Rosa Luxemburg 19050209 Die Revolution in Russland

Rosa Luxemburg: Die Revolution in Russland

[Vorwärts (Berlin), I: Nr. 34 vom 9. Februar 1905, II: Nr. 35 vom 10. Februar 1905. Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 500-508]

I

Die Entwicklung der revolutionären Ereignisse im Zarenreich hat schon mit der Verschiebung des proletarischen Aufstandes von Petersburg nach der russischen Provinz und nach den litauischen und polnischen Gebieten jeden Zweifel darüber beseitigt, dass es sich gegenwärtig im Reiche der Knute nicht um eine spontane, blinde Revolte unterdrückter Sklaven, sondern um eine wirkliche politische Bewegung des klassenbewussten städtischen Proletariats handelt, die ganz einheitlich und im engsten politischen Zusammenhang nach dem plötzlichen Signal aus Petersburg eingeleitet wurde. Hier stand schon die Sozialdemokratie überall an der Spitze der Erhebung.

Und dies entspricht auch der natürlichen Rolle einer revolutionären Partei beim Ausbruch eines offenen politischen Massenkampfes.

Sich im Laufe der Revolution die führende Stellung erobern, die ersten Siege und Niederlagen der elementaren Erhebungen geschickt ausnutzen, um sich des Stromes im Strome selbst zu bemächtigen, dies ist die Aufgabe der Sozialdemokratie in revolutionären Epochen. Nicht den Anfang, sondern den Schluss, das Ergebnis des revolutionären Ausbruches meistern und dirigieren, dies ist das einzige Ziel, das sich eine politische Partei vernünftigerweise stellen kann, will sie sich nicht phantastischen Illusionen der Selbstüberschätzung oder einem indolenten Pessimismus hingeben.

Inwiefern aber diese Aufgabe der Partei gelingt, inwiefern sie der Situation gewachsen ist, das hängt zum größten Teil von der Frage ab, wieweit sich die Sozialdemokratie in vorrevolutionären Zeiten Einfluss auf die Massen zu verschaffen gewusst hat, wieweit es ihr schon vorher gelungen war, eine feste Kerntruppe zielklarer, politisch geschulter Arbeiter heranzubilden, wie groß die Summe Aufklärungs- und Organisationsarbeit ist, die sie geleistet hat. Die jetzigen Ereignisse im russischen Reich lassen sich nur im Lichte der vorherigen Schicksale der Arbeiterbewegung, nur aus der Perspektive der ganzen 15- bis 20jährigen Geschichte der Sozialdemokratie beurteilen und verstehen.

Wenn die Frage gestellt wird, welchen Anteil die Sozialdemokratie an der jetzigen revolutionären Erhebung hat, so muss vor allem festgestellt werden, dass seit jeher und bis in die jüngsten Tage sich im eigentlichen Russland um die Arbeiterklasse, um ihre kulturelle und materielle Hebung, um ihre politische Aufklärung überhaupt niemand kümmerte als die Sozialdemokratie. Die eigentliche industrielle und kommerzielle Bourgeoisie hat sich selbst als Klasse nicht einmal zu einem schwächlichen Liberalismus aufraffen können, und die liberalen adeligen Agrarier schmollten in ihren Winkeln, wobei sie sich politisch unentwegt nur auf dem schmalen Tugendpfade „zwischen Furcht und Hoffnung" stets bewegten. Als politische Erzieher des industriellen Proletariats kommen sie gar nicht in Betracht. Insofern aber die radikale und demokratische Intelligenz sich um das russische „Volk" kümmerte, und das tat sie besonders in den 70er und 80er Jahren mit Eifer, richteten sich ihre Tätigkeit wie ihre Sympathie ausschließlich auf das Landvolk, auf die Bauernschaft. Als Ärzte in den Dörfern, als Statistiker in den Landschaften (Semstwos), als Dorflehrer, als Gutsherren suchten die russischen Liberalen und Demokraten kulturell zu wirken. Der Bauer, die „Mutter Erde" – das waren bis in die 90er Jahre hinein für die Intelligenz die Angelpunkte der Hebung Russlands und seiner politischen Zukunft. Der städtische Industrieproletarier galt hingegen mitsamt dem modernen Kapitalismus als etwas dem russischen Volke Wesensfremdes, als das Zersetzungselement, als eine wunde Stelle des Volksdaseins. Noch in der ersten Hälfte der 90er Jahre führte das geistige Haupt des oppositionellen Russlands, der verstorbene, einst glänzende Schriftsteller Michailowski, ganze literarische Feldzüge gegen die marxistische Lehre von der sozialen Bedeutung des Industrieproletariats, indem er z. B. an der Hand der städtischen Gassenhauer und dergleichen nachwies, dass das Fabrikproletariat direkt zur moralischen und intellektuellen Degradation des russischen „Volkes" führe.

Und in denselben Bahnen bewegten sich auch bis zu den 90er Jahren die sozialistischen Gedankengänge in Russland. Die terroristische Bewegung der alten „Narodnaja Wolja", die sich in ihrer Theorie vorzugsweise auf die Fiktion der bäuerlichen kommunistischen Landgemeinde und ihrer sozialistischen Mission stützte, wirkte noch bis Ende der 80er Jahre in den revolutionären Kreisen nach und hielt die Geister in dem Gesichtskreis der alten, dem städtischen Proletariat abholden Volkstümelei gebannt, obwohl der politische Höhepunkt der terroristischen Taktik bereits im Jahre 1881, mit der Beseitigung Alexanders II., überschritten war.

Es galt unter solchen Umständen, dem städtischen modernen Proletariat in Russland erst überhaupt das gesellschaftliche und historische Bürgerrecht zu erkämpfen, seine soziale und ökonomische Bedeutung, die in ihm schlummernden Keime einer künftigen revolutionären Kraft nachzuweisen, ebenso wie den „besonderen Zusammenhang der Idee des Arbeiterstandes" mit der politischen Befreiung Russlands vom Zarismus. Diese Aufgabe allein, der heiße theoretische, literarische Kampf mit den volkstümlerischen, antikapitalistischen Theorien um das Daseinsrecht des Kapitalismus und die Rolle des modernen Proletariats in der russischen Gesellschaft hat fast ein Jahrzehnt in Anspruch genommen.

Erst gegen Anfang der 90er Jahre waren die terroristischen Traditionen und die volkstümlerischen Vorurteile der russischen Intelligenz so weit überwunden und die Marxsche Lehre so weit in die Geister verpflanzt, dass eine sozialdemokratische Praxis beginnen konnte.

Damit begannen aber erst die Schwierigkeiten und die qualvollen Irrwege der Praxis. Zunächst nahm diese naturgemäß die Form einer geheimen Propaganda in geschlossenen kleinen Arbeiterzirkeln an. Der noch ganz rohe russische Proletarier musste meistens erst im allgemeinen Sinne aufgeklärt, es mussten ihm erst die elementarsten Bildungselemente beigebracht werden, bevor er für die sozialdemokratische Lehre aufnahmefähig wurde. Die Propaganda wurde so notgedrungen mit allgemeiner Aufklärungsarbeit verbunden und in ein äußerst schwerfälliges, langsam vorwärtsschreitendes Werk verwandelt. Zirkel von 5, 10, 20 Arbeitern nahmen jahrelang die besten, ja sämtliche Kräfte der sozialdemokratischen Intelligenz in Anspruch. Dank der Gewissenhaftigkeit und dem Eifer, mit denen in Russland die jeweilig herrschende Agitationsform stets bis zur äußersten Konsequenz, bis zur Absurdität verfolgt wird, mischte sich bald in die Zirkelagitation das unvermeidliche Element der Pedanterie, und die Sozialdemokratie bemerkte alsbald, dass mittlerweile der Sozialismus in den Zirkeln beinahe zu einer Karikatur auf die Marxsche Lehre vom Klassenkampf geworden war. Die Arbeiter wurden in den Zirkeln nicht zu kämpfenden klassenbewussten Proletariern, sondern sozusagen zu gelehrten Rabbinern des Sozialismus, zu abgerichteten Musterexemplaren aufgeklärter Arbeiter gemacht, die nicht in die große Masse die Bewegung hineintrugen, sondern umgekehrt aus ihrem Mutterboden entwurzelt, der Masse entfremdet wurden.

Grausam gründlich" wurde die erste Phase der sozialdemokratischen Arbeit einer Selbstkritik unterzogen, verhöhnt und weggeworfen. An Stelle der isolierten „Heimarbeit" in den Zirkeln für Sozialismus und „gelehrte Sachen" wurde gegen die Hälfte der 90er Jahre die Losung: Massenagitation, unmittelbarer Kampf, aufgestellt. Eine Massenagitation und ein Massenkampf aber unter dem Absolutismus, ohne alle politischen Formen und Rechte, ohne alle Möglichkeit, sich der Masse zu nähern, ohne Vereins- und Versammlungsfreiheit, ohne Koalitionsrecht, schien eine Quadratur des Zirkels, eine wahnwitzige Idee zu sein. Alsbald sollte sich jedoch gerade an dem Beispiel Russlands zeigen, wie viel mächtiger und witziger die materielle gesellschaftliche Entwicklung ist als die allerlei „Gesetzlichkeiten", die manchem westeuropäischen Sozialdemokraten mit ihrem starren gelben Pergamentantlitz so viel heilige Scheu und Ehrfurcht einflößen. Ein Massenkampf, eine Massenagitation unter dem Absolutismus erwiesen sich als möglich, die Quadratur des Zirkels wurde am frühesten in Polen gelöst, wo bereits um das Jahr 1890 die erste sozialdemokratische Organisation entstand, die sich freilich mehr empirisch und tastend dem ökonomischen Kampfe widmete und eine muntere Massenbewegung ins Leben zu rufen wusste. Dem Beispiel Polens folgte Russland, und bald hing den sozialdemokratischen Gewerkschaften der Himmel voller Geigen. Durch eine frisch-fröhliche Agitation auf dem Boden der unmittelbaren materiellen Bedürfnisse wurde die Masse wirklich in Bewegung gebracht, und nach einer langen Reihe kleinerer und größerer Streiks gipfelte die Agitation in dem enormen Streik des Jahres 1896 in Petersburg. Ausschließlich von Sozialdemokraten geleitet, schien dieser Massenausbruch das Werk zu krönen und der neuen, zweiten Phase der Agitation ein glänzendes Zeugnis zu geben.

Nur, dass die Sache wieder einen Haken hatte. Der rasch dahin holpernde Karren der russischen Sozialdemokratie stieß nämlich diesmal an einer anderen Straßenecke gefährlich an: Während in Polen die erste „ökonomische" Phase der Massenagitation bereits 1893 überwunden wurde und in eine ausgesprochen politisch sozialdemokratische Bewegung mündete, waren in Russland bei dem Eifer der Massenagitation aus ihr unversehens sowohl die Politik wie der Sozialismus beinahe verschwunden, und was geblieben war, war vielfach nur platte Gewerkschafterei mit einer winzigen Lohnerhöhung als Ideal und den Unterhaltungen mit dem Fabrikinspektor an Stelle des Kampfes mit der Bourgeoisie. Und wie früher der einzelne Arbeiter im Zirkel gleichsam durch einen akademischen Kursus, nicht selten durch den kleinen Umweg über Darwin und die Vogtschen Rundwürmer und Plattwürmer, zu Marx geführt wurde, so sollte jetzt die gesamte Arbeiterschaft zum Klassenkampf wie eine große Schülerklasse durch Anschauungsunterricht erzogen und durch Gendarmen und Polizeiprügel bei den Streiks von selbst auf den witzigen Einfall von der Notwendigkeit der Abschaffung des Absolutismus gestoßen werden. Auf diese Weise wurde gewissermaßen den Subatowschen Experimentender Regierung vorgearbeitet, deren Kreaturen nachher in den behördlich erlaubten Arbeitervereinen dieselben Ratschläge ableierten, die der Reichskanzler Graf Bülow neulich im Reichstage den streikenden Bergarbeitern im Ruhrgebiet gab.

Zum drittenmal wurde die Agitationsweise einer unbarmherzigen Kritik unterzogen, und eine schroffe Umkehr zur klaren politischen Massenagitation bezeichnet das Ende der 90er Jahre. Und der Boden erwies sich so dankbar, so gut vorbereitet, dass die Idee des politischen Kampfes wie ein Blitz einschlug. Mit Beginn des Jahres 1901 wurde eine neue Phase – die politischer Massendemonstrationen im Anschluss an akademische Unruhen – eröffnet. Wie ein Gewitter zog befreiend, luftreinigend die Straßendemonstration von Stadt zu Stadt, von Petersburg, vom Norden, zum Süden, vom Westen, von Warschau, bis zum äußersten Osten im fernen Sibirien, in Tomsk und Tobolsk. Und wieder entluden sich die neugeweckten revolutionären Kräfte in einem Massenstreik – diesmal im politischen Massenstreik im Süden, in Rostow am Don, im Jahre 19021, wo Tag für Tag Volksversammlungen von zehn- und zwanzigtausend Arbeitern unter offenem Himmel, umringt von Soldaten, stattfanden und wo frischgebackene sozialdemokratische Volksredner zündende Reden improvisierten, wo Zehntausende auf die Sozialdemokratie Hochrufe ausbrachten und den Sturz des Absolutismus ankündigten.

Schon drohte die Bewegung zum vierten Mal sich in eine Sackgasse zu verrennen. Eine gesunde Massenbewegung hat das nämlich an sich, dass sie, wenn sie nicht zurückgehen soll, unbedingt vorwärtsschreiten, sich entwickeln, sich steigern muss. Und jetzt lebte die russische Arbeiterbewegung rasch und intensiv. Nach dem ersten Zyklus der politischen Straßendemonstrationen stand vor der russischen Sozialdemokratie alsbald die schreckende Frage: Was weiter? Unaufhörlich kann man nicht bloß „demonstrieren". Demonstration, das ist bloß ein Moment, eine Ouvertüre, ein Fragezeichen. Die Antwort zögerte der Sozialdemokratie auf den Lippen – sie war nicht leicht.

Da kam der Krieg. Und mit ihm ergab sich die Lösung von selbst. Dasjenige Wort, welches in nüchterner, ruhiger Atmosphäre des grauen Alltags eine Abgeschmacktheit, eine Renommisterei, eine hohle Phrase ist – die Revolution wurde in Russland von Anbeginn des Krieges zur Parole, die alle lebendigen Geister, alle Lebenstöne, das hellste Echo in der Arbeiterklasse weckte. Die Sozialdemokratie des ganzen Reiches agitierte, in harmonischem Unisono mit den Ereignissen des Krieges und mandschurischen Kanonendonner zur Begleitung nehmend, für die Idee der Revolution, des offenen Straßenkampfes, der Erhebung des Proletariats gegen den Zarismus. Alle Artikel der sozialdemokratischen Blätter, alle Hunderttausende von Flugblättern der Sozialdemokratie – der russischen, der polnischen, der jüdischen, der lettischen –, alle Versammlungen liefen in die Losung aus: Proletarische Erhebung gegen den Zarismus. Man agitierte mit etwas verhaltenem Atem und einiger Beklemmung in der Brust. Denn es gibt nichts Einfacheres als eine Revolution, die bereits stattgefunden, und nichts verteufelt Schwierigeres als eine, die erst „gemacht" werden soll. Man rief die Revolution mit tausend Stimmen – und sie kam.

Wie sie immer kommt: „unerwartet", obwohl seit bald zwei Jahrzehnten vorbereitet, unhörbar, über Nacht, wie eine steigende Wasserflut – allerlei Gerümpel und Balken, die sie unterwegs auffing, hoch auf dem geschwellten, ärgerlich-trüben Wasser tragend.

Wer glaubt, dass treibende Balken die Wasserflut regieren, mag glauben, dass Vater Gapon der Urheber und Leiter der proletarischen Revolution in Russland ist.

II

So genügt es denn, die Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung im russischen Reiche einigermaßen zu kennen, um sich im Voraus darüber klar zu sein, dass die jetzige Revolution, gleichviel welche Formen und welchen äußeren Anlass sie zunächst aufweist, nicht aus der Pistole geschossen kam, sondern vielmehr historisch aus der sozialdemokratischen Bewegung im ganzen Reiche emporgewachsen ist, dass sie ein normales Stadium, einen natürlichen Knotenpunkt auf der Entwicklungslinie der sozialdemokratischen Agitation bildet, einen Punkt, in dem die Quantität wieder einmal in die Qualität – in eine neue Form des Kampfes – umgeschlagen ist, eine beschleunigte Reproduktion auf höherer Stufenleiter der sozialdemokratischen Massenerhebungen in Petersburg vom Jahre 1896 und in Rostow vom Jahre 19022.

Überblickt man nämlich die etwa fünfzehnjährige Geschichte der sozialdemokratischen Praxis im russischen Reich, dann erscheint sie nicht als ein schroffer Zickzackkurs, als welcher sie subjektiv den dort tätigen Sozialdemokraten jeweilen erscheinen mochte, sondern als eine ganz logische Entwicklung, in der sich jedes höhere Stadium aus dem rückständigeren ergab und ohne dieses gar nicht denkbar wäre. Wie bitter die anfängliche Phase der geschlossenen Zirkelpropaganda von den Sozialdemokraten selbst später auch kritisiert wurde, so hat doch zweifellos erst diese unscheinbare Sisyphusarbeit jenen zahlreichen Stock aufgeklärter Individuen unter dem Proletariat herangebildet, die weiterhin zu Trägern und Stützpunkten der Massenagitation auf dem Boden der wirtschaftlichen Interessen wurden. Desgleichen hat erst diese intensive ökonomische Agitation die weiteren Schichten der Arbeiterschaft so weit aufgerüttelt, ihnen die Idee des Klassenkampfes so weit beigebracht, dass die ausgesprochene und scharf akzentuierte politische Agitation einen fruchtbaren Boden fand und so die Reihe der großen Straßendemonstrationen entfesseln konnte. Und alle diese Entwicklungsstufen in ihrer Gesamtheit, in ihrer sich immer steigernden Intensität und dem immer zunehmenden Umfang der Agitation haben erst jene Summe der politischen Aufklärung, jene Aktionsfähigkeit und jene revolutionäre Spannung geschaffen, die zu den Ereignissen des 22. Januar und der folgenden Woche geführt haben. Und zweifellos ist es alleiniges und direktes Werk der Sozialdemokratie, dass sie das Gefühl der politischen Klassenzusammengehörigkeit aller Proletarier im Zarenreich trotz aller nationalen Hetzereien des Absolutismus so stark entwickelt hat, dass die Petersburger Erhebung zum Signal einer einmütigen allgemeinen Erhebung der Arbeiterschaft im ganzen Reiche wurde: im eigentlichen Russland wie noch mehr in Polen und Litauen, einer Erhebung zu gemeinsamen Zwecken, mit gemeinsamen Forderungen.

Nicht darauf kommt es natürlich an, um den von der sozialdemokratischen Bewegung in Russland beschriebenen geschichtlichen Weg als den besten, den einzig und wirklich guten zu rechtfertigen. Es ließe sich vielleicht – besonders jetzt, hinterdrein – ein viel kürzerer und besserer Weg ausfindig machen. Da aber die gesellschaftliche Geschichte eine ewige Premiere, eine Vorstellung bleibt, die nur einmal gegeben wird, so kommt es – besonders für die Sozialdemokratie – vor allem darauf an, die tatsächlichen Wege der Arbeiterbewegung, wie sie nun einmal in jedem Lande stattgefunden hat und stattfindet, in ihrer inneren Logik begreifen zu lernen.

Freilich spielen die Kriegsereignisse und der unerträglich gewordene Druck des Absolutismus eine große, eine entscheidende Rolle bei diesen Ereignissen. Allein, dass der Moment des gegenwärtigen Krieges einen solchen Ausbruch herbeiführen konnte, dass der Druck des Absolutismus subjektiv für die große Masse des Industrieproletariats ganz unerträglich geworden – objektiv ist sich dieser Druck stets gleich geblieben –, darin eben äußert sich die von der Sozialdemokratie geleistete Vorarbeit. Der für das offizielle Russland nicht minder vernichtende Krimkrieg hat seinerzeit nur zu einer Farce „liberaler" Reformen geführt, und diese Farce war die Liquidation und das Äquivalent derjenigen politischen Macht, die der russische Liberalismus für sich allein aufzubringen vermocht hat. Der russisch-türkische Krieg, der an barbarischem Schalten und Walten mit Zehntausenden Proletarier- und Bauernleben dem gegenwärtigen in nichts nachstand und der seinerzeit auch eine starke Gärung in der Gesellschaft hervorgerufen, hat nur das Aufkommen der terroristischen „Narodnaja Wolja" beschleunigt und in ihrer glänzenden, aber kurzen und sterilen Laufbahn gezeigt, was an politischer Macht die revolutionäre Intelligenz, gestützt auf die demokratischen und liberalen Kreise der „Gesellschaft", aufzubringen imstande ist. Das Aufkommen der Partei des systematischen politischen Terrors war aber seinerseits schon von vornherein ein Produkt der Enttäuschung über die Organisations- und Aktionsunfähigkeit der russischen Bauernmasse. Damit hatte auch diese Gesellschaftsklasse im Zarenreich ihre historische Indolenz nachgewiesen.

Und erst der jetzige Krieg vermochte eben eine revolutionäre Massenbewegung aus dem Boden zu stampfen, die sofort die ganze Zwingburg des Absolutismus erzittern machte. Weil eben erst der jetzige Krieg im ganzen Reiche eine durch die fast jahrzehntelange Agitation aufgerüttelte und aufgeklärte moderne Arbeiterklasse vorgefunden hat, die imstande ist, die revolutionären Konsequenzen des Krieges zum ersten Mal in der Geschichte Russlands zur revolutionären Tat zu prägen.

Und erst auf dem Fond dieser sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bekamen liberale Regungen und demokratische Strömungen der Intelligenz, des fortschrittlichen Adels Blut und Leben, Bedeutung und Nachdruck. Die proletarische Revolution kam gerade im richtigen Moment, nämlich just als ihre momentanen Vorläufer: die liberale Semstwo-Aktion und die demokratischen Intelligenzbankette in Russland, an ihrer eigenen Machtlosigkeit zu zerschellen drohten, als in der ganzen oppositionellen Bewegung plötzlich ein bedenklicher toter Punkt eingetreten war, den die Reaktion mit der sicheren Spürnase der Herrschenden sofort herausgefühlt hatte und sich eben anschickte, mit festerem Fuße aufzutreten. Der muskulöse proletarische Massenarm hat den Karren mit einem Ruck vorwärts geschoben und ihm eine solche Geschwindigkeit beigebracht, dass er nicht eher zur Ruhe kommen kann und wird, als bis der Absolutismus unter seinen Rädern zermalmt liegt.

Auch im Zarenreich ist die Sozialdemokratie nicht diejenige, die erntet, wo andere gesät haben, vielmehr gehört ihr die revolutionäre Aussaat mitsamt der Riesenarbeit der Urbarmachung des proletarischen Bodens. Die Ernte aber gehört allen fortschrittlichen Elementen der bürgerlichen Gesellschaft und nicht zuletzt – der internationalen Sozialdemokratie.

1 In der Quelle: 1903.

2 In der Quelle: 1903.

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