über das Parteiprogramm

Wladimir I. Lenin: Bericht über das Parteiprogramm

auf dem VIII. Parteitag der KPR (B)

19. März 1919

[Ausgewählte Werke, Band 8. Der Kriegskommunismus 1918-1920. Zürich 1935, S. 352-374]

Genossen! Laut der Einteilung der Themen, die wir mit Genossen Bucharin verabredet haben, fällt mir die Erläuterung des Standpunktes der Kommission in einer Reihe konkreter und am meisten umstrittener oder die Partei gegenwärtig am meisten interessierender Punkte zu.

Ich beginne kurz mit denjenigen Punkten, die Genosse Bucharin am Schluss seines Referats berührt hat und in denen es in der Kommission zwischen uns zu Meinungsverschiedenheiten gekommen ist. Der erste Punkt bezieht sich auf den Charakter des Aufbaus des allgemeinen Teils des Programms. Genosse Bucharin hat meines Erachtens hier nicht ganz richtig dargelegt, warum die Kommissionsmehrheit alle Versuche abgelehnt hat, bei der Abfassung des Programms all das, was über den alten Kapitalismus gesagt war, zu streichen. Aus den Ausführungen des Genossen Bucharin schien manchmal hervorzugehen, als ob die Kommissionsmehrheit sich davor fürchtete, was man wohl dazu sagen werde, als ob sie fürchtete, man könnte sie ungenügender Ehrerbietung gegenüber dem Alten beschuldigen. In einer solchen Darlegung erscheint der Standpunkt der Kommissionsmehrheil zweifellos höchst lächerlich. Aber diese Darstellung entspricht bei weitem nicht der Wahrheit. Die Kommissionsmehrheit hat diese Versuche abgelehnt, weil sie falsch wären. Sie entsprächen nicht der wahren Sachlage. Reinen Imperialismus ohne kapitalistische Grundlage hat es niemals gegeben, gibt es nirgends und wird es niemals geben. Es ist eine falsche Verallgemeinerung alles dessen, was über Syndikate, Kartelle, Trusts, Finanzkapitalismus gesagt wurde, als man den Finanzkapitalismus so darstellte, als ob er sich auf keinerlei Grundlagen des alten Kapitalismus stütze.

Das ist falsch. Besonders falsch ist es für die Epoche des imperialistischen Krieges und für die Epoche nach dem imperialistischen Krieg. Schon Engels schrieb in einer seiner Betrachtungen über den kommenden Krieg, er werde viel schlimmere Verwüstungen mit sich bringen als der Dreißigjährige Krieg, die Menschheit werde stark verwildern, unser künstliches Getriebe in Handel und Industrie werde in rettungslose Verwirrung geraten. Zu Beginn des Krieges prahlten die Sozialverräter und Opportunisten mit der Lebenszähigkeit des Kapitalismus und machten sich über die „Fanatiker und Halbanarchisten“, wie sie uns nannten, lustig. „Seht – sagten sie –, diese Prophezeiungen sind nicht eingetroffen Die Ereignisse haben gezeigt, dass dies nur für einen sehr kleinen Teil der Länder und nur für eine ganz kurze Zeit richtig war!“ Heute aber beginnt nicht nur in Russland und nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Siegerländern gerade eine solche gewaltige Zerstörung des modernen Kapitalismus, die dieses künstliche Getriebe auf Schritt und Tritt abträgt und dem alten Kapitalismus zur Wiedergeburt verhilft.

Als Genosse Bucharin davon sprach, man könne versuchen, ein Gesamtbild der Zerstörung des Kapitalismus und des Imperialismus zu geben, wandten wir uns in der Kommission dagegen, und ich muss es hier sagen: versucht nur, und ihr werdet sehen, dass es nicht gelingen wird. Genosse Bucharin machte dort, in der Kommission, einen solchen Versuch und gab ihn selber auf. Ich bin vollkommen überzeugt, dass, wenn jemand imstande ist, das zu tun, so ist es vor allem Genosse Bucharin, der sich mit dieser Frage sehr viel und sehr eingehend beschäftigt hat. Ich behaupte, dass ein solcher Versuch nicht glücken kann, weil die Aufgabe falsch gestellt ist. In Russland haben wir es jetzt mit den Folgen des imperialistischen Krieges und mit dem Beginn der proletarischen Diktatur zu tun. Zu gleicher Zeit sehen wir in einer ganzen Reihe von Gebieten Russlands, die voneinander mehr abgeschnitten waren als früher, auf Schritt und Tritt eine Wiedergeburt des Kapitalismus und sein erstes Entwicklungsstadium. Darüber kann man nicht hinweg. Wenn man das Programm so niederschreibt, wie es Genosse Bucharin wollte, so wird es ein falsches Programm sein. Es wird bestenfalls das Beste reproduzieren, was über Finanzkapitalismus und Imperialismus gesagt worden ist, aber es wird nicht die Wirklichkeit wiedergeben, da es dieser Wirklichkeit gerade an solcher Geschlossenheit fehlt. Ein aus verschiedenartigen Teilen zusammengesetztes Programm ist nicht schön (das ist aber natürlich belanglos), aber ein anderes Programm wird einfach falsch sein. Diese Buntscheckigkeit, diesen Aufbau aus verschiedenartigem Material werden wir noch lange Zeit hindurch nicht vermeiden können – mag das noch so unangenehm sein, noch so unharmonisch aussehen. Sind wir einmal darüber hinaus, so werden wir uns ein anderes Programm geben. Aber dann werden wir bereits in der sozialistischen Gesellschaft leben. Es wäre lächerlich zu verlangen, es solle dort genau so zugehen wie jetzt.

Wir leben in einer Zeit, wo eine ganze Reihe elementarster, grundlegender Erscheinungen des Kapitalismus wieder auflebt. Man nehme z. B. den Zusammenbruch des Transportwesens, den wir so gut oder, richtiger gesagt, so übel an unserer eigenen Haut verspüren. Dasselbe gibt es ja auch in anderen Ländern, selbst in Siegerländern. Was bedeutet aber der Zusammenbruch des Transportwesens unter dem imperialistischen System? – Er bedeutet Rückkehr zu den primitivsten Formen der Warenproduktion. Wir wissen gut, was Schleichhändler sind. Dieses Wort war, wie es scheint, den Ausländern bisher unbekannt. Und jetzt? Fragt einmal die zum Kongress der III. Internationale gekommenen Genossen. Es erweist sich, dass auch in Deutschland und in der Schweiz solche Worte zu entstehen beginnen. Diese Kategorie passt aber in keine Diktatur des Proletariats hinein, sondern man wird bis zu den untersten Stufen der kapitalistischen Gesellschaft und der Warenproduktion hinabsteigen müssen.

Dieser traurigen Wirklichkeit durch Ausarbeitung eines glatten und geschlossenen Programms entrinnen wollen, bedeutet einen Sprung in den luftleeren Raum über den Wolken machen, ein falsches Programm niederschreiben. Durchaus nicht Ehrerbietung gegenüber dem Alten, wie Genosse Bucharin höflich andeutete, zwang uns, hier Teile des alten Programms einzuschalten. Man stellte es so dar: das Programm wurde 1903 unter Beteiligung Lenins niedergeschrieben; zweifellos ein schlechtes Programm, da sich aber alte Leute am liebsten Erinnerungen hingeben, so hat man aus Ehrerbietung vor dem Alten in einer neuen Zeit ein neues Programm verfasst, worin man das Alte wiederholt. Wäre er dem so, so könnte man über solche wunderlichen Käuze nur lachen. Ich behaupte, dass die Sache anders steht. Jener Kapitalismus, der 1903 geschildert wurde, bleibt auch 1919 in der proletarischen Sowjetrepublik bestehen, gerade dank der Zersetzung des Imperialismus, infolge seines Zusammenbruchs. Diesen Kapitalismus kann man z. B. sowohl im Gouvernement Samara als auch im Gouvernement Wjatka vorfinden, die beide nicht allzu weit von Moskau entfernt sind. In einer Epoche, wo der Bürgerkrieg das Land in Stücke reißt, werden wir aus dieser Lage, aus diesem Schleichhandel nicht so bald herauskommen. Das ist es, warum ein anderer Aufbau des Programms falsch wäre. Man muss aussprechen, was ist, ein Programm muss absolut Unbestreitbares, auf Grund von Tatsachen Festgestelltes enthalten, nur dann ist es ein marxistisches Programm.

Theoretisch sieht das Genosse Bucharin vollkommen ein, und er sagt, das Programm müsse konkret sein. Aber etwas verstehen und etwas tatsächlich durchführen, sind zwei verschiedene Dinge. Konkret sein im Sinne des Genossen Bucharin heißt den Finanzkapitalismus nach Büchern darstellen. In Wirklichkeit aber beobachten wir verschiedenartige Erscheinungen. In jedem landwirtschaftlichen Gouvernement sehen wir neben der monopolisierten Industrie freie Konkurrenz. Nirgends in der Welt hat es je Monopolkapitalismus ohne freie Konkurrenz in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen gegeben, und das wird es auch nie geben. Ein solches System aufstellen heißt ein vom Leben losgelöstes, ein falsches System aufstellen. Sagte Marx über die Manufaktur, sie sei ein Überbau über dem massenhaften Kleinbetrieb gewesen, so sind Imperialismus und Finanzkapitalismus ein Überbau über dem alten Kapitalismus. Zerstört man seine Spitze, so tritt der alte Kapitalismus zutage. Auf dem Standpunkt stehen, es gäbe einen einheitlichen Imperialismus ohne den alten Kapitalismus, heißt das Gewünschte für Wirklichkeit halten.

Es ist das ein natürlicher Fehler, in den man sehr leicht verfallen kann. Hätten wir es tatsächlich mit einem einheitlichen Imperialismus zu tun, der den Kapitalismus durch und durch umgeformt hat, so wäre unsere Aufgabe hunderttausend Mal leichter. Es würde sich dann ein System ergeben, wo alles nur dem Finanzkapital untergeordnet ist. Dann brauchte man nur die Spitze zu entfernen und das übrige dem Proletariat zu übergeben. Das wäre außerordentlich angenehm, es entspricht aber nicht der Wirklichkeit. In Wirklichkeit nimmt die Entwicklung einen solchen Verlauf, dass wir ganz anders vorgehen müssen. Der Imperialismus ist ein Überbau über dem Kapitalismus. Wenn er zerfällt, so haben wir es mit der Zerstörung der Spitze und der Freilegung des Fundaments zu tun. Daher muss unser Programm, wenn es richtig sein will, aussprechen, was ist. Das was ist, ist der alte Kapitalismus, der sich in einer ganzen Reihe von Gebieten zum Imperialismus entwickelt hat. Seine Tendenzen sind nur imperialistische. Die Grundfragen können nur vom Standpunkt des Imperialismus betrachtet werden. Es gibt keine bedeutende Frage der Innen- oder Außenpolitik, die anders als vom Standpunkt dieser Tendenz entschieden werden könnte. Nicht davon spricht jetzt das Programm. In Wirklichkeit besteht ein gewaltiger Untergrund, gebildet vom alten Kapitalismus. Es gibt einen Überbau des Imperialismus, der den Krieg herbeigeführt hat, und diesem Krieg entsprang der Beginn der Diktatur des Proletariats. Über diese Phase kann man sich nicht hinwegsetzen. Diese Tatsache charakterisiert das Entwicklungstempo der proletarischen Revolution in der ganzen Welt und wird auf viele Jahre hinaus eine Tatsache bleiben.

Die westeuropäischen Revolutionen werden vielleicht einen glatteren Verlauf nehmen, aber trotzdem wird die Reorganisierung der ganzen Welt, die Reorganisierung der Mehrzahl der Länder viele, viele Jahre erfordern. Dies bedeutet aber, dass wir uns in der Übergangsperiode, die wir durchmachen, über diese mosaikartige Wirklichkeit nicht hinwegsetzen können. Diese aus verschiedenartigen Teilen zusammengesetzte Wirklichkeit kann man nicht beiseite werfen, wie unschön sie auch sein mag. Ein anders abgefasstes Programm ward falsch sein.

Wir sagen, dass wir zur Diktatur gekommen sind. Das ist verständlich. Aber man muss sich doch über das Wie Rechenschaft geben. Die Vergangenheit hält uns fest, greift nach uns mit tausend Armen, sie lässt uns keinen Schritt vorwärtskommen oder nötigt uns, diese Schritte so schlecht zu tun, wie wir es machen. Und wir sagen: um zu verstehen, in welche Lage wir geraten, muss man sagen, welchen Weg wir gegangen sind, was uns unmittelbar an die sozialistische Revolution herangeführt hat. Es war dies der Kapitalismus in seinen ursprünglichen Formen der Warenwirtschaft. Das alles muss man verstehen, denn nur, wenn wir die Wirklichkeit in Betracht ziehen, werden wir solche Fragen wie, sagen wir, unser Verhalten zur Mittelbauernschaft, lösen können. In der Tat, wieso gibt es im Zeitalter eines rein imperialistischen Kapitalismus den Mittelbauern? Hat es doch auch einfach kapitalistische Länder gegeben, wo er fehlte. Wenn wir die Frage unseres Verhaltens zu dieser schier mittelalterlichen Erscheinung (der Mittelbauernschaft) ausschließlich vom Standpunkt des Imperialismus und der Diktatur des Proletariats entscheiden werden, dann wird nichts Gescheites herauskommen und wir werden uns reichlich Beulen stoßen. Sollen wir aber unsere Haltung gegenüber dem Mittelbauern ändern, dann gebt euch die Mühe, auch im theoretischen Teil zu sagen, woher er kommt und was er ist. Er ist ein kleiner Warenproduzent. Das ist jenes Abc des Kapitalismus, das wir aussprechen müssen, weil wir über dieses Abc noch immer nicht hinausgekommen sind. Das aber mit einer Handbewegung abtun wollen und sagen: ,,Was brauchen wir das Abc, wenn wir schon den Finanzkapitalismus studiert haben!“ – das ist höchst unernst.

Dasselbe muss ich auch zur nationalen Frage sagen. Auch hier hält Genosse Bucharin das Gewünschte für Wirklichkeit. Er sagt, man dürfe das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nicht anerkennen. Nation, das sei Bourgeoisie mit dem Proletariat zusammen. Wir Proletarier sollen das Selbstbestimmungsrecht irgendeiner nichtswürdigen Bourgeoisie anerkennen! Wie reimt sich das? Entschuldigt schon, das reimt sich mit dem, was ist. Streicht ihr das, so wird ein Phantasiegebilde herauskommen. Ihr beruft euch auf den Differenzierungsprozess, der sich innerhalb der Nation vollzieht, auf den Prozess der Scheidung von Proletariat und Bourgeoisie. Wir wollen noch sehen, wie diese Differenzierung verlaufen wird.

Nehmt z. B. Deutschland, das Muster eines vorgeschrittenen kapitalistischen Landes, das in der Organisiertheit des Kapitalismus, des Finanzkapitalismus, Amerika übertraf. In vielen anderen Beziehungen, in Technik und Produktion sowie politisch, stand es hinter Amerika zurück, aber in der Organisiertheit des Finanzkapitalismus, in der Verwandlung des monopolistischen Kapitalismus in einen staatsmonopolistischen Kapitalismus war Deutschland Amerika voraus. Man könnte glauben, Deutschland sei ein Muster. Was geht dort aber vor? Hat sich das deutsche Proletariat von der Bourgeoisie differenziert? Nein! Wurde doch nur über einige Großstädte gemeldet, dass die Mehrheit der Arbeiter dort gegen die Scheidemänner ist. Wie kam das aber? Durch das Bündnis der Spartakusleute mit den deutschen, dreifach und verfluchten Menschewiki, den Unabhängigen, die alles durcheinanderbringen und das Sowjetsystem mit der Konstituierenden Versammlung verheiraten wollen! Das ist es, was in diesem Deutschland vorgeht! Und es ist doch ein vorgeschrittenes Land.

Genosse Bucharin sagt: „Wozu brauchen wir das Selbstbestimmungsrecht der Nationen?“ Ich muss das wiederholen, was ich ihm entgegnete, als er im Sommer 1917 beantragte, das Minimalprogramm wegzulassen und nur das Maximalprogramm beizubehalten. Ich antwortete damals: „Rühme dich nicht vor der Schlacht, sondern nach der Schlacht“. Wenn wir die Macht erobern und dann noch ein bisschen warten, dann werden wir es tun. Wir haben die Macht erobert, haben ein bisschen abgewartet, und jetzt bin ich einverstanden, es zu tun. Wir stehen nunmehr mitten im sozialistischen Aufbau, wir haben den ersten Ansturm, der uns bedrohte, zurückgeschlagen – jetzt wird das angebracht sein. Das gleiche gilt auch für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. „Ich will nur das Selbstbestimmungsrecht der werktätigen Klassen anerkennen“, sagt Genosse Bucharin. Ihr wollt also nur das anerkennen, was in Wirklichkeit nirgends erreicht ist, außer in Russland. Das ist lächerlich.

Man betrachte Finnland: Ein demokratisches, ein höher entwickeltes, ein kulturell höher stehendes Land als wir. Dort vollzieht sich ein Prozess der Herauskristallisierung, der Differenzierung des Proletariats; der Verlauf dieses Prozesses ist dort eigenartig, er ist viel schmerzlicher als bei uns. Die Finnen haben die Diktatur Deutschlands durchgemacht, jetzt stehen sie unter der Diktatur der Entente, und dank der Tatsache, dass wir das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkannt haben, wurde der Differenzierungsprozess dort erleichtert. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich im Smolny dem Vertreter der finnländischen Bourgeoisie Svinhufvud – was russisch „Schweinskopf“ heißt –, der dort eine Henkerrolle gespielt hat, die Urkunde einhändigen musste. Er drückte mir liebenswürdig die Hand, wir sagten uns gegenseitig Komplimente. Wie unangenehm das war! Aber das musste man tun, weil diese Bourgeoisie damals das Volk, die werktätigen Massen dadurch betrog, dass sie ihnen erzählte, die Moskowiter, die Chauvinisten, die Großrussen wollten die Finnen abwürgen. Man musste es also tun.

Und musste nicht gestern dasselbe gegenüber der baschkirischen Republik getan werden? Als Bucharin sagte: „Für manche könnte man dieses Recht anerkennen“, da notierte ich mir sogar, dass er in seiner Liste die Hottentotten, die Buschneger, die Hindus anführte. Als ich mir diese Aufzählung anhörte, fragte ich mich: Wie hat Bucharin eine nichtssagende Kleinigkeit, die Baschkiren, vergessen? Buschneger gibt es in Russland nicht, von den Hottentotten habe ich auch noch nicht gehört, dass sie auf eine autonome Republik Anspruch erheben, aber wir haben ja Baschkiren, Kirgisen, eine ganze Reihe anderer Völker, und ihnen können wir die Anerkennung nicht versagen. Keinem der Völker, das auf dem Gebiet des ehemaligen Russischen Reiches lebt, dürfen wir sie versagen. Nehmen wir sogar an, die Baschkiren hätten die Ausbeuter gestürzt und wir hätten ihnen dabei geholfen. Aber das ist ja nur dort möglich, wo die Umwälzung vollkommen herangereift ist. Überdies muss das mit Vorsicht getan werden, damit wir durch unsere Einmischung nicht jenen Prozess der Herauskristallisierung des Proletariats hintan halten, den wir ja beschleunigen müssen. Was können wir aber gegenüber solchen Völkern tun, die, wie die Kirgisen, die Usbeken, immer noch unter dem Einfluss ihrer Mullahs stehen? Bei uns in Russland hat die Bevölkerung, nach langjähriger Erfahrung mit den Popen, uns geholfen, sie zu stürzen. Aber ihr wisst, wie schlecht sich noch das Dekret über die Zivilehe eingebürgert hat. Können wir vor diese Usbeken treten und sagen: „Wir wollen eure Ausbeuter stürzen“? Das können wir nicht tun, weil sie ganz und gar unter dem Einfluss ihrer Mullahs stehen. Man muss hier die Entwicklung der betreffenden Nation, die unvermeidliche Absonderung des Proletariats von den bürgerlichen Elementen abwarten.

Aber Genosse Bucharin will nicht warten. Er ist voller Ungeduld: „Warum denn? Wo wir doch unsere Bourgeoisie gestürzt, die Sowjetmacht und die Diktatur des Proletariats ausgerufen haben, warum müssen wir denn so verfahren?“ Das wirkt wie ein begeisternder Appell, es enthält einen Hinweis auf unseren Weg, aber wenn wir in unserem Programm nur dieses eine verkünden werden, dann wird es kein Programm, sondern ein Aufruf sein. Wir können Sowjetmacht, Diktatur des Proletariats und volle Verachtung der Bourgeoisie, so wie sie es tausendfach verdient, proklamieren, aber in unserem Programm muss man mit absoluter Genauigkeit das aussprechen, was ist. Dann wird unser Programm unbestreitbar sein.

Wir stehen auf strengem Klassenstandpunkt. Das was wir im Programm schreiben, ist Feststellung dessen, was nach der Zeit, wo wir über die Selbstbestimmung der Nationen schlechthin schrieben, in Wirklichkeit geschehen ist. Damals gab es noch keine proletarischen Republiken. Nachdem sie entstanden waren, und nur in dem Maße, in dem sie in Erscheinung traten, konnten wir das schreiben, was wir hier geschrieben haben: „Föderative Vereinigung der nach dem Sowjettypus organisierten Staaten.“ Sowjettypus bedeutet noch nicht Sowjets, so wie sie in Russland existieren, aber der Sowjettypus wird international. Nur dies dürfen wir sagen. Weitergehen, einen Schritt, ein Haarbreit weitergehen, wäre schon falsch und taugt daher nicht ins Programm.

Wir sagen: man muss dem Rechnung tragen, auf welcher Stufe der Entwicklung vom Mittelalter zur bürgerlichen Demokratie und von der bürgerlichen zur proletarischen Demokratie die betreffende Nation steht. Das ist absolut richtig. Alle Nationen haben das Recht auf Selbstbestimmung – es lohnt sich nicht, von den Hottentotten und Buschnegern speziell zu reden. Die überwältigende Mehrheit, sicherlich neun Zehntel der ganzen Bevölkerung des Erdballs, vielleicht sogar 95 Prozent entsprechen dieser Charakteristik, denn alle Länder stehen auf dem Wege vom Mittelalter zur bürgerlichen oder von der bürgerlichen zur proletarischen Demokratie. Dieser Weg ist ganz unvermeidlich. Mehr darf man nicht sagen, weil es sonst falsch sein, weil es nicht das sein wird, was ist. Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen fallen lassen und statt dessen das Selbstbestimmungsrecht der Werktätigen setzen, ist vollkommen falsch, denn diese Betrachtungsweise trägt nicht den Schwierigkeiten, den verschlungenen Wegen der Differenzierung innerhalb der einzelnen Nationen Rechnung. In Deutschland verläuft sie anders als bei uns: in mancher Beziehung rascher, in mancher Beziehung nimmt sie einen langsameren und blutigeren Verlauf. Auf eine so ungeheuerliche Idee wie die Verbindung der Sowjets und der Konstituierenden Versammlung ist bei uns keine einzige Partei gekommen. Wir müssen ja Seite an Seite mit diesen Nationen leben. Schon sagen die Scheidemänner, wir wollten Deutschland erobern. Das ist natürlich lächerlich und unsinnig. Doch die Bourgeoisie hat ihre Interessen und ihre Presse, die diesen Unsinn in hunderten Millionen Exemplaren in der ganzen Welt verbreitet, und auch Wilson unterstützt das in seinem Interesse. Die Bolschewiki haben, so sagt man, eine große Armee und wollen durch die Eroberung Deutschlands ihren Bolschewismus dorthin verpflanzen. Die besten Menschen Deutschlands, die Spartakusleute, erzählten uns, wie die deutschen Arbeiter gegen die Kommunisten aufgehetzt werden: Seht, wie es bei den Bolschewiki schlecht aussieht! Dass es aber bei uns sehr gut aussieht, können wir in der Tat nicht sagen. Da versucht man nun auf die Massen durch das Argument einzuwirken, die proletarische Revolution in Deutschland bedeute die gleichen Missstände wie in Russland. Unsere Missstände, das ist unsere langwierige Krankheit. Bei der Schaffung der proletarischen Diktatur in unserem Lande haben wir mit ungeheuren Schwierigkeiten zu kämpfen. Solange die Bourgeoisie oder das Kleinbürgertum oder selbst ein Teil der deutschen Arbeiter von diesem Schreckgespenst beeinflusst werden: „Die Bolschewiki wollen bei uns gewaltsam den Bolschewismus einführen“ – solange wird die Formulierung „Selbstbestimmung der Werktätigen“ die Lage nicht erleichtern. Wir müssen so vorgehen, dass den deutschen Sozialverrätern die Möglichkeit genommen wird zu sagen, die Bolschewiki wollten ihr Universalsystem aufzwingen, das man angeblich auf den Spitzen der Rotarmistenbajonette nach Berlin tragen könne. Vom Standpunkt der Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen kann es aber tatsächlich so aufgefasst werden.

Unser Programm darf nicht von Selbstbestimmung der Werktätigen sprechen, weil das falsch ist. Es muss aussprechen, was ist. Stehen die Nationen auf verschiedenen Stufen der Entwicklung vom Mittelalter zur bürgerlichen und von der bürgerlichen zur proletarischen Demokratie, so ist dieser Satz unseres Programms vollkommen richtig. Auf diesem Wege gab es bei uns sehr viele Zickzacke. Jede Nation muss das Selbstbestimmungsrecht erhalten, das trägt zur Selbstbestimmung der Werktätigen bei. In Finnland vollzieht sich der Prozess der Absonderung des Proletariats von der Bourgeoisie bemerkenswert klar, intensiv und tief. Dort wird jedenfalls alles anders verlaufen als bei uns. Wenn wir sagen werden, dass wir keine finnländische Nation, sondern nur die werktätigen Massen anerkennen, so wird das die größte Kinderei sein. Man kann dem, was ist, nicht die Anerkennung versagen: es wird die Anerkennung selbst erzwingen. In den verschiedenen Ländern geht die Scheidung zwischen Proletariat und Bourgeoisie ihre eigenartigen Wege. Hier ist größte Vorsicht unsererseits geboten. Ganz besonders vorsichtig muss man gegenüber verschiedenen Nationen sein, denn es gibt nichts Schlimmeres als Misstrauen gegen eine Nation. Bei den Polen geht die Selbstbestimmung des Proletariats vor sich. Hier die letzten Zahlen über die Zusammensetzung des Warschauer Arbeiterrates: polnische Sozialverräter 333, Kommunisten 297. Das zeigt, dass dort nach unserem revolutionären Kalender der Oktober nicht mehr weit ist. Eis ist so etwas wie August oder September 1917. Aber erstens ist noch kein Dekret veröffentlicht, laut welchem alle Länder sich nach dem bolschewistischen revolutionären Kalender zu richten haben; und wenn es auch veröffentlicht wäre, so würde man es nicht befolgen. Zweitens liegen die Dinge so, dass die Mehrheit der polnischen Arbeiter, die weiter vorgeschritten sind und kulturell höher stehen als unsere, auf dem Standpunkt der „sozialistischen“ Vaterlandsverteidigung, auf dem Standpunkt des Sozialpatriotismus steht. Da heißt es abwarten. Da darf man nicht von der Selbstbestimmung der werktätigen Massen reden. Wir müssen diese Differenzierung propagieren. Das tun wir, aber es besteht nicht der geringste Zweifel darüber, dass man die Selbstbestimmung der polnischen Nation sofort anerkennen muss. Das ist klar. Die polnische proletarische Bewegung steuert auf das gleiche Ziel los wie die unsrige, auf die Diktatur des Proletariats, aber sie geht einen anderen Weg als in Russland. Auch dort will man die Arbeiter damit schrecken, dass die Moskowiter, die Großrussen, die die Polen stets unterdrückt haben, unter der Maske des Kommunismus ihren großrussischen Chauvinismus nach Polen tragen wollen. Der Kommunismus wird nicht durch Gewalt eingeimpft. Als ich einem der besten polnischen kommunistischen Genossen sagte: „Ihr werdet es anders machen“, antwortete er mir: „Nein wir werden das gleiche machen, aber besser als ihr“. Gegen ein solches Argument konnte ich rein gar nichts einwenden. Man muss die Möglichkeit geben, diesen bescheidenen Wunsch, die Sowjetmacht besser zu machen als bei uns, zu erfüllen. Man muss der Tatsache Rechnung tragen, dass der Weg dort ein etwas eigenartiger ist, und man darf nicht sagen: „Nieder mit dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen! Nur den werktätigen Massen gewähren wir Selbstbestimmungsrecht“. Diese Selbstbestimmung geht einen sehr komplizierten und schwierigen Weg. Nur in Russland gibt es sie, und man darf nichts aus Moskau dekretieren, sondern muss alle Entwicklungsstadien in anderen Ländern voraussehen. Daher ist dieser Antrag prinzipiell unannehmbar.

Nunmehr gehe ich zu den anderen Punkten über, die ich laut dem von uns aufgestellten Plan zu beleuchten habe. An erster Stelle will ich die Frage der kleinen Eigentümer und der Mittelbauern behandeln. Darüber heißt es in § 47:

Gegenüber der Mittelbauernschaft besteht die Politik der KPR in ihrer allmählichen und planmäßigen Hineinziehung in die sozialistische Aufbauarbeit. Die Partei stellt sich die Aufgabe, sie von den Kulaken loszulösen, sie durch aufmerksames Entgegenkommen allen ihren Bedürfnissen auf die Seite der Arbeiterklasse zu ziehen. Dabei bekämpft die Partei die Rückständigkeit der Mittelbauernschaft durch Maßnahmen geistiger Beeinflussung, keinesfalls aber durch Unterdrückungsmaßnahmen. In allen Fällen, wo die Lebensinteressen der Mittelbauernschaft berührt sind, erstrebt die Partei eine praktische Verständigung mit ihr und macht der Mittelbauernschaft Zugeständnisse bei der Bestimmung der Methoden der Durchführung sozialistischer Reformen“.

Ich glaube, dass wir hier dasselbe formulieren, was auch die Begründer des Sozialismus über die Mittelbauernschaft wiederholt gesagt haben. Ein Mangel dieses Punktes ist nur, dass er nicht konkret genug ist. Im Programm könnten wir wohl kaum mehr sagen, aber auf dem Parteitag werden nicht nur programmatische Fragen gestellt, und der Frage der Mittelbauernschaft müssen wir doppelte und dreifache Aufmerksamkeit zuwenden. Gegenwärtig haben wir gerade davon Mitteilung erhalten, dass in den Aufständen, die sich bereits wie eine Welle über das landwirtschaftliche Russland zu ergießen begonnen haben, ein gemeinsamer Plan klar zutage tritt und dass dieser Plan in deutlicher Verbindung mit dem Kriegsplan der Weißgardisten steht, die für den Monat März eine allgemeine Offensive und die Organisierung einer Reihe von Aufständen beschlossen haben. Beim Präsidium des Parteitages liegt der Entwurf eines Aufrufes des Parteitages; dieser Entwurf wird euch vorgelegt werden. Diese Aufstände zeigen uns mit aller Klarheit, dass die linken Sozialrevolutionäre und ein Teil der Menschewiki – in Brjansk haben Menschewiki am Aufstand gearbeitet – die Rolle direkter Agenten der Weißgardisten spielen. Allgemeine Offensive der Weißgardisten, Aufstände in den Dörfern, Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs – sollte es nicht gelingen, die Bolschewiki auf diese Weise zu stürzen? Hier tritt die Rolle der Mittelbauernschaft besonders klar, in ihrer ganzen lebenswichtigen Dringlichkeit zutage. Auf dem Parteitag müssen wir nicht nur unsere nachgiebige Haltung gegenüber der Mittelbauernschaft mit besonderem Nachdruck betonen, sondern auch über eine ganze Reihe möglichst konkreter Maßnahmen nachdenken, die der Mittelbauernschaft wenigstens irgend etwas Unmittelbares bringen. Das ist dringend notwendig sowohl im Interesse der Selbsterhaltung als auch im Interesse des Kampfes gegen alle unsere Feinde, die wissen, dass der Mittelbauer zwischen uns und ihnen hin und her schwankt, und die bestrebt sind, ihn uns abspenstig zu machen. Unsere heutige Lage ist dadurch gekennzeichnet, dass wir gewaltige Reserven haben. Wir wissen, dass die polnische und die ungarische Revolution heranwachsen, und zwar sehr rasch. Diese Revolutionen werden uns proletarische Reserven geben, werden unsere Lage erleichtern und unsere proletarische Basis, die bei uns schwach ist, kolossal festigen. Das kann in den nächsten Monaten geschehen, aber wir wissen nicht, wann es geschehen wird. Ihr wisst, dass jetzt ein kritischer Augenblick eingetreten ist, daher gewinnt jetzt die Frage der Mittelbauernschaft gewaltige praktische Bedeutung.

Ferner möchte ich auf das Thema der Genossenschaften eingehen – das ist der § 48 unseres Programms. In einem gewissen Sinne ist dieser Paragraph veraltet. Als wir ihn in der Kommission niederschrieben, hatten wir Genossenschaften, aber keine Konsumentenkommunen, einige Tage später jedoch wurde ein Dekret über die Verschmelzung aller Arten der Genossenschaften zu einer einheitlichen Konsumentenkommune beschlossen. Ich weiß nicht, ob dieses Dekret bereits veröffentlicht ist und ob die Mehrzahl der Anwesenden es kennt. Wenn nicht, so erfolgt die Veröffentlichung morgen oder übermorgen. In dieser Beziehung ist dieser Paragraph bereits veraltet, aber ich glaube trotzdem, dass er notwendig ist, denn wir wissen alle sehr gut, dass der Abstand zwischen dem Erlass eines Dekrets und seiner Ausführung ein ganz ansehnlicher ist. Mit den Genossenschaften mühen wir uns bereits seit April 1918 ab und haben bedeutende, aber noch nicht ausschlaggebende Erfolge erzielt. Die genossenschaftliche Vereinigung der Bevölkerung haben wir mitunter in einem derartigen Umfang erreicht, dass in vielen Kreisen die ländliche Bevölkerung zu 98 Prozent bereits vereinigt ist. Aber diese Genossenschaften, die schon in der kapitalistischen Gesellschaft bestanden, sind ganz vom Geist der bürgerlichen Gesellschaft durchdrungen, an ihrer Spitze stehen Menschewiki und Sozialrevolutionäre, bürgerliche Fachleute. Wir haben es noch nicht verstanden, sie uns zu unterordnen, in diesem Punkt bleibt unsere Aufgabe ungelöst. Unser Dekret macht einen Schritt vorwärts im Sinne der Schaffung von Konsumentenkommunen, es schreibt für ganz Russland die Verschmelzung aller Arten von Genossenschaften vor. Doch auch dieses Dekret, selbst wenn es im vollen Umfang durchgeführt wird, sieht eine autonome Sektion der Arbeitergenossenschaften innerhalb der zukünftigen Konsumentenkommune vor, da die praktisch erfahrenen Vertreter der Arbeitergenossenschaften uns gesagt und bewiesen haben, dass die Arbeitergenossenschaften als die höher entwickelten Organisationen beibehalten werden müssen, insofern als ihre Tätigkeit notwendig ist. Bei uns in der Partei gab es über die Genossenschaften zahlreiche Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen, es gab Reibungen zwischen den Bolschewiki in den Genossenschaften und den Bolschewiki in den Sowjets. Prinzipiell muss die Frage meines Erachtens zweifelsohne in dem Sinne entschieden werden, dass dieser Apparat, der einzige, den der Kapitalismus in den Massen herangebildet hat, der einzige, der unter den noch auf der Entwicklungsstufe des primitiven Kapitalismus stehenden Massen der Landbevölkerung funktioniert, um jeden Preis erhalten, entwickelt werden soll und keinesfalls verworfen werden darf. Die Aufgabe ist hier eine schwere, weil an der Spitze der Genossenschaften in den meisten Fällen bürgerliche Fachleute stehen, die durchweg ausgesprochene Weißgardisten sind. Daher der Hass, der berechtigte Hass gegen sie, der Kampf gegen sie. Aber dieser Kampf muss natürlich mit Verstand geführt werden: die konterrevolutionären Gelüste der Genossenschafter müssen unterbunden werden, aber das darf kein Kampf gegen den Genossenschaftsapparat sein. Die konterrevolutionären Genossenschafter müssen wir absägen, den Apparat müssen wir uns unterordnen. Die Aufgabe steht hier ganz in derselben Weise wie gegenüber den bürgerlichen Fachleuten, und das ist eine weitere Frage, auf die ich eingehen möchte.

Die Frage der bürgerlichen Fachleute führt zu häufigen Reibungen und Differenzen. Als ich vor einigen Tagen im Petrograder Sowjet sprach, da war in den mir vorgelegten schriftlichen Fragen mehrmals von der Gehaltsfrage die Rede. Man fragte mich: Ist es denn zulässig, in einer sozialistischen Republik Gehälter bis zu 3000 Rubel zu zahlen? Wir haben eigentlich diese Frage ins Programm aufgenommen, weil die Unzufriedenheit damit ziemlich große Kreise zieht. Die Frage der bürgerlichen Fachleute spielt in der Armee, in der Industrie, in den Genossenschaften, überall eine Rolle. Sie ist eine äußerst wichtige Frage der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus. Wir können den Kommunismus nur dann aufbauen, wenn wir ihn mit den Mitteln der bürgerlichen Wissenschaft und Technik den Massen zugänglicher machen. Anders kann die kommunistische Gesellschaft nicht aufgebaut werden. Um sie aber in dieser Weise aufzubauen, muss man den Apparat der Bourgeoisie ausnützen, muss man alle diese Fachleute zur Arbeit heranziehen. Im Programm haben wir absichtlich diese Frage eingehend behandelt, um sie radikal zu lösen. Wir wissen ausgezeichnet, was die kulturelle Rückständigkeit Russlands bedeutet, wie sie auf die Sowjetmacht zurückwirkt, die im Prinzip eine ungleich höhere, proletarische Demokratie, ein Vorbild dieser Demokratie für die ganze Welt gegeben hat; wir wissen, wie diese Kulturlosigkeit die Sowjetmacht herabdrückt und die Bürokratie wiederaufleben lässt. Der Sowjetapparat soll allen Werktätigen zugänglich sein, aber in Wirklichkeit ist er es, wie wir alle wissen, noch lange nicht. Und das durchaus nicht aus dem Grunde, weil etwa die Gesetze das verhinderten, wie es unter der Bourgeoisie war, im Gegenteil: die Gesetze tragen dazu bei. Aber mit Gesetzen allein ist es nicht getan. Es bedarf einer Menge erzieherischer, organisatorischer und Kulturarbeit, und das kann nicht durch ein Gesetz binnen kurzer Zeit erreicht werden, das verlangt eine gewaltige, langwierige Arbeit. Die Frage der bürgerlichen Fachleute muss auf dem gegenwärtigen Parteitag mit aller Bestimmtheit entschieden werden. Ein solcher Beschluss wird den Genossen, die den Verlauf des Parteitages zweifellos verfolgen, die Möglichkeit geben, sich auf seine Autorität zu stützen und zu sehen, auf welche Schwierigkeiten wir stoßen; er wird den Genossen, die auf Schritt und Tritt auf diese Fragen stoßen, helfen, sich zumindest an der propagandistischen Arbeit zu beteiligen.

Die Vertreter der Spartakusleute auf dem Kongress hier in Moskau erzählten uns, dass in Westdeutschland, wo die Industrie besonders hoch entwickelt, wo der Einfluss der Spartakus-Leute unter der Arbeiterschaft am stärksten ist, obwohl sie noch nicht gesiegt haben, in sehr vielen der größten Betriebe die Ingenieure, die Betriebsleiter zu ihnen kamen und sagten: „Wir gehen mit euch.“ Bei uns gab es das nicht. Offenbar haben dort das höhere Kulturniveau der Arbeiter, der höhere Proletarisierungsgrad des technischen Personals, vielleicht eine ganze Reihe anderer Ursachen, die uns unbekannt sind, solche Verhältnisse geschaffen, die sich von den unsrigen einigermaßen unterscheiden.

Jedenfalls liegt für uns hier eines der Haupthindernisse für die weitere Vorwärtsbewegung. Wir müssen sofort, ohne auf Unterstützung durch andere Länder zu warten, sofort und unverzüglich die Produktivkräfte des Landes heben. Ohne bürgerliche Fachleute ist das unmöglich. Das muss ein für allemal gesagt werden. Natürlich, diese Fachleute sind in ihrer Mehrheit von der bürgerlichen Weltanschauung durchdrungen. Man muss sie mit einer Atmosphäre kameradschaftlicher Zusammenarbeit, mit Arbeiterkommissaren, kommunistischen Zellen umgeben, sie in eine solche Lage bringen, dass sie nicht loskommen können, aber zugleich muss ihnen die Möglichkeit gegeben werden, unter besseren Verhältnissen zu arbeiten als im Kapitalismus, denn diese von der Bourgeoisie erzogene Schicht wird anders nicht arbeiten. Eine ganze Schicht mit dem Stock zur Arbeit zu zwingen, ist unmöglich, das haben wir zur Genüge erfahren. Man kann sie zwingen, sich an der Konterrevolution nicht aktiv zu beteiligen, man kann sie einschüchtern, so dass sie sich fürchten, nach einem weißgardistischen Flugblatt die Hand auszustrecken. In dieser Beziehung handeln die Bolschewiki energisch. Das kann man tun, und das tun wir auch zur Genüge. Das haben wir alle gelernt. Aber eine ganze Schicht in dieser Weise zur Arbeit zu zwingen, ist unmöglich. Diese Leute sind Kulturarbeit gewöhnt, sie haben sie im Rahmen der bürgerlichen Ordnung geleistet, d. h. sie haben die Bourgeoisie durch gewaltige materielle Errungenschaften bereichert, von denen für das Proletariat nur winzige Brocken abfielen – aber sie haben die Kultur vorwärts gebracht, das war ihr Beruf. In dem Maße, wie sie sehen, dass aus der Arbeiterklasse organisierte, vorgeschrittene Schichten emporsteigen, die die Kultur nicht nur schätzen, sondern auch bei ihrer Verbreitung unter den Massen mithelfen, ändern sie ihr Verhalten uns gegenüber. Wenn ein Arzt sieht, dass das Proletariat im Kampf gegen Epidemien die Selbsttätigkeit der Werktätigen hebt, so verhält er sich zu uns schon ganz anders. Wir haben eine bedeutende Schicht dieser bürgerlichen Ärzte, Ingenieure, Agronomen, Genossenschafter, und wenn sie alle in der Praxis sehen, dass das Proletariat immer breitere Massen zur Kulturarbeit heranzieht, dann werden sie moralisch besiegt und nicht nur politisch von der Bourgeoisie los getrennt sein. Dann wird unsere Aufgabe leichter werden. Dann werden sie von selbst in unseren Apparat hineingezogen, zu einen Teil desselben werden. Um dies zu erreichen, muss man Opfer bringen. Wenn wir dafür sogar zwei Milliarden zahlen müssen – das ist eine Lappalie. Es wäre Kinderei, dieses Opfer zu scheuen, denn es würde bedeuten, dass wir die vor uns stehenden Aufgaben nicht begreifen.

Das Darniederliegen von Verkehr, Industrie und Landwirtschaft untergräbt die ganze Existenz der Sowjetrepublik. Wir müssen hier die allerenergischsten Maßnahmen ergreifen, die alle Kräfte des Landes bis aufs Äußerste anspannen. Den Fachleuten gegenüber dürfen wir keine Politik kleinlicher Schikanen befolgen. Diese Fachleute sind nicht Helfershelfer der Ausbeuter, sondern Kulturarbeiter, die in der bürgerlichen Gesellschaft der Bourgeoisie gedient haben und von denen alle Sozialisten der ganzen Welt sagten, dass sie in der proletarischen Gesellschaft uns dienen werden. In dieser Übergangsperiode müssen wir für sie möglichst gute Existenzbedingungen schaffen. Das wird die beste Politik, das wird das sparsamste Wirtschaften bedeuten. Sonst können wir zwar einige hunderte Millionen ersparen, aber dabei so viel verlieren, dass man dieses Verlorene nicht mit Milliarden wiederherstellen kann.

Als ich mich mit Genossen Schmidt, dem Arbeitskommissar, über die Lohnfrage unterhielt, verwies er auf folgende Tatsachen. Er sagt, dass wir für die Ausgleichung der Löhne so viel getan haben, wie kein bürgerlicher Staat je getan hat und auch nicht im Laufe von Jahrzehnten tun kann. Man betrachte die Löhne der Vorkriegszeit: ein ungelernter Arbeiter verdiente einen Rubel pro Tag, d. h. 25 Rubel monatlich. Ein Fachmann aber hatte 500 Rubel Monatsgehalt, ganz abgesehen von denen, die Hunderttausende bezahlt bekamen. Ein Fachmann bekam zwanzig mal soviel wie ein Arbeiter. Unsere heutigen Sätze bewegen sich zwischen 600 und 3000 Rubeln – der Unterschied beträgt nur das Fünffache. Somit ist für die Ausgleichung sehr viel getan. Natürlich, die Fachleute sind jetzt bei uns überbezahlt. Aber nicht nur, dass sich das verlohnt, es ist auch unbedingt notwendig und theoretisch unvermeidlich, dass wir ihnen höheres Lehrgeld zahlen. Im Programm ist diese Frage meines Erachtens eingehend genug behandelt. Sie ist mit größtem Nachdruck zu betonen. Nicht nur, dass sie hier prinzipiell entschieden werden muss, sondern man muss auch erreichen, dass alle Teilnehmer am Parteitag, wenn sie nach Hause zurückkehren, durch Berichte an ihre Organisationen, durch ihre ganze Tätigkeit die Durchführung dieses Beschlusses erwirken.

Unter den schwankenden Intellektuellen haben wir bereits einen gewaltigen Umschwung herbeigeführt. Sprachen wir gestern noch von der Legalisierung der kleinbürgerlichen Parteien, während wir heute Menschewiki und Sozialrevolutionäre verhaften lassen, so verfolgen wir bei diesen Schwankungen ein ganz bestimmtes System. Durch alle diese Schwankungen zieht sich eine feste Linie: die Konterrevolution absägen, den kulturell-bürgerlichen Apparat ausnützen. Die Menschewiki sind die schlimmsten Feinde des Sozialismus, denn sie werfen sich ein proletarisches Mäntelchen um, sind aber eine unproletarische Schicht, in dieser Schicht ist nur ein verschwindend kleiner oberer Teil proletarisch, sie selbst aber besteht aus kleinen Intellektuellen. Diese Schicht wendet sich uns zu: Wir werden sie ganz und gar für uns gewinnen. Jedes mal, wenn sie zu uns kommen, sagen wir ihnen: „Willkommen!“ Bei jeder dieser Schwankungen kommt ein Teil von ihnen zu uns. So war es mit den Menschewiki und der Gruppe „Nowaja Schisn“, so war es mit den Sozialrevolutionären, so wird es auch mit all diesen schwankenden Elementen sein, die uns noch lange den Weg vertreten, flennen, aus einem Lager ins andere überlaufen werden. Mit ihnen ist nichts anzufangen. Aber bei jeder dieser Schwankungen werden wir Schichten kulturell hochstehender Intellektueller für die Reihen der Sowjetfunktionäre gewinnen und jene Elemente absägen, die fortfahren, die Weißgardisten zu unterstützen.

Eine weitere Frage, deren Behandlung nach der Aufteilung der Themen zu meiner Aufgabe gehört, ist die Frage des Bürokratismus und der Heranziehung der breiten Massen zur Arbeit in den Sowjets. Schon seit geraumer Zeit werden Klagen über Bürokratismus laut, zweifellos berechtigte Klagen. Im Kampf gegen den Bürokratismus haben wir das getan, was noch kein Staat getan hat. Den Apparat, der durch und durch bürokratisch, der ein bürgerlicher Unterdrückungsapparat war, der selbst in den freiesten bürgerlichen Republiken ein solcher bleibt – den haben wir bis auf den Grund zerstört. Nehmen wir z. B. das Gerichtswesen. Hier war die Aufgabe freilich leichter, hier brauchten wir keinen neuen Apparat zu schaffen, denn ein jeder kann, gestützt auf das revolutionäre Rechtsbewusstsein der werktätigen Klassen, als Richter tätig sein. Wir haben hier die Sache noch lange nicht zu Ende geführt, aber in einer ganzen Reihe von Gebieten haben wir die Gerichte zu dem gemacht, was sie sein müssen. Wir haben Organe geschaffen, an denen sich nicht nur Männer sondern auch Frauen, das rückständigste und schwerfälligste Element, alle ohne Ausnahme werden beteiligen können.

Die Angestellten der anderen Verwaltungszweige sind mehr verknöcherte Bürokraten. Hier ist die Aufgabe schwieriger. Ohne diesen Apparat können wir nicht auskommen, jeder Verwaltungszweig ruft das Bedürfnis nach einem solchen Apparat hervor. Hier leiden wir darunter, dass Russland kapitalistisch nicht genügend entwickelt war. In Deutschland verläuft dieser Prozess augenscheinlich leichter, denn der bürokratische Apparat drüben hat eine tüchtige Schule durchgemacht: die Leute werden zwar geschunden, dafür aber angehalten, wirklich zu arbeiten und nicht nur Sessel zu drücken, wie es in unseren Kanzleien oft vorkommt. Diese alten bürokratischen Elemente haben wir auseinandergejagt, dann durchgesiebt und begonnen, sie auf neue Plätze zu stellen. Zaristische Bürokraten begannen in Sowjetinstitutionen zu arbeiten und Bürokratismus einzuführen, begannen sich als Kommunisten zu verkleiden und, um besser Karriere zu machen, sich Parteibücher zu verschaffen. So kommen sie, nachdem man sie zur Tür hinaus gejagt hat, zum Fenster wieder herein! Hier wirkt sich der Mangel an kulturellen Kräften am stärksten aus. Diese Bürokraten könnte man glatt nach Hause schicken, aber mit einem Schlag umerziehen lassen sie sich nicht. Hier stehen vor uns in erster Linie organisatorische, erzieherische und Kulturaufgaben.

Den Bürokratismus bis ans Ende, bis zum vollen Sieg zu bekämpfen, wird nur dann möglich sein, wenn sich die ganze Bevölkerung an der Verwaltung beteiligen wird. In bürgerlichen Republiken war das nicht nur unmöglich: das Gesetz selbst stand dem im Wege. Die besten bürgerlichen Republiken, wie demokratisch sie auch sind, haben tausend vom Gesetz errichtete Schranken, die die Beteiligung der Werktätigen an der Verwaltung verhindern. Wir haben diese Schranken hinweg geräumt, aber wir haben noch nicht erreicht, dass die werktätigen Massen sich an der Verwaltung beteiligen, denn außer den Gesetzen gibt es noch das Kulturniveau, das sich keinem Gesetz unterwerfen lässt. Dieses niedrige Kulturniveau bewirkt, dass die Sowjets, die nach ihrem Programm Organe der Verwaltung durch die Werktätigen sein sollen, in Wirklichkeit Organe der Verwaltung für die Werktätigen sind, ausgeübt von der vorgeschrittenen Schicht des Proletariats, nicht aber von den werktätigen Massen selbst.

Wir stehen hier vor einer Aufgabe, die nicht anders als durch langwierige Erziehungsarbeit gelöst werden kann. Gegenwärtig ist diese Aufgabe für uns ungeheuer schwierig, denn – worauf hinzuweisen ich bereits mehrfach Gelegenheit hatte – die Schicht der an der Verwaltungstätigkeit beteiligten Arbeiter ist außerordentlich, unglaublich dünn. Wir brauchen Verstärkung. Allen Anzeichen nach wächst im Lande eine solche Reserve heran. Der gewaltige Wissensdrang, der gewaltige Fortschritt der Bildung, die zumeist außerhalb der Schule erreicht wird, der gewaltige Bildungsfortschritt der werktätigen Massen steht außer Zweifel. Er spielt sich nicht in irgendeinem schulmäßigen Rahmen ab, aber er ist gewaltig. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass wir in der nächsten Zukunft einen starken Nachwuchs erhalten können, der die überanstrengten Vertreter der dünnen proletarischen Schicht bei der Arbeit ablösen wird. Jedenfalls ist aber heute unsere Lage in dieser Beziehung äußerst schwierig. Die Bürokratie ist besiegt, die Ausbeuter sind beseitigt. Aber das Kulturniveau ist nicht gestiegen, und deshalb sitzen die Bürokraten an ihren allen Plätzen. Sie können nur durch eine Organisation des Proletariats und der Bauernschaft verdrängt werden, die viel umfassender wäre als früher, sowie durch gleichzeitige wirksame Maßnahmen zur Heranziehung der Arbeiter zur Verwaltungstätigkeit. Diese Maßnahmen im Rahmen jedes einzelnen Volkskommissariats sind euch allen bekannt, und ich werde auf sie nicht weiter eingehen.

Der letzte Punkt, auf den ich einzugehen habe, ist die führende Rolle des Proletariats und die Entziehung des Wahlrechts. Unsere Verfassung sieht die Bevorzugung des Proletariats gegenüber der Bauernschaft und die Beseitigung des Wahlrechts für die Ausbeuter vor. Das ist der Punkt, der von den reinen Demokraten Westeuropas am meisten angegriffen wurde. Wir antworteten und antworten ihnen darauf, dass sie die wichtigsten Grundsätze des Marxismus vergessen haben, dass sie vergessen, dass es sich bei ihnen um bürgerliche Demokratie handelt, während wir zur proletarischen übergegangen sind. Es gibt kein, einziges Land, das auch nur den zehnten Teil dessen getan hätte, was die Sowjetmacht in den vergangenen Monaten für die Heranziehung der Arbeiter und armen Bauern zu der Verwaltung des Staates geleistet hat. Das ist absolute Wahrheit. Niemand vermag zu leugnen, dass wir im Sinne wirklicher, nicht papierner Demokratie für die Heranziehung von Arbeitern und Bauern so viel getan haben, wie die besten demokratischen Republiken im Laufe von Jahrhunderten nicht getan haben und auch nicht tun konnten. Das hat die Bedeutung der Sowjets bestimmt, dank dieser Tatsache sind die Sowjets zur Losung des Proletariats aller Länder geworden.

Aber das vermag uns in keiner Weise davor zu retten, dass wir über das ungenügende Kulturniveau der Massen stolpern. Die Frage der Entziehung des Wahlrechts der Bourgeoisie betrachten wir keineswegs von einem absoluten Standpunkt, denn theoretisch ist es durchaus zulässig, dass die Diktatur des Proletariats, die die Bourgeoisie auf Schritt und Tritt unterdrücken wird, ihr das Wahlrecht lassen kann. Das ist theoretisch durchaus denkbar, und wir stellen unsere Verfassung auch nicht als Vorbild für andere Staaten hin. Wir sagen nur: wer sich den Übergang zum Sozialismus ohne Unterdrückung der Bourgeoisie vorstellt, der ist kein Sozialist. Wenn es aber notwendig ist, die Bourgeoisie als Klasse zu unterdrücken, so ist es nicht unbedingt notwendig, ihr Wahlrecht und Gleichstellung zu entziehen. Wir wollen keine Freiheit für die Bourgeoisie, wir erkennen keine Gleichheit der Ausgebeuteten und der Ausbeuter an, aber in unserem Programm behandeln wir die Frage so, dass solche Maßnahmen wie die Ungleichheit der Arbeiter und der Bauern von der Verfassung keineswegs vorgeschrieben sind. Sie wurden in die Verfassung aufgenommen, nachdem sie sich praktisch eingebürgert hatten. Es waren nicht einmal die Bolschewiki, die die Sowjetverfassung ausarbeiteten, sondern es waren die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die das noch vor der bolschewistischen Revolution taten und so gegen sich selbst handelten. Sie arbeiteten die Verfassung so aus, wie das Leben selbst es verlangte. Die Organisierung des Proletariats vollzog sich viel rascher als die der Bauernschaft – das machte die Arbeiter zur Stütze der Revolution und gab ihnen faktisch eine Vorzugsstellung. Die weitere Aufgabe ist die, von dieser Vorzugsstellung allmählich zur Gleichstellung überzugehen. Weder vor noch nach der Oktoberrevolution wurde die Bourgeoisie aus den Sowjets hinaus gejagt Die Bourgeoisie hat die Sowjets selber verlassen.

So liegen die Dinge mit dem Wahlrecht der Bourgeoisie. Unsere Aufgabe ist es, die Frage mit voller Klarheit zu stellen. Wir entschuldigen uns gar nicht wegen unseres Benehmens, sondern wir zählen nur genau die Tatsachen auf, so wie sie in Wirklichkeit sind. Wie wir darauf hinweisen, musste unsere Verfassung diese Ungleichheit festsetzen, weil das Kulturniveau niedrig, weil die Organisation bei uns schwach ist. Jedoch erheben wir diesen Zustand nicht zum Ideal, sondern im Gegenteil, laut Programm verpflichtet sich unsere Partei, an der Aufhebung dieser Ungleichheit zwischen dem höher organisierten Proletariat und der Bauernschaft systematisch zu arbeiten. Wir werden diese Ungleichheit beseitigen müssen, sobald es uns nur gelingt, das Kulturniveau zu heben. Dann werden wir ohne derlei Einschränkungen auskommen können. Schon heute, nach nur siebzehn Monaten Revolution, sind diese Beschränkungen praktisch nur von durchaus geringer Bedeutung.

Das sind die wichtigsten Punkte, Genossen, auf die bei der allgemeinen Erörterung des Programms einzugehen ich für notwendig hielt. Die weitere Erörterung überlasse ich der Diskussion. (Beifall.)

Kommentare