IX. Der „radikale" Kommunismus in England

IX

Der „radikale“ Kommunismus in England”

In England besteht noch keine kommunistische Partei, aber es gibt eine frische, breite, machtvolle, schnell anwachsende kommunistische Bewegung unter den Arbeitern, die zu den besten Hoffnungen berechtigt. Es gibt einige politische Parteien und Organisationen (wie die „Britische Sozialistische Partei“, die „Sozialistische Arbeiterpartei“, die „Sozialistische Gesellschaft von Süd-Wales“, die „Sozialistische Arbeiterföderation“), die eine kommunistische Partei zu schaffen wünschen und darüber bereits miteinander Verhandlungen führen. In der Wochenschrift „Worker's Dreadnought“ (Bd. VI, Nr. 48 v. 21.2.1920), dem Organ der letzten unter den aufgezählten Organisationen, das von Genossin Sylvia Pankhurst redigiert wird, finden wir ihren Artikel „Zur Kommunistischen Partei“. Der Artikel schildert den Gang der Verhandlungen zwischen den vier genannten Organisationen über die Bildung einer einheitlichen kommunistischen Partei auf der Grundlage des Anschlusses an die III. Internationale, der Anerkennung des Rätesystems an Stelle des Parlamentarismus, der Anerkennung der Diktatur des Proletariats, Und es stellt sich heraus: eines der Haupthindernisse für die sofortige Schaffung einer einheitlichen kommunistischen Partei sind die Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Beteiligung am Parlament und des Beitritts der neuen kommunistischen Partei zur alten, gewerkschaftlichen, opportunistischen und sozialchauvinistischen „Arbeiterpartei“, die sich vorwiegend aus Trade Unions zusammensetzt. Die „Sozialistische Arbeiterföderation“ und die „Sozialistische Arbeiterpartei“* sprechen sich gegen die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Parlament, gegen den Anschluss an die Arbeiterpartei aus, und in dieser Beziehung gehen ihre Ansichten mit denen aller oder der Mehrheit der Mitglieder der Britischen Sozialistischen Partei auseinander, die in ihren Augen der „rechte Flügel der kommunistischen Parteien“ in England ist (S. 5 des erwähnten Artikels von Sylvia Pankhurst),

Die grundlegende Teilung der Meinungen ist demnach dieselbe wie in Deutschland, trotz der ungeheuren Unterschiede in Bezug auf die Form der Meinungsverschiedenheiten (in Deutschland kommt diese Form der „russischen“ bedeutend näher als in England) und in Bezug auf eine ganze Reihe anderer Umstände. Prüfen wir also die Argumente der „Radikalen“.

In der Frage der Beteiligung am Parlament beruft sich Genossin Sylvia Pankhurst auf einen in derselben Nummer abgedruckten Artikel des Genossen W. Gallacher1, der im Namen des „Schottischen Arbeiterrats“ in Glasgow schreibt:

Dieser Arbeiterrat ist entschieden antiparlamentarisch, und hinter ihm steht der linke Flügel verschiedener politischer Organisationen. Wir vertreten die revolutionäre Bewegung in Schottland, die im ganzen Lande die Schaffung einer revolutionären Organisation innerhalb der Industrien (der einzelnen Industriezweige) und einer kommunistischen Partei erstrebt, die sich auf die sozialen Komitees gründet. Lange Zeit haben wir uns mit den offiziellen Parlamentariern herum gezankt Wir haben es nicht für nötig gehalten, ihnen offen den Krieg zu erklären, sie aber fürchten, den Angriff gegen uns zu eröffnen.

Eine solche Lage der Dinge kann jedoch nicht lange dauern. Wir siegen auf der ganzen Linie.

Die Massen der Unabhängigen Arbeiterpartei in Schottland bekommen einen immer größeren Ekel vor dem Gedanken an das Parlament, und fast alle Ortsgruppen sind für Sowjets (das russische Wort wird hier in englischer Transkription gebraucht) oder Arbeiterräte. Das ist selbstverständlich von sehr ernster Bedeutung für diejenigen Herrschaften, die die Politik als Erwerbsmittel (als Beruf) betrachten, und sie setzen alle Hebel in Bewegung, um ihre Mitglieder zur Rückkehr in den Schoß des Parlamentarismus zu bewegen. Die revolutionären Genossen dürfen (der Sperrdruck rührt überall vom Verfasser her) diese Bande nicht unterstützen. Hier werden wir einen sehr schweren Kampf haben. Einer seiner schlimmsten Züge wird der Verrat jener sein, die sich mehr von persönlichen Interessen als vom Interesse der Revolution leiten lassen. Jede Unterstützung des Parlamentarismus trägt ganz einfach dazu bei, dass die Macht in die Hände unserer britischen Scheidemänner und Noske gelangt. Henderson, Clynes & Co. sind hoffnungslos reaktionär. Die offizielle Unabhängige Arbeiterpartei gerät immer mehr unter den Einfluss bürgerlicher Liberaler, die ein „geistiges Obdach“ im Lager der Herren MacDonald, Snowden & Co. gefunden haben. Die offizielle Unabhängige Arbeiterpartei steht der Kommunistischen Internationale vollkommen feindlich gegenüber, die Masse aber ist für die Kommunistische Internationale. Die Unterstützung der opportunistischen Parlamentarier auf diese oder jene Weise ist einfach Wasser auf die Mühle dieser Herrschaften. Die Britische Sozialistische Partei spielt hier gar keine Rolle … Hier bedarf es einer gesunden, revolutionären Betriebsorganisation und einer Kommunistischen Partei, die nach klaren, genau bestimmten, wissenschaftlichen Grundsätzen handelt. Können unsere Genossen uns bei der Schaffung der einen und anderen Organisation helfen, so werden wir ihre Hilfe mit Freuden annehmen; können sie das nicht, so mögen sie sich um Himmels willen nicht einmischen, wenn sie nicht die Revolution verraten wollen durch Unterstützung der Reaktionäre, die so eifrig bemüht sind, den „ehrenvollen“ (? – Fragezeichen des Verfassers) Titel eines Parlamentsmitglieds zu erlangen, und die vor Begierde brennen, zu beweisen, dass sie ebenso gut regieren können, wie die „Herren“, wie die Klassenpolitiker.“

Dieser Brief an die Redaktion drückt, meiner Ansicht nach, glänzend die Stimmung und den Standpunkt junger Kommunisten oder Arbeiter aus der Masse aus, die sich eben erst zum Kommunismus zu entwickeln anfangen. Diese Stimmung ist im höchsten Grade erfreulich und wertvoll; man muss sie zu schätzen wissen und sie unterstützen, denn ohne sie wäre auf einen Sieg der proletarischen Revolution in England – und auch in jedem anderen Lande – nicht zu hoffen. Mit Leuten, die eine solche Stimmung der Massen auszudrücken und bei den Massen eine (oft schlummernde, nicht bewusste, noch nicht geweckte) ähnliche Stimmung hervorzurufen verstehen, muss man sorgsam umgehen und sie auf jede Art und Weise unterstützen. Aber gleichzeitig muss man ihnen gerade und offen sagen, dass Stimmungen allein nicht genügen, um die Massen im großen revolutionären Kampfe zu führen, und dass diese oder jene Fehler von Leuten, die der Sache der Revolution treu ergeben sind, der Revolution schaden können. Der Brief des Genossen Gallacher an die Redaktion zeigt unzweifelhaft die Keime aller jener Fehler, die die deutschen „radikalen“ Kommunisten begehen und die von den russischen „linken“ Bolschewiki in den Jahren 1908 und 1918 gemacht worden sind.

Der Verfasser des Briefes ist erfüllt von edelstem proletarischen Hass (der allerdings nicht nur den Proletariern verständlich ist, sondern allen Werktätigen, allen „kleinen Leuten“, um einen deutschen Ausdruck zu gebrauchen) gegen die bürgerlichen „Klassenpolitiker“. Dieser Hass des Vertreters der geknechteten und ausgebeuteten Massen ist in Wahrheit „aller Weisheit Anfang“, die Grundlage einer jeden sozialistischen und kommunistischen Bewegung und ihrer Erfolge. Aber der Verfasser zieht offenbar nicht in Erwägung, dass die Politik eine Wissenschaft und eine Kunst ist, die nicht vom Himmel fällt, die man sich in harter Arbeit aneignen muss, und dass das Proletariat, wenn es die Bourgeoisie besiegen will, seine eigenen proletarischen „Klassenpolitiker“ hervorbringen muss, und zwar Politiker, die nicht schlechter sein dürfen als die bürgerlichen Politiker.

Der Verfasser des Briefes hat sehr gut verstanden, dass nicht das Parlament, sondern nur die Arbeiterräte das Mittel zur Erreichung der Ziele des Proletariats sein können, und natürlich ist derjenige, der das bis jetzt noch nicht begriffen hat, der schlimmste Reaktionär, mag er auch der größte Gelehrte, der erfahrenste Politiker, der aufrichtigste Sozialist, der belesenste Marxist, der ehrlichste Bürger oder Familienvater sein. Aber der Verfasser des Briefes stellt nicht einmal die Frage, denkt nicht einmal an die Notwendigkeit, die Frage zu stellen, ob man die Arbeiterräte zum Siege über das Parlament führen kann ohne „Rätepolitiker“ innerhalb des Parlaments zu haben, ohne den Parlamentarismus von innen zu zersetzen, ohne innerhalb des Parlaments den Erfolg der Räte bei der ihnen zufallenden Aufgabe der Auseinanderjagung des Parlaments vorzubereiten? Allerdings äußert der Verfasser des Briefes den ganz richtigen Gedanken, dass die Kommunistische Partei in England nach wissenschaftlichen Grundsätzen wirken müsse. Die Wissenschaft fordert erstens, dass man die Erfahrung aller Länder in Betracht ziehe, besonders, wenn auch andere, gleichfalls kapitalistische Länder eine ganz ähnliche Erfahrung durchmachen oder unlängst durchgemacht haben; zweitens, dass man alle Kräfte, Gruppen, Parteien, Klassen, Massen, die innerhalb des betreffenden Landes wirken, in Rechnung stelle, dass man die Politik keineswegs nur auf Grund der Wünsche und Ansichten, des Grades des Klassenbewusstseins und der Kampfbereitschaft nur einer Gruppe oder Partei bestimme.

Dass die Henderson, Clynes, MacDonald, Snowden durch und durch reaktionär sind, ist richtig. Ebenso richtig ist, dass sie die Macht in ihre Hände nehmen wollen (wobei sie, nebenbei bemerkt, eine Koalition mit der Bourgeoisie vorziehen), dass sie mit den alten bürgerlichen Methoden „regieren“ wollen, dass sie, einmal zur Macht gelangt, unvermeidlich ebenso handeln werden, wie die Scheidemänner und Noske. Das stimmt alles. Aber daraus folgt keineswegs, dass die Unterstützung dieser Leute ein Verrat an der Revolution ist, sondern dass die Revolutionäre der Arbeiterklasse im Interesse der Revolution diesen Herrschaften eine gewisse parlamentarische Unterstützung gewähren müssen. Zur Erläuterung dieses Gedankens will ich zwei englische politische Dokumente aus der letzten Zeit anführen: 1, die Rede des Ministerpräsidenten Lloyd George vom 18. März 1920 (nach dem Bericht des „Manchester Guardian“ vom 19. März 1920) und ., die Betrachtungen der „radikalen“ Kommunistin, Genossin Sylvia Pankhurst in ihrem oben erwähnten Artikel.

Lloyd George polemisierte in seiner Rede gegen Asquith (der speziell zur Versammlung eingeladen worden war, es aber abgelehnt hatte, zu kommen) und gegen jene Liberalen, die keine Koalition mit den Konservativen, sondern eine Annäherung an die Arbeiterpartei wünschen, (in dem Brief des Genossen Gallacher an die Redaktion finden wir ebenfalls einen Hinweis auf die Tatsache des Übertritts von Liberalen zur Unabhängigen Arbeiterpartei.) Er wies nach, dass eine Koalition der Liberalen mit den Konservativen notwendig sei, und zwar eine enge Koalition, denn sonst könne die Arbeiterpartei siegen, die Lloyd George „mit Vorliebe“ als sozialistische bezeichnet und die den „Kollektivbesitz“ der Produktionsmittel anstrebe, „In Frankreich nannte man das Kommunismus – erklärt der Führer der englischen Bourgeoisie in populärer Weise seinen Zuhörern, den Mitgliedern der Parlamentsfraktion der liberalen Partei, die das bisher wahrscheinlich nicht gewusst haben –, in Deutschland Sozialismus, und in Russland heißt es Bolschewismus,“ Für die Liberalen, erklärt Lloyd George, sei das grundsätzlich nicht annehmbar, denn die Liberalen seien grundsätzlich für das Privateigentum, „Die Zivilisation ist in Gefahr“, erklärte der Redner, daher müssten sich die Liberalen und die Konservativen vereinigen.

Wenn Sie in die landwirtschaftlichen Bezirke gehen“ – sagte Lloyd George –, „so werden Sie dort die alten unveränderten Parteigruppierungen vorfinden. Das stimmt. Dort ist die Gefahr in weiter Ferne. Dort besteht keine Gefahr. Aber wenn die Bewegung die landwirtschaftlichen Bezirke ergreifen wird, so wird dort die Gefahr ebenso groß sein, wie jetzt in einigen Industriebezirken. Vier Fünftel unserer Bevölkerung sind in Industrie und Handel beschäftigt, kaum ein Fünftel in der Landwirtschaft, Das ist einer der Umstände, die ich ständig im Auge habe, wenn ich über die Gefahren nachdenke, die uns die Zukunft bringt. In Frankreich haben wir eine Agrarbevölkerung. Dort besieht eine solide Basis für bestimmte Anschauungen, die sich nicht so rasch ändert und nicht so leicht durch eine revolutionäre Bewegung erschüttern lässt. Bei uns sieht es anders aus. Unser Land ist leichter umzustürzen als irgendein anderes Land der Welt, und wenn es zu schwanken anfängt, so wird aus den erwähnten Gründen der Zusammenbruch hier größer sein als in den anderen Ländern.“

Der Leser sieht, dass Herr Lloyd George nicht nur ein sehr kluger Mann ist, sondern auch viel von den Marxisten gelernt hat. Es wird gar nicht schaden, wenn auch wir von Lloyd George lernen.

Interessant ist noch folgende Episode aus der Diskussion, die nach der Rede Lloyd Georges stattfand:

Herr Wallace: „Ich möchte fragen, wie der Ministerpräsident die Resultate seiner Politik in den Industriebezirken in Bezug auf die Industriearbeiter beurteilt, von denen sehr viele gegenwärtig Liberale sind und uns so sehr eifrig unterstützen. Wird das nicht vielleicht dazu führen, dass die Arbeiterpartei durch die Arbeiter, die uns gegenwärtig aufrichtig unterstützen, einen ungeheuren Zuwachs an Kräften bekommen wird?“

Der Ministerpräsident: „Ich bin ganz anderer Ansicht. Die Tatsache, dass die Liberalen einander bekämpfen, treibt zweifelsohne eine sehr bedeutende Zahl von Liberalen aus Verzweiflung in die Arbeiterpartei, wo bereits eine große Zahl Liberaler zu finden ist, sehr fähige Leute, die sich jetzt mit der Diskreditierung der Regierung abgeben. Die Folge davon ist zweifellos, dass sich die öffentliche Meinung sehr stark zugunsten der Arbeiterpartei ändert. Die öffentliche Meinung wandelt sich nicht zugunsten der außerhalb der Arbeiterpartei stehenden Liberalen, sondern zugunsten der Arbeiterpartei. Das beweisen zum Teil die Nachwahlen.“2

Nebenbei bemerkt, beweist diese Betrachtung besonders deutlich, wie die klügsten Leute der Bourgeoisie in Verwirrung geraten sind und nicht umhin können, die größten Dummheiten zu begehen. Das wird die Bourgeoisie ins Verderben bringen. Unsere Leute aber können sogar Dummheiten begehen (allerdings dürfen diese Dummheiten nicht sehr groß sein und müssen rechtzeitig korrigiert werden) und doch werden sie letzten Endes Sieger bleiben.

Das andere politische Dokument sind folgende Betrachtungen der „radikalen“ Kommunistin Genossin Sylvia Pankhurst:

„… Genosse Inkpin (der Sekretär der Britischen Sozialistischen Partei) bezeichnet die Arbeiterpartei als ,die wichtigste Organisation der Bewegung der Arbeiterklasse'. Ein anderer Genosse aus der Britischen Sozialistischen Partei hat auf einer Konferenz der III, Internationale die Auffassung der Britischen Sozialistischen Partei noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Er hat erklärt: ,Wir betrachten die Arbeiterpartei als die organisierte Arbeiterklasse'.

Wir teilen diese Ansicht über die Arbeiterpartei nicht. Die Arbeiterpartei hat eine große Mitgliederzahl, obgleich ihre Mitglieder zu einem sehr großen Teil passiv und apathisch sind. Das sind Arbeiter und Arbeiterinnen, die den Trade Unions beigetreten sind, weil ihre Kameraden in der Werkstatt Trade-Unionisten sind und weil sie Unterstützung beziehen wollen.

Aber wir erkennen an, dass die zahlenmäßige Stärke der Arbeiterpartei auch darauf zurückzuführen ist, dass sie die Schöpfung jener Schule des Denkens ist, über deren Grenze die Mehrheit der britischen Arbeiterklasse noch nicht hinausgekommen ist, obwohl sich in den Köpfen des Volkes ein großer Umsturz vorbereitet und das Volk die Lage bald ändern wird …

Die Britische Arbeiterpartei wird ebenso wie die sozialpatriotischen Organisationen der anderen Länder im Laufe der natürlichen Entwicklung der Gesellschaft unvermeidlich zur Macht gelangen. Es ist die Aufgabe der Kommunisten, Kräfte zu schaffen, die die Sozialpatrioten stürzen werden, und wir dürfen weder diese Arbeit in unserem Lande aufschieben noch dürfen wir schwanken.

Wir dürfen unsere Energie nicht zersplittern durch Stärkung der ,Arbeiterpartei'. Die ,Arbeiterpartei' wird unvermeidlich ans Ruder gelangen. Wir müssen unsere Kräfte auf die Schaffung einer kommunistischen Bewegung konzentrieren, die die ,Arbeiterpartei' besiegen wird. Die Arbeiterpartei wird bald die Regierung bilden; die revolutionäre Opposition muss bereit sein zum Angriff auf diese Regierung“3

Also, die liberale Bourgeoisie verzichtet auf das durch jahrhundertelange Erfahrung geheiligte und für die Ausbeuter außerordentlich vorteilhafte System der „zwei Parteien“ (der Ausbeuter) und hält die Vereinigung ihrer Kräfte für den Kampf gegen die Arbeiterpartei für notwendig. Ein Teil der Liberalen läuft, wie die Ratten vom sinkenden Schiffe, zur Arbeiterpartei über. Die linken Kommunisten sind der Auffassung, dass die Arbeiterpartei unvermeidlich an die Macht kommen muss, und geben zu, dass die Mehrheit der Arbeiterschaft augenblicklich hinter dieser Partei steht. Hieraus ziehen sie eine sonderbare Schlussfolgerung, die Genossin Sylvia Pankhurst wie folgt formuliert:

Die Kommunistische Partei darf keine Kompromisse eingehen … Sie muss ihre Lehre rein erhalten und vom Reformismus vollkommen unabhängig bleiben. Ihre Mission ist es, unaufhaltsam, ohne vom Wege abzubiegen, direkt zur kommunistischen Revolution zu schreiten.“

Im Gegenteil: aus der Tatsache, dass die Mehrheit der Arbeiter in England noch den englischen Kerenskis oder Scheidemännern Gefolgschaft leistet, dass sie mit einer Regierung dieser Leute noch keine Erfahrungen gemacht hat, wie sie in Russland und in Deutschland nötig waren, damit die Arbeiter in Massen zum Kommunismus übergingen, aus dieser Tatsache folgt unzweifelhaft, dass die englischen Kommunisten sich am Parlamentarismus beteiligen müssen, dass sie aus dem Innern des Parlaments heraus der Arbeitermasse helfen müssen, die wirklichen Ergebnisse der Regierung der Henderson und Snowden zu erkennen, dass sie den Henderson und Snowden helfen müssen, die vereinigten Lloyd George und Churchill zu besiegen. Anders handeln, heißt die Sache der Revolution erschweren, denn ohne Änderung der Ansichten der Mehrheit der Arbeiterklasse ist die Revolution unmöglich. Diese Änderung aber wird durch die politische Erfahrung der Massen, niemals durch Propaganda allein erreicht. „Vorwärts ohne Kompromisse, ohne vom Wege abzubiegen“ – wenn das eine augenscheinlich ohnmächtige Minderheit der Arbeiter sagt, die weiß (oder jedenfalls wissen muss), dass die Mehrheit nach kurzer Zeit, wenn Henderson und Snowden über Lloyd George und Churchill den Sieg davontragen, von ihren Führern enttäuscht werden und zur Unterstützung des Kommunismus übergehen wird (oder auf jeden Fall zur Neutralität und meistens zu wohlwollender Neutralität den Kommunisten gegenüber), – so ist diese Losung offensichtlich falsch. Das ist ungefähr dasselbe, wie wenn 10.000 Soldaten sich gegen 50.000 Feinde in den Kampf stürzen, anstatt „stehen zu bleiben“, „vom Wege abzubiegen“, ja sogar „Kompromisse“ zu schließen, um den Anmarsch einer Verstärkung von 100.000 Mann abzuwarten, die nicht sofort in Aktion treten können. Das ist eine Kinderei von Intellektuellen, aber keine ernste Taktik einer revolutionären Klasse.

Das Grundgesetz der Revolution, das durch alle Revolutionen, insbesondere durch die drei russischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts bestätigt worden ist, besteht in folgendem: zur Revolution genügt es nicht, dass die ausgebeuteten und geknechteten Massen die Unmöglichkeit, in alter Weise weiterzuleben, einsehen und eine Änderung fordern; zur Revolution ist nötig, dass die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Nur wenn die „unteren Schichten“ die alte Ordnung nicht mehr wollen und die „Oberschichten“ in der alten Weise nicht mehr leben können – nur dann kann die Revolution siegen. Mit anderen Worten kann man diese Wahrheit so ausdrücken: die Revolution ist ohne eine Krise der gesamten Nation (die Ausgebeutete wie Ausbeuter erfasst) unmöglich. Folglich gehört zur Revolution erstens, dass die Mehrheit der Arbeiter (jedenfalls die Mehrheit der klassenbewussten, denkenden, politisch aktiven Arbeiter) die Notwendigkeit der Umwälzung vollkommen begriffen hat und bereit ist, ihretwegen in den Tod zu gehen; zweitens, dass die herrschenden Klassen eine Regierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigsten Massen in die Politik hineinzieht (das Merkmal einer jeden wirklichen Revolution ist: die schnelle Verzehnfachung, ja sogar die Verhundertfachung der zum politischen Kampf fähigen Vertreter der werktätigen und ausgebeuteten Massen, die bis dahin apathisch waren), die Regierung schwächt und den Revolutionären den schnellen Sturz dieser Regierung ermöglicht.

In England reifen offenbar, wie übrigens aus der Rede Lloyd Georges hervorgeht, beide Bedingungen für eine erfolgreiche proletarische Revolution heran. Und die Fehler der linken Kommunisten sind jetzt besonders gefährlich, gerade weil man beobachten kann, dass einige Revolutionäre zu jeder dieser Bedingungen eine Stellung einnehmen, die nicht genügend ernst, aufmerksam, klar und eindeutig ist. Wenn wir nicht eine revolutionäre Gruppe, sondern die Partei der revolutionären Klasse sind, wenn wir die Massen mit uns reißen wollen (wenn wir das nicht tun, so laufen wir Gefahr, einfach Schwätzer zu bleiben), so müssen wir erstens Henderson oder Snowden helfen, Lloyd George und Churchill zu schlagen (oder genauer gesagt: jene zwingen, diese zu schlagen, denn die ersten fürchten ihren eigenen Sieg!); zweitens der Mehrheit der Arbeiterklasse helfen, sich durch eigene Erfahrung davon zu überzeugen, dass wir Recht haben; d. h. ihr helfen, sich von der Untauglichkeit Hendersons und Snowdens, von ihrer kleinbürgerlichen, verräterischen Natur, von der Unvermeidlichkeit ihres Bankrotts zu überzeugen; drittens den Augenblick näher bringen, wo man auf Grund der Enttäuschung der Mehrheit der Arbeiter über die Henderson unter erfolgversprechenden Aussichten mit einem Schlage die Regierung der Henderson wird stürzen können, die noch viel kopfloser hin und herpendeln wird, wenn man bedenkt, dass sogar der überaus kluge und solide, nicht kleinbürgerliche, sondern großbürgerliche Lloyd George vollkommene Kopflosigkeit an den Tag legt und sich (und die gesamte Bourgeoisie) immer mehr und mehr schwächt, gestern durch seine „Reibungen“ mit Churchill, heute durch seine „Reibungen“ mit Asquith.

Ich will konkreter sprechen. Die englischen Kommunisten müssen, meiner Ansicht nach, alle ihre vier Parteien und Gruppen (die alle sehr schwach, von denen einige sehr, sehr schwach sind) zu einer einzigen Kommunistischen Partei zusammenfassen auf dem Boden der Grundsätze der III. Internationale und der obligatorischen Beteiligung am Parlament. Die Kommunistische Partei schlägt den Henderson und Snowden einen „Kompromiss“, ein Wahlabkommen vor: gemeinsamen Kampf gegen den Block Lloyd Georges mit den Konservativen, Verteilung der Parlamentssitze entsprechend der Zahl der von den Arbeitern für die Arbeiterpartei oder die Kommunisten abgegebenen Stimmen (nicht bei den Wahlen, sondern in einer besonderen Abstimmung), Aufrechterhaltung der vollen Freiheit der Agitation, Propaganda, politischen Tätigkeit, Ohne die letzte Bedingung darf man sich natürlich nicht auf einen Block einlassen, denn das wäre Verrat, Die volle Freiheit der Entlarvung der Henderson und Snowden müssen die englischen Kommunisten ebenso unbedingt verfechten und durchsetzen, wie die russischen Bolschewiki (15 Jahre lang, 1903-1917) gegenüber den russischen Henderson und Snowden, d. h. gegenüber den Menschewiki.

Gehen die Henderson und Snowden den Block unter diesen Bedingungen ein, so gewinnen wir dabei, denn für uns ist keineswegs die Zahl der Sitze im Parlament wichtig. Wir reißen uns nicht danach. In diesem Punkte werden wir nachgiebig sein (die Henderson aber und insbesondere ihre neuen Freunde – oder neuen Herren? – die Liberalen, die zur Unabhängigen Arbeiterpartei übergegangen sind, reißen sich gerade darum am allermeisten), Wir gewinnen dabei, denn wir tragen unsere Agitation in einem Augenblick in die Massen hinein, wo sie Lloyd George selbst „aufgeputscht“ hat, und helfen nicht nur der Arbeiterpartei, schneller ihre Regierung zu bilden, sondern auch den Massen, schneller unsere ganze kommunistische Propaganda zu verstehen, die wir gegen die Henderson uneingeschränkt und unumwunden treiben werden.

Lehnen die Henderson und Snowden einen Block mit uns unter diesen Bedingungen ab, so gewinnen wir noch mehr dabei. Denn wir zeigen mit einem Schlage den Massen (man muss in Betracht ziehen, dass innerhalb der rein menschewistischen, vollkommen opportunistischen Unabhängigen Arbeiterpartei die Massen für die Sowjets sind), dass die Henderson ihre nahen Beziehungen zu den Kapitalisten einem Zusammenschluss aller Arbeiter vorziehen. Wir gewinnen auf einen Schlag in den Augen der Massen, die besonders nach den glänzenden, vollkommen richtigen und (für den Kommunismus) überaus nützlichen Erläuterungen Lloyd Georges mit einem Zusammenschluss aller Arbeiter gegen den Block Lloyd Georges und der Konservativen sympathisieren werden. Wir gewinnen auf einen Schlag, denn wir demonstrieren vor den Massen, dass die Henderson und Snowden fürchten, Lloyd George zu besiegen, dass sie fürchten, allein die Macht zu übernehmen, dass sie die heimliche Unterstützung Lloyd Georges erlangen wollen, der offen den Konservativen die Hand reicht gegen die Arbeiterpartei. Es muss bemerkt werden, dass bei uns in Russland für die Propaganda der Bolschewiki gegen die Menschewiki und Sozialrevolutionäre (d. h. gegen die russischen Henderson und Snowden) nach der Revolution vom 27. Februar 1917 (alten Stils) gerade ein solcher Umstand von großem Vorteil war. Wir sagten den Menschewiki und Sozialrevolutionären: nehmt die ganze Macht ohne die Bourgeoisie, denn ihr habt die Mehrheit in den Sowjets (auf dem 1. Allrussischen Sowjetkongress im Juni 1917 hatten die Bolschewiki im Ganzen nur 13 Prozent der Stimmen). Aber die russischen Henderson und Snowden fürchteten sich davor, ohne die Bourgeoisie die Macht zu ergreifen, und als die Bourgeoisie die Wahlen zur Konstituante hinauszögerte, weil sie sehr gut wusste, dass die Wahlen den Sozialrevolutionären und den Menschewiki die Mehrheit bringen werden** (beide bildeten einen engen politischen Block, der in Wirklichkeit die gesamte kleinbürgerliche Demokratie repräsentierte), da waren die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki nicht imstande, einen energischen und konsequenten Kampf gegen dieses Hinauszögern aufzunehmen.

Lehnen die Henderson und Snowden den Block mit den Kommunisten ab, so haben die Kommunisten sofort einen Gewinn davon, denn das erobert ihnen die Sympathien der Massen und diskreditiert die Henderson und Snowden, Wenn wir aber durch einen solchen Block einige Plätze im Parlament verlieren, so ist das für uns ganz unwichtig. Wir würden unsere Kandidaten nur in einer ganz geringen Zahl durchaus zuverlässiger Bezirke aufstellen, d. h. dort, wo das Aufstellen unseres Kandidaten nicht dem Liberalen zum Siege über den Kandidaten der Arbeiterpartei verhelfen würde. Wir würden eine Wahlagitation führen, Flugblätter verbreiten zugunsten des Kommunismus, und in allen Bezirken, wo wir keinen eigenen Kandidaten aufstellen, empfehlen, für den Kandidaten der Arbeiterpartei gegen den Bourgeois zu stimmen. Die Genossen Sylvia Pankhurst und Gallacher irren, wenn sie darin einen Verrat am Kommunismus oder einen Verzicht auf den Kampf gegen die Sozialverräter sehen. Im Gegenteil, dadurch würde die Sache der kommunistischen Revolution ohne Zweifel nur gewinnen.

Den englischen Kommunisten fällt es jetzt oft sehr schwer, auch nur an die Masse heranzukommen, sich bei ihr auch nur Gehör zu verschaffen. Wenn ich als Kommunist auftrete und erkläre, dass ich auffordere, für Henderson und gegen Lloyd George zu stimmen, so wird man mich gewiss anhören. Und ich werde nicht nur in populärer Weise erklären können, warum die Sowjets besser sind als das Parlament, warum die Diktatur des Proletariats besser ist als die Diktatur Churchills (die durch das Aushängeschild der bürgerlichen „Demokratie“ verhüllt wird), sondern ich werde auch erklären können, dass ich Henderson durch meine Stimme ebenso unterstützen möchte, wie der Strick den Gehängten; dass die baldige Übernahme der Regierung durch die Henderson ebenso beweisen wird, dass ich Recht habe, ebenso die Massen auf meine Seite ziehen wird, ebenso den politischen Tod der Henderson und Snowden beschleunigen wird, wie das in Russland und in Deutschland mit ihren Gesinnungsgenossen der Fall war.

Und wenn man mir entgegnen wird, das sei eine zu „schlaue“ oder zu komplizierte Taktik, die Massen würden sie nicht verstehen, sie werde unsere Kräfte zersplittern, werde uns hindern, diese Kräfte auf die Sowjetrevolution zu konzentrieren usw., so antworte ich diesen „radikalen“ Opponenten: wälzt die Schuld für euren Doktrinarismus nicht auf die Massen ab! In Russland war das Kulturniveau der Massen gewiss nicht höher, sondern niedriger als in England, Und dennoch haben die Massen die Bolschewiki begriffen. Und es hat den Bolschewiki nichts geschadet, sondern ihnen geholfen, dass sie am Vorabend der Sowjetrevolution, im September 1917, ihre Kandidatenlisten zum bürgerlichen Parlament (zur Konstituierenden Versammlung) zusammenstellten, und gleich nach der Sowjetrevolution, im November 1917, an den Wahlen zu dieser Konstituierenden Versammlung teilnahmen, die sie am 5. Januar 1918 auseinanderjagten.

Ich kann mich hier nicht länger bei der zweiten Meinungsverschiedenheit aufhalten, die unter den englischen Kommunisten über die Frage des Anschlusses an die Arbeiterpartei besteht. Ich habe zu wenig Material über diese Frage, die besonders kompliziert ist wegen der außerordentlichen Eigenart der britischen „Arbeiterpartei“, die ihrer ganzen Struktur nach den gewöhnlichen politischen Parteien auf dem europäischen Festlande sehr wenig ähnlich sieht. Unzweifelhaft ist jedoch erstens, dass man auch in dieser Frage in einen Fehler verfallen würde, wenn man auf den Gedanken käme, die Taktik des revolutionären Proletariats von Grundsätzen abzuleiten, wie:

Die Kommunistische Partei muss ihre Lehre rein erhalten und vom Reformismus vollkommen unabhängig bleiben. Ihre Mission ist es, unaufhaltsam, ohne vom Wege abzubiegen, direkt zur kommunistischen Revolution vorwärts zu schreiten.“

Denn solche Grundsätze wiederholen nur den Fehler der französischen blanquistischen Kommunarden, die im Jahre 1874 die „Ablehnung“ aller Kompromisse und aller Zwischenstationen proklamierten. Zweitens besteht ohne Zweifel auch hier wie immer die Aufgabe darin, dass man es versteht, die allgemeinen und grundlegenden Prinzipien des Kommunismus auf jene eigenartigen Beziehungen zwischen den Klassen und Parteien, auf jene eigenartige objektive Entwicklung zum Kommunismus anzuwenden, die jedem einzelnen Lande eigen ist und die man studieren, ausfindig machen, erraten muss.

Aber darüber muss man sprechen im Zusammenhang nicht nur mit dem englischen Kommunismus, sondern mit den allgemeinen Schlussfolgerungen über die Entwicklung des Kommunismus in allen kapitalistischen Ländern, Zu diesem Thema gehen wir jetzt über.

* Anscheinend ist diese Partei gegen den Anschluss an die „Arbeiterpartei“, aber nicht ganz gegen die Beteiligung am Parlament.

1 Der vollständige Titel des Artikels von Gallacher lautet: „A Letter to the Editor from W. Gallacher in the name of the Scottish Workers Committee of Glasgow“. („Worker's Dreadnought“ Nr. 48, 21. Februar 1920.)

2 Die Rede Lloyd Georges, von der Lenin hier spricht, wurde am 18. März 1920 in einer Versammlung der Mitglieder der liberalen Fraktion des Unterhauses gehalten und ist im „Manchester Guardian“ vom 19. März 1920 unter folgender Überschrift erschienen: „Mr. Lloyd Georges Speech to the Liberal MPs“.

3 Das Zitat ist dem Artikel Sylvia Pankhurst „Towards the Communist Party“ entnommen, der in der Nr. 48 des „Worker's Dreadnought“ vom 21. Februar 1920 erschienen ist.

** Die Wahlen zur Konstituante in Russland, im November 1917, ergaben, auf Grund von Angaben, die mehr als 36 Millionen Wähler erfassten, 25 Prozent der Stimmen für die Bolschewiki, 13 Prozent für die verschiedenen Parteien der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie, 62 Prozent für die kleinbürgerliche Demokratie, d. h. für die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki und kleinere ihnen nahestehende Gruppen.

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