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Rosa Luxemburg 19011124 Aus dem Nachlass unserer Meister

Rosa Luxemburg: Aus dem Nachlass unserer Meister

[Vorwärts (Berlin), Nr. 275 vom 24. November 1901. Nach Gesammelte Werke, Band 1/2, Berlin 1970, S. 148-158]

Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels. 1849 bis 1862, Stuttgart 1902.

I

Der Name Lassalles wird immer zu den wenigen gehören, auf die sich allgemeines aus dem Herzen wie aus der Phantasie gleich strömendes Interesse konzentriert. Alle bisherigen Veröffentlichungen der „menschlichen Dokumente" aus seinem Leben wurden mit Begeisterung vom lesenden Publikum verschiedener Kreise aufgenommen. Die wichtigste dieser Publikationen ist jedoch erst jetzt erschienen.

Allerdings werden die Lassalleschen Briefe an Marx und Engels alle jene schöngeistigen und salonsozialistischen Kreise bitter enttäuschen, die bis jetzt in den Dokumenten aus dem Leben Lassalles sensationelle Einzelheiten seiner romanhaften Erlebnisse suchten und fanden. Ernst und unpersönlich ist vorwiegend der Inhalt der Briefe an Marx und Engels; er dreht sich meistenteils um politische oder ökonomische, philosophische oder juristische Fragen, nur hier und da blickt das Persönliche zwischendurch. Aber zum ersten Mal in diesen Briefen an Marx erscheint uns Lassalle in seinem Innersten als Revolutionär, als Mitglied der kleinen sozialistischen Gemeinde der 40er und 50er Jahre und im intimsten geistigen Verkehr mit ihr. Freilich zeigen uns auch die seit langem veröffentlichten Briefe an Rodbertus Lassalle im ernsten Gedankenaustausch mit einem der bedeutendsten Denker unter seinen deutschen Zeitgenossen, freilich liefern auch diese Briefe ein reiches Material zum Verständnis der Lassalleschen Theorie und Agitation. Aber was den großen Unterschied zwischen dieser und der soeben erschienenen Publikation ausmacht: dort, in den Briefen an Rodbertus, haben wir den fertigen Lassalle vor uns, in seiner politischen Eigenart, bereits mitten in seiner Agitation, auf seinem selbstgewählten politischen Pfad; hier, in den Briefen an Marx, können wir zuerst seine geistige Entwicklung, sein Werden verfolgen, von den ersten Schritten auf der politischen Bühne im Jahre 1849 bis zum Anfang der 60er Jahre, von seiner völligen Übereinstimmung mit Marx in allen wichtigeren Fragen der Theorie und der Praxis bis zu dem Punkt, wo sich die Wege der beiden Führer trennten, um schroff auseinanderzugehen.

Die Briefe an Marx und Engels sind nicht nur die erste Veröffentlichung, die uns Lassalle im Verkehr mit Gleichgesinnten zeigt, sondern auch die erste, die von einem Gleichgesinnten besorgt worden ist. Die bisherigen Briefsammlungen Lassalles waren jedesmal von bürgerlichen Herausgebern veranstaltet – manchmal möchte man sagen: verunstaltet – worden, wobei die nötigen Kenntnisse sowie jedes Verständnis für das Ganze des Lassalleschen Lebens und Wirkens fehlten. In dem vorliegenden Bande liefert uns Mehring in seinen Nachbemerkungen zu jedem Jahrgang der Korrespondenz mit liebevoller Sorgfalt, der keine Mühe zu groß ist, um auch dem dünnsten Faden aus den politischen Beziehungen Lassalles bis zu seinem Verschwinden nachzuspüren, alles historische, politische und literarische Material, das zur Vervollständigung des Bildes Lassalles und seiner Epoche erforderlich ist.

Mehring selbst nennt in seiner Vorrede die Briefe an Marx eine Ehrenrettung Lassalles. Das ist in der Tat das richtige Wort für den Gesamteindruck, von dem sich jeder unbefangene Leser beherrscht fühlt, als er das spannende Buch aus der Hand legt. Eine Ehrenrettung – namentlich auch gegenüber der bis jetzt parteioffiziellen Schilderung Lassalles aus der Feder Bernsteins1. Ed. Bernstein kannte allerdings die Briefe im Original, und er zitiert sie auch bruchstückweise bereits in seiner Vorrede zur Ausgabe der Lassalleschen Schriften. Aber gerade deshalb ist es höchst verdienstvoll, dem obersten Richter, dem lesenden Publikum, die Dokumente selbst in die Hand zu legen, um darzutun, wie eine subjektive, vorgefasste Vorstellung manchmal gegen die schlagendsten Beweise standhalten kann.

Nicht nur einzelne tatsächliche Behauptungen Bernsteins, wie zum Beispiel die von der Art und Weise, wie Lassalle sich im Jahre 1857 die Übersiedlung von Düsseldorf nach Berlin erwirkt habe, finden in den Briefen Lassalles an Marx eine direkte und vollkommene Widerlegung. Das ganze psychologisch-politische Charakterbild Lassalles, das Bernstein gezeichnet hat, erscheint neben dem, welches uns aus dem hellen Spiegel seines geistigen Verkehrs mit Marx entgegen leuchtet, wie ein Zerrbild, wie eine Fratze. Statt des „grenzenlosen Selbstvertrauens", der „Eitelkeit", des „Triebes, jedermann durch außergewöhnliche Leistungen zu verblüffen", des Mangels an „gutem Geschmack und moralischem Unterscheidungsvermögen", der „Fäulnis", von der angesteckt Lassalle aus der „Pfütze" der Hatzfeldtschen Prozesse herauskam, des „Zynismus" und welches sonst das duftende Bouquet von Eigenschaften ist, mit denen Bernstein seinen Lassalle – nebst der Syphilis – ausgestattet hat, sehen wir hier das lebensgroße Porträt eines großzügigen, kristallklaren, in der Freundschaft wie in dem Drang nach Erkenntnis, in stoischer Verachtung für eigne Leiden wie in tiefem Interesse für die Schicksale andrer echt antiken Charakters. Wie Lassalle den bürgerlichen Salonlöwinnen und -löwen in seinen Briefen erschien oder erscheinen wollte, was es mit dem von ihm einer Dönniges versprochenen Triumphzug mit sechs grauen Schimmeln u. dgl. Märchen auf sich habe, mag für seine bürgerlichen Biographen von höchster Bedeutung sein. Dem sozialistischen Proletariat wird Ferdinand Lassalle als Sozialist, als Denker, Revolutionär und Mensch erst durch die Mehringsche Veröffentlichung seiner Briefe an Marx wiedergegeben.

II

Wir haben uns bis jetzt im Allgemeinen gewöhnt, uns Lassalle nur auf sich selbst gestellt, in seinem Gegensatz zu Marx, Engels und ihrer Gruppe vorzustellen. Der herrschende Zug in dem vorliegenden Buche – und das macht seine besondere Bedeutung aus – ist im Gegenteil die Übereinstimmung und der politisch-geistige Zusammenhang mit den Schöpfern des Kommunistischen Manifestes. Bei seiner gänzlichen Selbständigkeit des Denkens erscheint uns Lassalle in seinem Briefwechsel mit Marx vor allem als der „letzte Mohikaner", wie er sich selbst nannte, der revolutionären Schar der 40er Jahre in Deutschland, in lebendigster und ununterbrochener Fühlung mit den Londoner Flüchtlingen und in ständiger revolutionärer Wachsamkeit und Kampfbereitschaft. Obwohl er wahrscheinlich auch der jetzt modernen sozialistischen „Selbstkritik" vom leisesten Verdacht des „Blanquismus" frei erscheinen dürfte, lebte Lassalle zunächst Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre ganz so in dem Gedanken und der Hoffnung auf eine nahe bevorstehende Revolution, die den Sieg des Proletariats einleiten sollte, wie Marx und Engels. Alle seine Briefe aus den ersten 3-4 Jahren atmen die sehnsuchtsvolle Erwartung großer Entscheidungen. Von den Hatzfeldtschen Prozessen, die ihn angeblich restlos verschlungen haben sollten, klingt in den Briefen an Marx nur hie und da eine wuchtige Anklage gegen die preußische Justiz durch. Mitten in dem titanischen Zweikampf mit diesem Ungeheuer sind Lassalles Blick und Gedanke durch alle Vorgänge der politischen und sozialen Zeitgeschichte gefesselt, dem Nachspüren jeder Hoffnung erweckenden revolutionären Regung gewidmet. „Sehr gefreut hat mich", schreibt er im April 1850 an Marx, „dass Du die Revolution für so nahe bevorstehend hältst, um so mehr, weil dies mit meinem Urteil überein trifft, ich aber damit hier ziemlich allein stehe, da die meisten erst auf die Zeit der Präsidentenwahl (Ende 1851) in Frankreich wieder hoffen zu können glauben." Und im Mai desselben Jahres: „Schreibe mir umgehend, ob die französischen refugies (Flüchtlinge – R. L.) in London der Meinung sind, dass es bei Gelegenheit des Wahlreformprojekts in Paris zur Insurrektion kömmt. Ich bin zwar fest überzeugt, dass dies der Fall sein wird und muss. Der Sozialismus oder richtiger die sozialistische Partei in Frankreich würde sich eine ganz enorme Blöße geben, wenn sie bei dieser Lebensfrage nicht das Schwert zöge. Und zieht sie es nur, so ist, meiner Überzeugung nach, der Sieg gar nicht zweifelhaft." Noch im Juni 1851 findet er es trostlos, dass der Haft des mit Nothjung, Becker und andren Kommunisten festgenommenen Bürgers „wahrscheinlich erst die Revolution ein Ende machen wird".

Als die Erwartungen durch den flachen Ausgang der revolutionären Periode in Frankreich enttäuscht wurden, verlegt Lassalle – hier wieder eins mit Marx – seine Hoffnungen auf eine bevorstehende Handelskrise. „Was hältst Du", schreibt er im Dezember 1853, „von der Industriebewegung für künftiges Jahr? Sollte die lang erwartete Krise, deren Zeit seit der letzten von 1847 lange abgelaufen wäre – freilich ist sie durch die überaus schwache Produktion in den Jahren 1848 und 1849 etc. wesentlich aufgeschoben worden –, endlich herangenaht sein?"

Und endlich, als statt der Krise wie der Revolution die bleierne saison morte der politischen Reaktion begann, finden sich Lassalle und Marx wieder in einem Gedanken zusammen – in der momentanen Resignation und den Plänen einer vorläufigen stillen Maulwurfsarbeit der revolutionären Aufklärung.

Dass die gegenwärtige Apathie nicht auf theoretischem Wege überwunden werden kann", schreibt L. anfangs 1854, „darin hast Du ganz recht. Ich generalisiere diesen Satz sogar dahin: noch niemals ist eine Apathie auf rein theoretischem Wege überwunden worden resp. theoretische Überwindung einer solchen Apathie hat Schüler und Sekten oder verunglückte praktische Bewegungen, noch niemals aber weder eine reale Weltbewegung noch auch eine allgemeine Bewegung der Massengüter erzeugt. Die Massen werden nicht nur praktisch, sondern auch geistig nur durch die Siedehitze tatsächlicher Ereignisse zu Fluss und Bewegung hingerissen.

Doch glaube ich, dass man jetzt eines tun kann, was ich nicht für gering halte. Man kann eine mehr oder weniger große Zahl Proletarier theoretisch bilden und in diesen, in möglichst vielen Städten, dem Proletariat zu (sic!) Vertrauensmännern und geistigen Mittelpunkten für künftige Bewegungen erzeugen, welche dann verhindern, dass sich das Proletariat nochmals zum Chorus für .die bürgerlichen Helden hergibt."2

Und dieses Programm entwirft Lassalle nicht nur, sondern er führt es auch mit der größten Hingebung aus, indem er sein Haus in Düsseldorf „zur Burg und zum Wall" der Arbeiterschaft macht, indem er gleichzeitig den Schriften von Marx und Engels den deutschen Büchermarkt durch alle unzähligen Schwierigkeiten hindurch öffnet, indem er seinen Freunden in London mit Rat und Tat hilft und so ein lebendiges Bindeglied zwischen dem geistigen Zentrum und dem sozialen Boden der deutschen Revolution bildet.

In Bezug auf theoretisch-ökonomische Gesichtspunkte äußert sich Lassalles Stellung in den Briefen vorzugsweise durch begeisterte Zustimmung zu Marx' Werken: dem Anti-Proudhon wie der „Kritik der Politischen Ökonomie". Wohlgemerkt zeigt sich auch hier in der Schärfe und Sicherheit des Urteils nicht sowohl die Zustimmung des Schülers an den Meister, sondern vielmehr die eines Gleichgesinnten, der auf Grund selbständigen Nachdenkens zu wesentlich gleichen Ergebnissen gelangt. Wenn Lassalle im Jahre 1851 Karl Marx den „Sozialist gewordenen Ricardo und Ökonom gewordenen Hegel" nennt, so hat er darin im Voraus die geschichtliche Mission Marxens in der Wirtschaftslehre und damit zugleich die spezifische Aufgabe des wissenschaftlichen Sozialismus aufs Genaueste formuliert. Es ist nämlich für den ökonomischen Scharfblick Lassalles höchst bezeichnend, dass er – unter ausdrücklicher Ablehnung aller Arten des zeitgenössischen englischen und französischen Sozialismus, unter Ablehnung aller „partiellen Lösungen" der sozialen Frage – Ricardo als den Ausgangspunkt der sozialistischen Theorie bezeichnet. „Missverstehe mich nicht", schreibt er an Marx in dem erwähnten Briefe vom 12. Mai 1851, „wenn ich sage, Sozialist gewordener Ricardo. Aber ich halte in der Tat Ricardo für unseren unmittelbaren Vater. Ich halte seine Definition der Grundrente für die gewaltigste kommunistische Tat."3 Freilich ist es zugleich für den verschiedenen Grad von analytischer Tiefe auf beiden Seiten entscheidend, dass, während Marx, auf den Grund der Dinge zurückgehend, die Ricardosche Werttheorie, d. h. die Theorie, welche den Schlüssel zur kapitalistischen Produktionsweise bildet, zum Ausgangspunkt seiner Kritik des Kapitalismus gemacht hat, Lassalle, an der Oberfläche der sozialen Erscheinungen haftend, in der Ricardoschen Grundrententheorie, also auf dem Gebiete der Verteilung, einen solchen Ausgangspunkt zu erblicken glaubte.

Wie sehr Lassalle und Marx in jener Epoche in der Einschätzung der politischen Ereignisse ihrer Zeit zusammentreffen, zeigen die Ausführungen Lassalles über den Napoleonischen Staatsstreich. Man braucht nur den Brief vom 12. Dezember 1851 mit dem bald darauf erschienenen „18. Brumaire" zu vergleichen, um – bei aller selbstverständlichen Verschiedenheit in der Fassung einer großangelegten geschichtlichen Analyse und eines Bündels leicht hingeworfener Bemerkungen in einem Privatbriefe – von der Übereinstimmung des Urteils frappiert zu werden.

Die erste wichtige Differenz in den Ansichten Lassalles und Marx-Engels', die in den Briefen zum Ausdruck kommt, ist die bekannte Stellungnahme zum italienischen Kriege. Allein auch hier handelte es sich, wie Lassalle und Marx selbst hervorheben, nicht etwa um prinzipielle, sondern lediglich um taktische Meinungsverschiedenheiten. Insofern Versuche gemacht worden sind, aus der Stellung Lassalles in diesem Falle grundlegende Differenzen zwischen ihm und Marx in bezug auf Nationalismus und Internationalismus herauszudestillieren, so scheitern sie jetzt endgültig. In dieser Beziehung bewährt sich das Wort Bernsteins aus dem Jahre 1892, wonach „diejenigen, die bisher Lassalle als das Muster eines guten Patrioten, im nationalliberalen Sinne dieses Wortes, der Sozialdemokratie von heute gegenüberstellen, nach Veröffentlichung der Lassalleschen Briefe an Marx und Engels einfach einzupacken haben"4 werden.

Nicht in der Kontroverse über Po und Rhein, sondern an einer andren Stelle der Briefe scheint uns deshalb der erste Keim des Marx-Lassalleschen Gegensatzes sich kundgegeben zu haben, nämlich, so seltsam dies auf den ersten Blick scheinen mag, in der gleichzeitig zwischen den beiden Freunden geführten Polemik über das Lassallesche Drama „Franz von Sickingen". Unter der Form der Diskussion über „die formelle tragische Idee" des Sickingen hat Lassalle unsres Erachtens in seinen Briefen vom 6. März und 27. Mai 1859 das Eigentliche, Spezifische, was später den Gegensatz seiner Agitation zu der Marx-Engelsschen Auffassung ausgemacht hat, formuliert und verfochten.

Wir deuten damit nicht die ziemlich flache und wohlfeile Beobachtung an, wonach Lassalle im Sickingen sein eignes späteres Schicksal vorgezeichnet haben soll, indem er die strafende Nemesis der „sich realistisch dünkenden Verständigkeit" zeichnete, die revolutionäre Zwecke durch diplomatische Mittel, durch schlaue Täuschung des Feindes wie der Freunde erreichen will. Auch nicht die andre merkwürdige Auffassung, wonach „Franz von Sickingen" einen Beleg für die Annäherung Lassalles an die Gesichtspunkte – der kleindeutschen Vulgärdemokratie der 50er Jahre abgeben soll.

Wir meinen den geschichtlichen Spielraum für den „individuellen Entschluss", den Lassalle in seiner Kontroverse mit Marx und Engels gegen die „Hegelsche konstruktive Geschichtsanschauung" verteidigte.

Ob und inwieweit Lassalle die historische Rolle Sickingens historisch treu aufgefasst und geschildert hat, das ist uns hier nebensächlich. Wenn er aber in dem Briefe vom 27. Mai 1859 auf seinem Recht besteht, seinen Helden an dessen subjektivem Widerspruch im Handeln statt, wie Marx und Engels es für richtig hielten, an dem objektiven Widerspruch der Sickingenschen Bestrebungen mit der geschichtlichen Entwicklungstendenz zugrunde gehen zu lassen, so sehen wir darin mehr oder richtiger anderes als eine Kundgebung der idealistischen Geschichtsauffassung Lassalles. Was wäre entstanden, fragt Lassalle, wenn Sickingen, statt sich ausschließlich auf den Kleinadel zu stützen, sich zur Führerschaft der Bauernbewegung aufgeschwungen hätte?

Was entstanden wäre? Geht man von der Hegelschen konstruktiven Geschichtsanschauung aus, der ich ja selbst so wesentlich anhänge, so weiß man sich freilich mit Euch (Marx und Engels – R. L.) zu antworten, dass in letzter Instanz der Untergang doch notwendig eingetreten wäre und eintreten musste, weil Sickingen, wie Ihr sagt, ein au fond reaktionäres Interesse vertrat, und dass er dies wieder notwendig musste, weil ihm Zeitgeist und Klasse das konsequente Einnehmen einer andern Stellung unmöglich machte.

Aber diese kritisch-philosophische Geschichtsanschauung, in der sich eherne Notwendigkeit an Notwendigkeit knüpft und die ebendeshalb auslöschend über die Wirksamkeit individueller Entschlüsse und Handlungen hinweg fährt, ist ebendarum kein Boden, weder für das praktische revolutionäre Handeln noch für die vorgestellte dramatische Aktion.

Für beide Elemente ist vielmehr die Voraussetzung von der umgestaltenden und entscheidenden Wirksamkeit individuellen Entschließens und Handelns der unerlässliche Boden, ohne den ein dramatisches zündendes Interesse ebenso wie eine kühne Tat nicht möglich ist."

Hier verteidigt Lassalle u. E. nicht den „individuellen Entschluss" im Gegensatz zur historischen Notwendigkeit, sondern als Ausdruck, als Medium dieser Notwendigkeit. Denn „wird die entscheidende Wichtigkeit des individuellen Handelns", schreibt er im gleichen Briefe, „entblößt und getrennt von dem allgemeinen Inhalt, mit dem es operiert und der es bestimmt, in der Tragödie gefeiert (oder sagen wir: als Triebfeder der Geschichte hingestellt – R. L.), so wird sie freilich zur gedankenlosen Ineptie".5 Sickingen musste freilich – und darin hatten Marx und Engels vollkommen recht – mit seinem Unternehmen auf jeden Fall scheitern. Aber die Aussichtslosigkeit dieses Unternehmens drückte sich für Lassalle in letzter Linie in dem inneren Widerspruch des Sickingenschen Handelns aus. Es waren die historischen Gesetze, die hier entschieden, aber sie wirkten durch den „individuellen Entschluss".

Was hier zwischen Lassalle und Marx ausgefochten wird, ist – scheint es uns – nicht der Gegensatz der idealistischen und materialistischen Geschichtsauffassung, sondern vielmehr eine Differenz innerhalb der letzteren, welche die beiden bei ihren verschiedenen Momenten packten. Die Menschen machen ihre eigne Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken – sagten Marx und Engels, indem sie ihr Lebenswerk, die gesetzmäßige materialistische Geschichtserklärung, verfochten. Die Menschen machen die Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst – betonte Lassalle, indem er sein Lebenswerk, den „individuellen Entschluss", die „kühne Tat", verfocht.

Die materialistische Geschichtsauffassung, aus einer Theorie der Vergangenheit in die der Gegenwart übersetzt, heißt sozialistische Doktrin, und der „individuelle Entschluss", aus einem Faktor der Geschichte in die aktive Politik übersetzt, heißt praktische Politik, der das nächste Ziel am wichtigsten, allgemeine theoretische Gesichtspunkte Nebensache sind. Lassalle, schrieb Marx im Jahre 1868 an Schweitzer, „ließ sich zu sehr durch die unmittelbaren Zeitumstände beherrschen. Er machte den kleinen Ausgangspunkt – seinen Gegensatz gegen einen Zwerg wie Schulze-Delitzsch – zum Zentralpunkt seiner Agitation – Staatshilfe gegen Selbsthilfe ... Viel zu intelligent, um diese Parole für etwas andres als ein transitorisches pis-aller (Notbehelf – R. L.) zu halten, konnte er sie nur durch ihre unmittelbare (angebliche!) practicability rechtfertigen. Zu diesem Behuf musste er ihre Ausführbarkeit für die nächste Zukunft behaupten. Der ,Staat' verwandelte sich daher in den preußischen Staat."6

Gewiss, der „individuelle Entschluss" Lassalles hielt vor der haarscharfen Kritik der Marxschen Doktrin nicht stand. Die Fehler, die vor 40 Jahren der Adlerblick eines Marx entdeckte, kann heute jeder seiner Schüler mit spielender Leichtigkeit an den Fingern abzählen.

Wer hat indes vor der Geschichte recht behalten, Marx oder Lassalle? Beide. Marx hatte recht, denn in normalen Bedingungen und auf großen Strecken des geschichtlichen Weges nur der Leitstern seiner Theorie die Arbeiterklasse zur Befreiung führen kann. Lassalle aber hat für seinen Geschichtsabschnitt recht behalten, denn durch einen kühn eingeschlagenen Seitenweg hat er die Arbeiterklasse nach abgekürzter Methode auf denselben großen geschichtlichen Weg im Sturmschritt geführt, auf dem sie fortan durch Marxens Fahne geleitet wird.

Was wäre entstanden", wenn Sickingen-Lassalle seine Fehler nicht begangen hätte? Wenn Lassalle die Staatshilfe für seine Assoziationen und das allgemeine Wahlrecht nicht zum Zentralpunkt seiner Agitation gemacht hätte? Gewiss, das geschichtliche Resultat im Großen und Ganzen wäre dadurch ebenso wenig geändert, wie das schließliche Scheitern der Sickingenschen Kampagne durch ihre Vereinigung mit der Bauernbewegung hätte verhindert werden können. Die Sozialdemokratie in Deutschland wäre gewiss kraft der „ehernen geschichtlichen Notwendigkeit", die „auslöschend über die Wirksamkeit individueller Entschlüsse und Handlungen hinweg fährt", früher oder später auch so zur Macht geworden. Indem Lassalle aber, auf eigne Verantwortlichkeit handelnd, an vorgefundene Vorstellungen und konkrete Tatsachen anknüpfte und seine theoretisch unhaltbare, aber unter den gegebenen Verhältnissen einzig wirksame Losung ausgab, rüttelte er mit einem Schlage die Massen auf und berief die deutsche Arbeiterklasse zum politischen Leben. Die „kühne Tat" behielt recht auch gegenüber der „ehernen Notwendigkeit" der Geschichte, die auf kleineren Strecken für Abweichungen nach rechts oder links, für sterile Fehler Sickingens und befruchtende Fehler Lassalles wohl Spielraum lässt.

Wäre es nicht im Hinblick auf die Erscheinungen der Gegenwart eine Blasphemie gegenüber Lassalle, wir könnten ihn den großen Opportunisten der deutschen Sozialdemokratie nennen. Aber zwischen der sog. „praktischen Politik" des heutigen Tages und der Lassalles besteht nicht Analogie, sondern direkter Gegensatz. Lassalle sündigte mit seiner Parole der Produktivassoziationen und des Staatskredits gegen die Marxsche Auffassung des Sozialismus sozusagen in ihrer Abwesenheit, als eine Klassenbewegung im Sinne dieser Theorie in Deutschland noch gar nicht existierte. Durch seine Fehler selbst hat er vielmehr der Marxschen Theorie erst die Bahn gebrochen. Heute ist die Lehre Marx' zur herrschenden, bestimmenden für die große Masse des kämpfenden Proletariats geworden, und indem der sozialistische Opportunismus sie außer acht lässt oder umgeht, sucht er unbewusst die historisch bereits vollzogene Vereinigung „der Wissenschaft und der Arbeiter", der Theorie und der Praxis, rückgängig zu machen und die Arbeiterbewegung wieder ohne den sicheren theoretischen Kompass auf das Meer praktischer Experimente zu stoßen. Lassalle wandte sich mit seiner Agitation ausschließlich und direkt an das industrielle Proletariat, das heißt an eine Klasse, die, einmal durch seine Agitation in den „Kampf" gerissen, kraft ihrer sozialen Lage selbst auch durch die Lassalleschen Irrtümer hindurch den Weg zur tieferen Einsicht, zur Marxschen Lehre finden musste. Der heutige Praktizismus zielt hauptsächlich auf die Heranziehung von kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten ab, die ebenso sehr kraft ihrer sozialen Lage aus der irreführenden Agitation nur das Irreführende weiterzuentwickeln und immer mehr den Weg von der Marxschen Lehre hinweg einzuschlagen imstande sind. Und endlich, während Lassalle seine praktischen Losungen im schroffsten Gegensatz zu den Losungen der Bourgeoisie aufstellte und so die deutsche Arbeiterklasse von der bürgerlichen Demokratie zum selbständigen politischen Klassendasein abschnitt, führt der heutige Praktizismus durch Aneignung der bürgerlich-demokratischen Losungen ganz umgekehrt nur dazu, die Arbeiterklasse in den Heerbann der Bourgeoisie zurück zu geleiten.

Die Geschichte ist ein gar respektloser Spaßvogel. Der heutige Unsinn und die heutige Plage des Opportunismus – um im schlechten Tone Goethes zu sprechen – sind, wenn man so will, die im Laufe der Zeit auf den Kopf gestellte Vernunft und Wohltat des Lassalleschen Praktizismus. Und so rechtfertigt sich auch der einzige große Versuch, die sozialistische Praxis in gewissen Grenzen ohne und gegen die wissenschaftliche sozialistische Doktrin zu gestalten, so rechtfertigt sich der Lassallesche „Opportunismus" in letzter Linie lediglich dadurch, dass er im Grunde genommen doch nur der Bannerträger der „Doktrin" war. Und die „kühne Tat" behielt auch vor der „ehernen Notwendigkeit der Geschichte" nur recht, weil sie im geschichtsphilosophischen Sinne eine revolutionäre Tat war.

1 Ferd. Lassalle's Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Erster Band, Berlin 1892, S. 5-185.

  1. 2 Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels, Stuttgart 1902. S. 23, 24/25, 34, 70 u. 74.

  1. 3 Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels, S. 30/31.

  1. 4 Ferd. Lassalle's Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung herausgegeben von Ed. Bernstein, Erster Band, S. 57.

5 Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx. Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle. Herausgegeben von Franz Mehring. Bd. IV: Briefe von Ferdinand Lassalle an Karl Marx und Friedrich Engels, S. 156.

6 Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 32, Berlin 1965, S. 569.

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