Vorwort des Verfassers zur ersten russischen Ausgabe

Vorwort des Verfassers zur ersten russischen Ausgabe

In vorliegender Arbeit will der Verfasser die Frage untersuchen: Wie gestaltet sich der innere Markt für den russischen Kapitalismus? Es ist dies eine Frage, die die Hauptverfechter der Narodniki-Ideen (allen voran die Herren W. W. und N.-on) bekanntlich schon längst aufgeworfen haben, und es wird unsere Aufgabe sein, diese Anschauungen einer Kritik zu unterziehen. Wir hielten es für unzulässig, unsere Kritik auf die Untersuchung der Fehler und Unrichtigkeiten in den Anschauungen unserer Gegner zu beschränken; zur Beantwortung der gestellten Frage schien uns die bloße Anführung der Tatsachen, die für die Bildung und das Wachsen des inneren Marktes sprechen, ungenügend, denn man könnte einwenden, dass diese Tatsachen willkürlich herausgegriffen seien, und dass alles, was ihnen widerspreche, übergangen sei. Uns erschien es erforderlich, den ganzen Prozess der Entwicklung des russischen Kapitalismus zu überprüfen und seine Darstellung zu versuchen. Es liegt auf der Hand, dass ein Einzelner eine derartige Aufgabe nicht bewältigen kann, wenn er sich nicht eine ganze Reihe von Beschränkungen auferlegt. Wir werden daher erstens, wie schon aus dem Untertitel ersichtlich, die Entwicklung des Kapitalismus lediglich in Hinsicht auf den inneren Markt betrachten und dabei die Frage des äußeren Marktes und die Tatsachen des Außenhandels beiseite lassen. Zweitens werden wir uns auf die Epoche nach der Reform beschränken. Drittens benutzen wir hauptsächlich und fast ausschließlich Tatsachenmaterial aus den inneren, rein russischen Gouvernements. Viertens beschränken wir uns ganz auf die ökonomische Seite des Prozesses. Aber auch nach allen diesen Einschränkungen bleibt der Gegenstand äußerst umfangreich. Der Verfasser verhehlt sich keineswegs die Schwierigkeiten und sogar Gefahren, die die Wahl eines so umfassenden Themas birgt, doch schien es ihm für die Klärung der Frage des inneren Marktes für den russischen Kapitalismus unbedingt notwendig, diesen auf allen volkswirtschaftlichen Gebieten auftretenden Prozess im Zusammenhang und in der wechselseitigen Abhängigkeit seiner verschiedenen Seiten zu zeigen. Wir können darum nur die Grundzüge des Prozesses untersuchen und müssen weiteren Forschungen das Eingehen auf seine Einzelheiten überlassen.

Der Plan unserer Arbeit ist folgender. Im ersten Kapitel untersuchen wir, so kurz wie möglich, die theoretischen Grundsätze der abstrakten politischen Ökonomie zur Frage des inneren Marktes für den Kapitalismus. Es dient gleichsam als Einführung in den übrigen, konkreten Teil des Werkes und befreit uns von der Notwendigkeit, später in zahlreichen Fällen auf die Theorie zurückzugreifen. In den drei folgenden Kapiteln werden wir uns bemühen, die kapitalistische Entwicklung der russischen Landwirtschaft nach der Reform zu schildern, und zwar behandeln wir: im zweiten Kapitel die Erhebungen der Semstwostatistik über die Zersetzung der Bauernschaft, im dritten die Angaben über den Prozess der Umgestaltung der Gutswirtschaft, über die Ablösung der Fronwirtschaft durch die kapitalistische Wirtschaft, und im vierten die Angaben über die Formen, unter denen sich die Bildung der für den Markt produzierenden und kapitalistischen Landwirtschaft vollzieht. Drei weitere Kapitel werden den Formen und Entwicklungsstufen unseres industriellen Kapitalismus gewidmet sein: im fünften Kapitel untersuchen wir die ersten Stadien des Kapitalismus in der Industrie, und zwar in der bäuerlichen Kleinindustrie (der sogenannten Kustarindustrie); im sechsten Kapitel die kapitalistische Manufaktur und kapitalistische Heimarbeit; im siebenten Kapitel die Entwicklung der maschinellen Großindustrie. Im letzten, achten Kapitel machen wir den Versuch, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen, gesondert behandelten Seiten des Prozesses aufzudecken und ein Gesamtbild des Prozesses zu entwerfen.

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P. S.1 Zu unserm größten Bedauern konnten wir für die vorliegende Arbeit die ausgezeichnete Analyse der „Entwicklung der Landwirtschaft in der kapitalistischen Gesellschaft" nicht mehr benutzen, die K. Kautsky in seinem Buche „Die Agrarfrage" (Stuttgart, Dietz, 1899; I. Abschn.: „Die Entwicklung der Landwirtschaft in der kapitalistischen Gesellschaft"2) gegeben hat.

Dieses Buch, das wir erst erhielten, als der größte Teil der vorliegenden Arbeit bereits gesetzt war, ist nach dem dritten Bande des „Kapital"3 die bemerkenswerteste Erscheinung der neueren ökonomischen Literatur. Kautsky erforscht die „Grundtendenzen" der kapitalistischen Entwicklung der Landwirtschaft und untersucht die verschiedenartigen Erscheinungen in der modernen Landwirtschaft als „Teilerscheinungen eines Gesamtprozesses" (Vorrede, VI). Es ist interessant, festzustehen, wie sehr dieser allgemeine Prozess in Westeuropa und Russland, ungeachtet der außerordentlichen Eigentümlichkeiten Russlands, sowohl in ökonomischer als auch außerökonomischer Hinsicht, in seinen Grundzügen übereinstimmt. Typisch ist z. B. für die moderne Landwirtschaft überhaupt die fortschreitende Arbeitsteilung und Anwendung von Maschinen (Kautsky, 4, b, c), was seit der Reform auch in Russland die Aufmerksamkeit auf sich lenkt (vgl. unten Kap. III, § 7 und 8, Kap. IV, besonders § 9). Der Prozess der „Proletarisierung der Bauernschaft" (Überschrift des 8. Kapitels des Buches von Kautsky) zeigt sich überall in der Ausbreitung verschiedener Arten von Lohnarbeit unter den Kleinbauern (Kautsky, 8, b); parallel dazu beobachten wir in Russland die Bildung einer sehr großen Klasse von Lohnarbeitern mit Landanteil (vgl. unten Kap. II). Das Bestehen einer Kleinbauernschaft in jeder kapitalistischen Gesellschaft erklärt sich nicht durch eine technische Überlegenheit des Kleinbetriebes in der Landwirtschaft, sondern dadurch, dass die Kleinbauern ihre Lebenshaltung unter die der Lohnarbeiter herabsetzen und sich bei der Arbeit unvergleichlich mehr abrackern als die Lohnarbeiter (Kautsky, 6, b; „dass der ländliche Lohnarbeiter besser daran ist als der selbständige kleine Landwirt", wiederholt Kautsky immer wieder: S. 110, 317, 320); eine analoge Erscheinung zeigt sich auch in Russland (vgl. unten Kap. II, § 12, B). Es ist deshalb verständlich, dass die westeuropäischen und die russischen Marxisten in der Wertung solcher Erscheinungen übereinstimmen, wie z. B. der landwirtschaftlichen „otchoschiepromysly" nach russischer Ausdrucksweise oder der „landwirtschaftlichen Lohnarbeit der Sachsengänger", wie sich die Deutschen ausdrücken (Kautsky, S. 192; vgl. unten Kap. III, § 10) oder der Abwanderung der Arbeiter und Bauern aus den Dörfern in die Städte und Fabriken (Kautsky, 9, e; besonders S. 343 und sonst vielfach. Vgl. weiter unten Kap. VIII, § 2) oder der Verlegung der kapitalistischen Großindustrie ins Dorf (Kautsky, S. 187. Vgl. weiter unten Kap. VII, § 8). Wir sprechen schon gar nicht von der übereinstimmenden Bewertung der historischen Bedeutung des landwirtschaftlichen Kapitalismus (Kautsky, vielfach, besonders S. 289, 292, 298. Vgl. weiter unten Kap. IV, § 9), von der übereinstimmenden Anerkennung der Fortschrittlichkeit der kapitalistischen Landwirtschaft gegenüber der vorkapitalistischen (Kautsky, S. 382: „Die Verdrängung des Gesindes" [persönlich abhängige Landarbeiter] „und der Instleute" [Mittelding zwischen Landarbeiter und Pächter: Bauern, die gegen „Abarbeit", d. h. Arbeitsleistung, Land in Pacht nehmen] „durch Tagelöhner, die außer der Arbeit freie Männer sind, wäre aber ein großer sozialer Fortschritt". Vgl. unten Kap. IV, § 9, 4). Kautsky vertritt kategorisch die Ansicht, dass an einen Übergang der bäuerlichen Dorfgemeinde zur gemeinwirtschaftlichen Führung der modernen Großlandwirtschaft „gar nicht zu denken" sei (S. 338), dass diejenigen Agronomen, die für Westeuropa eine Befestigung und Entwicklung der bäuerlichen Dorfgemeinde fordern, überhaupt nicht Sozialisten, sondern Vertreter der Interessen der Großgrundbesitzer seien, die die Arbeiter durch Überlassung von Landfetzen an sich zu ketten suchen (S. 334), dass in allen europäischen Ländern die Vertreter der Grundbesitzerinteressen den Wunsch hegen, die Landarbeiter durch Zuteilung von Land zu binden, und schon bemüht seien, in die Gesetzgebung dementsprechende Bestimmungen einzuführen (S. 162), und dass daher alle Versuche, einer kleinbäuerlichen Bevölkerung durch die Einbürgerung einer Hausindustrie – dieser schlimmsten Art kapitalistischer Ausbeutung – aufzuhelfen, „auf das entschiedenste zu bekämpfen seien" (S. 181). Wir halten es für erforderlich, an dieser Stelle die volle Übereinstimmung zwischen den westeuropäischen und den russischen Marxisten zu unterstreichen, angesichts der neuesten Versuche der Vertreter der Narodniki-Ideologie, einen scharfen Trennungsstrich zwischen beiden zu ziehen (siehe die Erklärung von W. Woronszow in der Gesellschaft zur Förderung des Handels und der Industrie Russlands vom 17. Februar 1899, „Nowoje Wremja", Nr. 8255 vom 19. Februar)4.

1 In einem an A. N. Potressow aus der Verbannung gerichteten Brief vom 27. April 1899 schreibt Lenin über dieses „Postskriptum": „Ich habe gehört, dass das P[ost]s[kriptum] im Vorwort zu spät gekommen, in die Vorzensur geraten ist und scheinbar ,gelitten' hat" (siehe Lenin-Sammelbuch Nr. 4, S. 23). Hieraus kann man schließen, dass das „Postskriptum" nach Drucklegung des ganzen Buches und des ersten Teiles des Vorworts geschrieben und abgeschickt worden war. Wie weit es durch die Zensur gelitten hat, lässt sich nicht beurteilen, da das Manuskript fehlt.

2 Das Buch Karl Kautskys „Die Agrarfrage" hatte Lenin offenbar im Februar 1899 erhalten. In seinem Brief an A. N. Potressow (vom 27. April 1899 aus dem Dorf Schuschenskoje) schrieb Lenin: „Ich habe das Buch Kautskys noch vor Erscheinen des Artikels von B[ulgakow] gelesen und bei letzterem nicht einen einigermaßen sinnvollen Einwand gegen Kautsky, dafür jedoch eine Menge Verdrehungen der Gedanken und Thesen K[autsky]s gefunden… Ich habe bereits den ersten Artikel ,Der Kapitalismus in der Landwirtschaft' (über das Buch K[autsky]s und den Artikel B[ulgakow]s) geschrieben und ihn vor zwei Wochen an die Redaktion geschickt; jetzt mache ich mich an den zweiten Artikel, der den Schluss des Artikels von B[ulgako]w behandelt." Der Artikel Lenins über das Buch Kautskys wurde in der Januar/Februarnummer der Zeitschrift „Schisn" veröffentlicht. Lenins Besprechung des Buches Kautskys erschien im Aprilheft der Zeitschrift „Natschalo" im Jahre 1899.

Das Buch Kautskys „Die Agrarfrage" wurde zum ersten Mal im gleichen Jahre 1899 ins Russische übersetzt (Verlag von W. N. Golowkin, Charkow, S. VI, 375; anstatt des zweiten Teils ist nur eine kurze Auslegung gegeben; der Übersetzer ist nicht bekannt). Die zweite Übersetzung wurde von N. A. Roschkow im Jahre 1906 gemacht (Verlag der Petrowskaja-Bibliothek in Moskau).

3 Der dritte Band des „Kapital" erschien im Jahre 1894 (das Vorwort von Engels zur ersten Ausgabe des dritten Bandes ist vom 4. Oktober 1894 datiert). Im Jahre 1896 erschien der dritte Band des „Kapital" in russischer Sprache in der Übersetzung von N. Danielson (Nikolai–on).

4 Die „Erklärung W. Woronzows" wird von der „Nowoje Wremja" folgendermaßen wiedergegeben: W. W. Woronzow (hier liegt offenbar ein Druckfehler vor, lies W. P. Woronzow. Die Red.) führt den Nachweis, dass die neueste Strömung des Marxismus im Westen bereits die landwirtschaftliche Klasse ergreift, während sie sich früher, dem natürlichen Lauf der historischen Entwicklung entsprechend, ausschließlich auf den Industriearbeiter konzentrierte. Bei uns verlief der Prozess umgekehrt: unsere Intelligenz musste sich vor allem mit der landwirtschaftlichen Klasse (die damals noch leibeigen war) beschäftigen und danach zur industriellen Klasse, als sie sich gebildet hatte, übergehen. Das Ziel der Intelligenz soll nicht darin bestehen, das Gewerbe vom Land zu trennen, sondern sie zu vereinigen. An Hand einer Reihe von Auszügen aus den Werken und Reden der westlichen Marxisten beweist Woronzow, dass sie der russischen Narodniki-Ideologie näher stehen als den russischen Marxisten. Der Redner macht jedoch den Einwand, dass für die sogenannten ,praktischen Marxisten' eine Ausnahme gemacht werden muss, mit denen die Narodniki auch bei uns solidarisch sind."

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