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Wladimir I. Lenin 19020228 Aus dem Wirtschaftsleben Russlands

Wladimir I. Lenin: Aus dem Wirtschaftsleben Russlands1

[„Iskra" Nr. 17 15./28. Februar 1902. Nach Sämtliche Werke, Band 5, Wien-Berlin 1930, S. 80-92]

Unter diesem Gesamttitel beabsichtigen wir, von Zeit zu Zeit, je nach dem Andrang des Stoffes, Aufsätze und Notizen zu veröffentlichen, die der Beleuchtung aller Seiten des wirtschaftlichen Lebens und der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands vom marxistischen Standpunkt gewidmet sind. Jetzt, wo die „Iskra" zweimal monatlich zu erscheinen begonnen hat, macht sich das Fehlen einer solchen Rubrik besonders stark fühlbar. Wir müssen dabei aber die ernsteste Aufmerksamkeit aller Genossen und aller Leute, die unseren Schriften mit Sympathie gegenüberstehen, darauf lenken, dass die (auch nur einigermaßen regelmäßige) Führung dieser Rubrik einen besonders reichhaltigen Stoff erfordert, dass unsere Redaktion aber in dieser Hinsicht sich in außerordentlich ungünstigen Verhältnissen befindet. Der legale Schriftsteller kann sich gar nicht vorstellen, an welchen – manchmal allereinfachsten – Hindernissen die Absichten und Bestrebungen eines „unterirdischen" Schriftstellers scheitern. Vergesst doch nicht, Herrschaften, dass wir uns nicht in die kaiserliche öffentliche Bibliothek setzen können, wo dem Journalisten Dutzende und Hunderte von Fachblättern und lokalen Zeitungen zur Verfügung stehen. Der Stoff aber für einen Wirtschaftsteil, der einer „Zeitung" auch nur einigermaßen entspricht, d. h. für einen auch nur einigermaßen lebendigen, aktuellen, Leser wie Schriftsteller interessierenden Wirtschaftsteil, – dieser Stoff ist gerade in den kleinen Lokalzeitungen und Fachblättern verstreut, von denen die meisten entweder wegen ihres Preises nicht zugänglich sind oder überhaupt nicht in den Handel gelangen (die Regierungs- und Semstwoblätter, die medizinischen Zeitschriften usw.). Darum ist eine auch nur einigermaßen richtige Einrichtung des Wirtschaftsteils ausschließlich unter der Bedingung möglich, dass alle Leser der illegalen Zeitung gemäß der Regel handeln: „Gibt jeder einen Faden, hat der Nackte ein Hemd." Und jede falsche Scham überwindend, muss die Redaktion der „Iskra" bekennen, dass sie in dieser Hinsicht fast ganz nackt dasteht. Wir sind überzeugt, dass die Masse unserer Leser die Möglichkeit hat, die verschiedensten Fach- und Lokalblätter „zu eigenem Gebrauch" zu verfolgen, und das auch tut. Nur, wenn jeder solcher Leser jedes Mal, wenn er auf interessanten Stoff stößt, sich die Frage stellt: ist wohl dieser Stoff auch in der Redaktion unserer Zeitung vorhanden?, was habe ich getan, um ihr diesen Stoff zur Kenntnis zu bringen? – erst dann werden wir es erreichen, dass alle hervorragenden Erscheinungen im wirtschaftlichen Leben Russlands nicht nur vom Standpunkte der Lobhudelei der offiziellen Regierungsorgane, des „Nowoje Wremja" und Wittes, bewertet werden, nicht nur um der traditionellen liberal-volkstümlerischen Flennerei willen, – sondern vom Standpunkt der revolutionären Sozialdemokratie.

Nun aber, nach dieser unliberalen Flennerei, wollen wir zur Sache übergehen.

I. Die Sparkassen

Die Sparkassen sind in letzter Zeit einer der beliebtesten Anlässe zur Lobhudelei. Nur bedient sich dieses Anlasses nicht allein die Wittesche, sondern auch die „kritische" Lobhudelei. Die David und Hertz, die Tschernow und Bulgakow, die Prokopowitsch und Totomianz – mit einem Wort, alle Anhänger der zur Mode gewordenen „Kritik des Marxismus" (ganz abgesehen von den würdigen Professoren, den Kablukow und Karyschew) rufen in allen Melodien und allen Stimmen: „Da reden diese Orthodoxen von der Konzentration des Kapitals! – Dabei zeigen uns allein schon die Sparkassen die Dezentralisierung des Kapitals. Sie reden vom Anwachsen des Elends! In Wirklichkeit aber sehen wir ein Wachstum der kleinen Volks-Ersparnisse."

Nehmen wir die uns von einem guten Menschen zugesandten amtlichen Angaben über die russischen Sparkassen im Jahre 1899 und sehen wir sie uns näher an.2 Es gab in Russland im Jahre 1899 insgesamt 4781 staatliche Sparkassen, darunter 3718 Post- und Telegraphen-Sparkassen und 84 Betriebs-Sparkassen. Im Verlaufe von 5 Jahren (von 1895–1899) wuchs die Zahl der Kassen um 1189, d. h. um ein Drittel an. Die Zahl der Sparer stieg während dieser Zeit von 1.664.000 auf 3.145.000, d. h. um beinahe anderthalb Millionen (um 89 Prozent); die Summe der Geldeinlagen stieg von 330 Millionen Rubel auf 608 Millionen Rubel, d. h. um 278 Millionen Rubel oder um 84 Prozent. Anscheinend also ein riesenhaftes Anwachsen der „Volks-Ersparnisse"?

Aber folgender Umstand springt in die Augen. Aus der Literatur über die Sparkassen ist bekannt, dass in den 80er Jahren und zu Beginn der 90er Jahre das Anwachsen der Spareinlagen am raschesten in den Hungerjahren 1891 und 1892 vor sich ging. Das – einerseits. Andererseits aber wissen wir, dass während dieser ganzen Periode überhaupt, in den 80er und 90er Jahren zusammengenommen, neben dem Wachstum der „Volks-Ersparnisse" ein erstaunlich rascher und akuter Prozess der Verelendung, des Ruins und des Verhungerns der Bauernschaft vor sich ging. Um zu verstehen, wie diese in Widerspruch zueinander stehenden Erscheinungen in Einklang zu bringen sind, braucht man sich nur in Erinnerung zu rufen, dass die Haupteigentümlichkeit des wirtschaftlichen Lebens Russlands in der betreffenden Periode das Wachstum der Geldwirtschaft ist. Das Anwachsen der Sparkasseneinlagen bedeutet an und für sich keineswegs das Wachstum der „Volks-Ersparnisse" im Allgemeinen, sondern nur das Wachstum (manchmal sogar nur eine Konzentration in den Zentralinstitutionen) der Geld-„Ersparnisse". In der Bauernschaft z. B. ist beim Übergang von der Naturalwirtschaft zur Geldwirtschaft eine Erhöhung der Geldersparnisse bei Verminderung des Gesamtbetrages der „Volks"-Ersparnisse durchaus möglich. Der Bauer alten Schlages hielt seine Ersparnisse im Spartopf, wenn es Geldersparnisse waren; zum größeren Teil aber bestanden diese Ersparnisse in Getreide, Futter, Leinwand, Holz und ähnlichen Gegenständen „in natura". Jetzt besitzt der verarmte und verarmende Bauer weder Natural- noch Geldersparnisse, während sich bei einer verschwindenden Minderheit reich werdender Bauern Geldersparnisse anhäufen und in die Staatssparkassen zu gelangen beginnen. So ist es vollkommen erklärlich, dass zugleich mit dem Anwachsen der Hungersnöte ein Wachstum der Spareinlagen vor sich geht, das nicht eine Erhöhung des Volkswohlstandes bedeutet, sondern die Verdrängung des alten, selbständigen Bauern durch die neue Dorfbourgeoisie, d. h. durch die wohlhabenden Muschiks, die ihre Wirtschaft nicht mehr ohne Landarbeiter oder Tagelöhner bestellen können.

Eine interessante indirekte Bestätigung des Gesagten sind die Angaben über die Verteilung der Sparer nach der Art ihres Berufs. Diese Angaben beziehen sich auf die Besitzer von fast 3 Millionen (2.942.000) Sparkassenbüchern mit einer Gesamtsumme der Einlagen in der Höhe von 545 Millionen Rubel. Die Durchschnittseinlage beträgt somit 185 Rubel – wie man sieht, eine Summe, die deutlich darauf hinweist, dass unter den Sparern jene, eine winzige Minderheit des russischen Volkes ausmachenden „Glückspilze" überwiegen, die Familienvermögen oder wohlerworbenes Eigentum besitzen. Die größten Sparer sind die Geistlichen: 46 Millionen Rubel und 137.000 Sparkassenbücher, d. h. 333 Rubel auf ein Sparkassenbuch. Die Sorge für das Seelenheil der Gemeinde ist offenbar kein unvorteilhaftes Geschäft… Dann folgen die Grundbesitzer: 9 Millionen Rubel und 36.000 Sparkassenbücher, d. h. 268 Rubel auf das Sparkassenbuch; weiter die Händler : 59 Millionen Rubel und 268.000 Sparkassenbücher, d. h. 222 Rubel auf ein Sparkassenbuch; sodann die Offiziere mit 219 Rubel, die Zivilbeamten mit 202 Rubel auf das Sparkassenbuch. Erst an sechster Stelle stehen „Ackerbau und ländliches Gewerbe": 640.000 Sparkassenbücher mit einer Gesamtsumme von 126 Millionen Rubel, d. h. 197 Rubel auf das Sparkassenbuch; dann folgen Privatangestellte mit 196 Rubel, „sonstige Berufe" mit 186 Rubel, städtische Gewerbetreibende mit 159 Rubel, „Dienstboten" mit 143 Rubel, Arbeiter in Fabriken und Betrieben – mit 136 Rubel, und, an letzter Stelle, „Militärpersonen niederen Grades" mit 86 Rubel auf das Sparkassenbuch.

Die Fabrikarbeiter nehmen also eigentlich nach dem Umfang ihrer Ersparnisse (abgesehen von den Soldaten, die von der Staatskasse unterhalten werden) den letzten Platz ein! Sogar die Dienstboten haben im Durchschnitt mehr Ersparnisse (143 Rubel auf das Sparkassenbuch gegenüber 136 Rubel) und stellen eine viel höhere Anzahl von Sparern. Und zwar hat das Dienstpersonal 333.000 Sparkassenbücher mit einem Gesamtbetrage von 48 Millionen Rubel, während die Fabrikarbeiter 157.000 Sparkassenbücher mit insgesamt 21 Millionen Rubel aufzuweisen haben. Das Proletariat, das alle Reichtümer unserer Aristokratie und unserer Kapitalmagnaten erzeugt, lebt in schlechteren Verhältnissen als deren persönliche Dienerschaft! Von der Gesamtzahl der russischen Industriearbeiter (nicht weniger als zwei Millionen Menschen) hat nur ungefähr ein Sechstel die Möglichkeit, Einlagen bei den Sparkassen, wenn auch nur verschwindend geringe, zu machen – und das, obgleich das ganze Einkommen der Arbeiter ausschließlich aus Geld besteht und sie oft eine Familie auf dem Lande zu unterhalten haben, so dass ihre Spareinlagen meist gar keine Ersparnisse im eigentlichen Sinne des Wortes sind, sondern nur Summen, die bis zur nächsten Geldsendung nach Hause usw. zurückgelegt werden. Wir sehen schon ganz davon ab, dass unter die Rubrik „Arbeiter in Fabriken und Betrieben" wahrscheinlich auch Kontoristen, Werkmeister, Aufseher, mit einem Worte, gar keine wirklichen Arbeiter, gefallen sind.

Was die Bauernschaft betrifft, so erweist sich, wie wir gesehen haben – wenn man annimmt, dass sie hauptsächlich von der Rubrik „Ackerbau und ländliches Gewerbe" erfasst wird –, dass der Durchschnitt ihrer Ersparnisse höher ist als selbst der der Privatangestellten und dass er die Durchschnittsersparnisse des „städtischen Gewerbetreibenden" bedeutend übertrifft (d. h. wahrscheinlich der kleinen Ladenbesitzer, der Handwerker, der Hausmeister usw.). Augenscheinlich gehören diese 640.000 Bauern (von der Gesamtzahl der zehn Millionen Höfe oder Familien zählenden Bauernschaft) mit 126 Millionen Rubel Spareinlagen ausschließlich zur bäuerlichen Bourgeoisie. Nur auf diese und vielleicht noch auf die mit ihnen am nächsten in Berührung kommenden Bauern beziehen sich auch jene Angaben über den Fortschritt der Landwirtschaft, über die Verbreitung der Maschinen, über die Hebung der Bodenkultur und der Lebenshaltung usw. – Angaben, die die Herren Witte gegen die Sozialisten ins Feld führen, um „das Wachstum des Volkswohlstandes" zu beweisen; die Herren Liberalen (und „Kritiker") – um das „marxistische Dogma" vom Untergang und Verfall der Kleinproduktion in der Landwirtschaft zu widerlegen. Diese Herren merken nicht (oder tun so, als merkten sie nicht), dass der Niedergang des Kleinbetriebs gerade darin zum Ausdruck kommt, dass aus der Mitte der Kleinproduzenten eine verschwindend geringe Zahl von Produzenten hervorgebracht wird, die sich auf Kosten des Ruins der Massen bereichern.

Noch beachtenswerter sind die Angaben über die Verteilung der Gesamtzahl der Sparer nach der Höhe ihrer Einlagen. In abgerundeten Zahlen stellt sich diese Verteilung wie folgt dar: von den drei Millionen Sparern hat eine Million Spareinlagen unter 2 5 Rubel. Insgesamt besitzen sie 7 Millionen Rubel (von der Gesamtsumme von 545 Millionen Rubel, d. h. im ganzen 12 Kopeken von je 10 Rubel von der Gesamtsumme der Spareinlagen!). Der Durchschnitt ihrer Einlagen beträgt sieben Rubel. Das bedeutet, dass die wirklich kleinen Sparer, deren Zahl ein Drittel von der Gesamtzahl beträgt, nur über 1/83 aller Sparsummen verfügen. Weiter beträgt die Zahl der Sparer, die 25 bis 100 Rubel besitzen, den fünften Teil der Gesamtzahl (600.000) und verfügt im Ganzen über 36 Millionen Rubel – im Durchschnitt über je 55 Rubel. Vereinigt man diese beiden Kategorien, so ergibt sich, dass über die Hälfte der Sparer (1,6 Millionen von 3 Millionen) nur 42 Millionen Rubel von insgesamt 545, d. h. 1/12, besitzen. Von den übrigen, den wohlhabenden Sparern besitzt eine Million 100 bis 500 Rubel – diese besitzen im Ganzen 209 Millionen Rubel, also kommen 223 Rubel auf den Sparer. 400.000 Sparer besitzen je über 500 Rubel; die Gesamtsumme ihrer Einlagen beträgt 293 Millionen Rubel – also 762 Rubel auf einen Sparer. Folglich besitzen diese augenscheinlich schon reichen Leute, die weniger als 1/7 der Gesamtzahl der Sparer ausmachen, mehr als die Hälfte (54 Prozent) des gesamten Sparkassenkapitals.

Somit macht sich die Konzentration des Kapitals in der modernen Gesellschaft, die Verelendung der Masse der Bevölkerung mit ungeheurer Gewalt sogar in einer solchen Einrichtung bemerkbar, die eigens für den „kleinen Mann", für die weniger bemittelte Bevölkerung, geschaffen ist, denn die Höchstgrenze der Spareinlage ist vom Gesetz auf 1000 Rubel festgesetzt. Und wir wollen vermerken, dass diese, jeder kapitalistischen Gesellschaft eigene, Konzentration des Vermögens noch stärker in den fortgeschrittenen Ländern ist, trotz der dort größeren „Demokratisierung" der Sparkassen. So gab es z. B. in Frankreich am 31. Dezember 1899 in den Sparkassen 10,5 Millionen Sparkassenbücher mit einem Gesamtbetrage von 4337 Millionen Franken (der Frank beträgt etwas weniger als vierzig Kopeken). Im Durchschnitt ergibt das auf ein Sparkassenbuch 412 Franken oder gegen 160 Rubel, d. h. weniger als die Durchschnittsspareinlage in den russischen Sparkassen. Die Zahl der kleinen Sparer ist in Frankreich ebenfalls verhältnismäßig größer als in Russland: fast ein Drittel der Sparer (3 Millionen) besitzt Einlagen unter 20 Franken (8 Rubel), im Durchschnitt 13 Franken (5 Rubel) auf den Sparer. Diese Sparer besitzen insgesamt nur 35 Millionen Franken von der Gesamtsumme von 4337 Millionen, d. h. 1/125. Die Sparer, die unter 100 Franken besitzen, bilden etwas mehr als die Hälfte der Gesamtzahl (5,3 Millionen), und die Höhe ihrer Spareinlagen beträgt im ganzen 143 Millionen Franken, d. h. 1/30 der Gesamtsumme der Einlagen. Dagegen konzentrieren die Sparer, die 1000 und mehr Franken (400 und mehr Rubel) besitzen und die weniger als den fünften Teil (18,5 Prozent) der Gesamtzahl der Sparer ausmachen, über zwei Drittel (68,7 Prozent) der Gesamtsumme der Einlagen, nämlich 2979 Millionen Franken von 4337 Millionen, in ihren Händen.

Somit hat jetzt der Leser einige Unterlagen zur Beurteilung der Beweisführung unserer „Kritiker" zur Verfügung. Ein und dieselbe Tatsache: das gewaltige Anwachsen der Sparkasseneinlagen und die Vermehrung besonders der Zahl der kleinen Sparer wird verschieden gedeutet. Der „Kritiker des Marxismus" sagt: der Volkswohlstand wächst, die Dezentralisierung des Kapitals nimmt zu. Der Sozialist sagt: es vollzieht sich eine Verwandlung der „Natural"-Ersparnisse in Geldersparnisse, es wächst die Zahl der wohlhabenden Bauern, die zur Bourgeoisie werden und ihre Ersparnisse in Kapital verwandeln. Noch unvergleichlich viel rascher wächst die Zahl der Bauern, die ins Proletariat hinein gestoßen werden, das vom Verkauf seiner Arbeitskraft lebt und (wenn auch nur vorübergehend) kleine Teile seiner winzigen Einnahmen auf die Sparkasse trägt. Die zahlenmäßige Stärke der kleinen Sparer ist gerade ein Beweis für die zahlenmäßige Stärke der Armen in der kapitalistischen Gesellschaft; denn der Anteil dieser kleinen Sparer an der Gesamtsumme der Einlagen ist verschwindend gering.

Es fragt sich nun: wodurch unterscheidet sich der „Kritiker" vom Durchschnittsbürger?

Gehen wir weiter. Prüfen wir, zu welchen Zwecken und in welcher Weise die Kapitalien der Sparkassen verwandt werden. In Russland stärken diese Kapitalien vor allem die Macht des bürgerlichen Militär- und Polizeistaates. Die Zarenregierung wirtschaftet (worauf wir schon im Leitartikel in Nr. 15 der „Iskra" hingewiesen haben) mit diesen Kapitalien ebenso unkontrolliert, wie sie es mit dem gesamten übrigen Volksvermögen tut, das in ihre Hände gerät. Sie „entleiht" seelenruhig von diesen Kapitalien Hunderte von Millionen für die Bezahlung ihrer chinesischen Expeditionen, für Liebesgaben an die Kapitalisten und Großgrundbesitzer, für die Neubewaffnung des Heeres, für die Erweiterung der Flotte usw. So waren z. B. im Jahre 1899 von der Gesamtsumme von 679 Millionen Rubel des in Sparkassen befindlichen Kapitals 613 Millionen Rubel in zinstragenden Papieren angelegt, und zwar: 230 Millionen in Staatsanleihen, 215 Millionen in Hypothekenpfandbriefen der Bodenbanken und 168 Millionen in Eisenbahnanleihen.

Die Staatskasse macht ein sehr vorteilhaftes „Geschäft": erstens deckt sie ihre Ausgaben für die Sparkassen und erhält einen Reingewinn (der bisher als Reservekapital der Sparkassen verwandt wurde); zweitens zwingt sie die Sparer, das Defizit unserer Staatswirtschaft zu decken (sie zwingt sie, der Staatskasse Geld zu leihen). Im Durchschnitt betrugen in der Zeit von 1894 bis 1899 die Geldeinzahlungen in den Sparkassen 250 Millionen Rubel im Jahr, während die Auszahlungen 200 Millionen Rubel jährlich betrugen. Man hat also fünfzig Millionen im Jahr, um mit Hilfe von Anleihen die Löcher im Geldsack der Staatskasse zu stopfen, die nur von dem nicht geplündert wird, der zu faul dazu ist. Warum sich vor einem Defizit, vor der Vergeudung des Geldes für Kriege und für Liebesgaben an die Hofkamarilla, an die Gutsbesitzer und Fabrikanten fürchten! Lässt sich doch aus den „Volksersparnissen" immer eine hübsche Summe decken!

Nebenbei sei bemerkt, dass die Staatskasse das vorteilhafte Geschäft zum Teil darum macht, weil sie den Zinssatz für die Geldeinlagen ständig herabsetzt und weil dieser Zinssatz unter dem der Wertpapiere steht. So zum Beispiel betrug im Jahre 1894 der Zinssatz für Geldeinlagen 4,12 Prozent, für Wertpapiere 4,34 Prozent; im Jahre 1899 3,92 und 4,02 Prozent. Das Sinken des Zinssatzes ist bekanntlich eine Erscheinung, die allen kapitalistischen Staaten eigen ist und die in anschaulichster und plastischster Weise das Anwachsen des Großkapitals und des Großbetriebs auf Kosten des Kleinbetriebs beweist, denn die Höhe des Zinssatzes wird letzten Endes bestimmt durch das Verhältnis zwischen der Gesamtsumme des Gewinns und der Gesamtsumme des in der Produktion angelegten Kapitals. Es darf auch nicht mit Schweigen übergangen werden, dass die Staatskasse die Arbeit der Post- und Telegraphenbeamten immer mehr ausbeutet: früher verrichteten sie nur den Postdienst, dann wurde der Telegraphendienst hinzugefügt, jetzt wälzt man auf ihre Schultern noch die Arbeit der Ein- und Auszahlung der Spargelder (denken wir daran, dass von 4781 Sparkassen 3718 Post-und Telegraphensparkassen sind). Für die Masse der kleinen Post- und Telegraphenbeamten bedeutet das eine ungeheure Vermehrung der Arbeitsbelastung und Verlängerung der Arbeitszeit. Aber was ihre Gehälter anbelangt, so knausert die Staatskasse wie der schlimmste Blutsauger-Kulak: den Beamten der niedrigsten Kategorien werden in der ersten Zeit ihres Dienstes buchstäblich Hungergehälter gezahlt; dann folgt eine endlose Abstufung mit Zulagen von fünfundzwanzig und fünfzig Kopeken, wobei die Aussicht auf eine Groschenpension nach vierzig, fünfzig Jahren mühevollster Arbeit dieses wahrhafte „Beamtenproletariat" noch mehr verknechten muss.

Aber kehren wir zurück zur Verwendung der Sparkassenkapitalien. Wir haben gesehen, dass 215 Millionen Rubel von den Kassen (auf Geheiß der russischen Regierung) in Pfandbriefen der Bodenbanken, und 168 Millionen Rubel in Eisenbahnanleihen angelegt wurden. Diese Tatsache war der Anlass zu einer weiteren, in letzter Zeit sehr verbreiteten Offenbarung des bourgeoisen ich wollte sagen „kritischen" Scharfsinns. Eigentlich – so sagen uns die Bernstein, Hertz, Tschernow, Bulgakow und ihresgleichen – bedeutet diese Tatsache, dass die kleinen Sparer, die ihr Geld in die Sparkassen tragen, die Eigentümer der Eisenbahn, die Besitzer der Bodenhypotheken werden. In Wirklichkeit, so meinen sie, werden selbst so rein kapitalistische und riesenhafte Unternehmungen, wie die Eisenbahnen und die Banken, immer mehr dezentralisiert, zersplittert, sie gehen, da die Kleineigentümer die Aktien, Obligationen, Pfandbriefe usw. kaufen, in deren Hände über, in Wirklichkeit wächst die Zahl der Besitzenden, die Zahl der Eigentümer – während diese beschränkten Marxisten sich immer noch mit der veralteten Konzentrations- und Verelendungstheorie herumtragen. Wenn z. B. die russischen Fabrikarbeiter, der Statistik zufolge, 157.000 Sparkassenbücher mit einem Gesamtbetrage von 21 Millionen Rubel besitzen, so sind etwa 5 Millionen Rubel von dieser Summe in Eisenbahnanleihen angelegt, 8 Millionen Rubel in Pfandbriefen der Bodenbanken. Das bedeutet also, dass die russischen Fabrikarbeiter für volle fünf Millionen Rubel Eigentümer der Eisenbahn sind und für volle acht Millionen Rubel – Grundbesitzer. Da rede noch einer von Proletariat! Die Arbeiter beuten also die Grundbesitzer aus, denn in Gestalt der Pfandbriefzinsen erhalten sie ja einen kleinen Teil der Rente, d. h. einen kleinen Teil des Mehrwerts.

Ja, gerade so ist der Gedankengang unserer neuesten Kritiker des Marxismus… Und, wisst ihr was? – ich bin vielleicht sogar bereit, mich mit der weitverbreiteten Meinung einverstanden zu erklären, dass man die „Kritik" begrüßen müsse, weil sie in eine angeblich veraltete Lehre Bewegung hineingebracht hat, – ich bin dazu unter folgender Bedingung bereit. Die französischen Sozialisten schärften seinerzeit ihre propagandistischen und agitatorischen Fähigkeiten an der Zergliederung der Sophismen Bastiats, die Deutschen – an der Entwirrung der Sophismen Schulze-Delitzschs; uns Russen ist offenbar vorläufig nur die Gesellschaft der „Kritiker" zuteil geworden. Ich bin also bereit, zu rufen: „Es lebe die Kritik!" – unter der Bedingung, dass wir Sozialisten so weit als möglich die Analyse aller bürgerlichen Sophismen der zur Mode gewordenen „Kritik" in unsere Propaganda und unsere Agitation unter den Massen hinein tragen. Seid ihr einverstanden mit dieser Bedingung? – dann gut! Übrigens, unsere Bourgeoisie schweigt sich immer mehr aus, sie zieht den Schutz durch den zaristischen Erzengel der Verteidigung durch die bürgerlichen Theoretiker vor, und es wird für uns sehr bequem sein, die „Kritiker" als „Anwälte des Teufels" zu behandeln.

Durch die Sparkassen wird eine immer größere Zahl von Arbeitern und Kleinproduzenten zu Teilhabern von Großunternehmungen. Das ist eine unbestrittene Tatsache. Doch beweist diese Tatsache nicht das Anwachsen der Zahl der Eigentümer, sondern 1. die Zunahme der Vergesellschaftung der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft, und 2. die wachsende Unterordnung des Kleinbetriebs unter den Großbetrieb. Man nehme den unbemittelten russischen Sparer. Die Sparer mit Beträgen bis 100 Rubel bilden, wie wir gesehen haben, über die Hälfte der Gesamtzahl der Sparer, und zwar sind es 1.618.000 mit einem Kapital von 42 Millionen Rubel, d. h. es kommen 2 6 Rubel auf jeden Sparer. Dieser Sparer „besitzt" also für etwa 6 Rubel Eisenbahnen und für etwa 9 Rubel „Bodenvermögen". Wird er dadurch zu einem „Besitzenden" oder „Eigentümer"? Nein, er bleibt Proletarier, der gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen, d. h. zu den Eigentümern der Produktionsmittel in die Knechtschaft zu gehen. Seine „Beteiligung" aber am „Eisenbahn- und Bank"-Geschäft beweist nur, dass der Kapitalismus die einzelnen Glieder der Gesellschaft und die einzelnen Klassen immer enger ineinander verflicht. Die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Produzenten war in der patriarchalischen Wirtschaft ganz verschwindend gering: jetzt wird sie immer größer. Die Arbeit wird immer mehr vergesellschaftet, die Unternehmungen werden immer weniger „privat", bleiben dabei aber fast vollständig in den Händen von Privatpersonen.

Durch seine Beteiligung an einem Großunternehmen wird der kleine Sparer, zweifellos, mit diesem Unternehmen verflochten. Wer zieht nun Nutzen aus dieser Verflechtung? – Das Großkapital, das seine Operationen erweitert, das dem kleinen Sparer nicht mehr (häufig aber weniger) als jedem beliebigen anderen Gläubiger zahlt und das um so unabhängiger vom kleinen Sparer ist, je kleiner und zersplitterter diese parer sind. Wir haben gesehen, dass der Anteil der kleinen Sparer selbst am Sparkassenkapital äußerst klein ist. Wie winzig klein ist erst ihr Anteil an dem Kapital der Eisenbahn- und Bankmagnaten? Der kleine Sparer, der diesen Magnaten seine Groschen anvertraut, gerät in eine neue Abhängigkeit vom Großkapital. Er kann natürlich nicht im entferntesten daran denken, über dieses Großkapital zu verfügen; sein „Gewinn" ist lächerlich gering (26 Rubel zu 4 Prozent = 1 Rubel im Jahr!). Dafür aber verliert er im Falle eines Zusammenbruchs auch die armseligen Groschen ganz. Nicht eine Zersplitterung des Großkapitals bedeutet dieser Überfluss an kleinen Sparern, sondern er bedeutet die Stärkung der Macht des Großkapitals, dem selbst die kleinsten Splitter der „Volks"-Ersparnisse zur Verfügung gestellt werden. Durch seine Beteiligung am Großunternehmen wird der kleine Sparer nicht zu einem selbständigen Unternehmer, sondern er wird noch abhängiger vom Großunternehmer.

Nicht die beruhigende philisterhafte Schlussfolgerung, dass die Zahl der Besitzenden zunimmt, ergibt sich also aus der Zahl der kleinen Sparer, sondern die revolutionäre Schlussfolgerung, dass die Abhängigkeit der kleinen Sparer von den großen zunimmt, dass der Widerspruch zwischen dem immer mehr vergesellschafteten Charakter der Betriebe und der Aufrechterhaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln sich immer mehr zuspitzt. Je mehr sich die Sparkassen entwickeln, desto größer wird das Interesse der kleinen Sparer an dem sozialistischen Sieg des Proletariats, der allein sie nicht zu vermeintlichen, sondern zu den wahren „Teilhabern" und Herren des gesellschaftlichen Reichtums machen wird.

1 Die Feuilletons unter dem Titel „Aus dem Wirtschaftsleben Russlands" sind in Nr. 17 (1. Die Sparkassen) und in Nr. 20 (2. Die Arbeiter auf den russischen Torf-Sümpfen) der „Iskra" erschienen. Die erste Skizze hat Lenin, die zweite Martow geschrieben. Diese Rubrik der „Iskra" hat jedoch, obgleich die Redaktion die Absicht hatte, periodisch Artikel über das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Entwicklung Russlands zu veröffentlichen, keine weitere Entwicklung erfahren, und weitere Artikel unter diesem Titel sind in der „Iskra" nicht veröffentlicht worden.

2 Lenin meint den „Bericht der staatlichen Sparkassen für das Jahr 1899", herausgegeben von der Verwaltung der staatlichen Sparkassen anscheinend im Jahre 1900 (auf dem Bericht ist das Jahr des Erscheinens nicht angegeben).

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